Die einzigen Möbelstücke in meinem Zimmer sind eine Luftmatratze und ein Trockner. Eine Heizung gibt es nicht, hin und wieder fällt das Wasser aus. Etwas blauäugig hatte ich vor einem Monat mein Auslandssemester im belgischen Antwerpen angetreten und dieses Zimmer bezogen. Genau einen Monat hielt ich es aus, bevor ich ernsthaft in Erwägung zog, zurück in die mir bekannten und geliebten Berliner Gefilde zu flüchten.
In einer ausländischen Stadt anzukommen und sich wohl zu fühlen ist ungleich schwerer als dasselbe Unterfangen innerhalb Deutschlands zu bestreiten. Es gilt, kulturelle Gepflogenheiten zu begreifen, sprachliche Hürden zu nehmen und sich in soziale Netzwerke einzugliedern. In meinem Fall klappte all das super, der einzige große Maluspunkt war meine katastrophale Wohnsituation. Das friesische Dorfkind in mir wollte einfach nur nach Hause, in seine gewohnte Umgebung und so lange weinen, bis alles wieder gut wäre. Der Wahlkreuzberger in mir jedoch dachte: „Wer den Berliner Bären bezwungen hat, braucht vor dem flämischen Löwen keine Angst mehr zu haben.“ Zwar hatte mein innerer Kreuzberger zweifellos Recht, jedoch wenig Lust sich wochenlang durch Ämter und Maklerbüros zu drängeln. So kam es, dass ich eines Nachts mit selbstgemalten Flugblättern durch die Antwerpener Innenstadt ging und sämtliche Häuserwände mit meiner Bitte um ein schöneres Leben tapezierte. „Ich bin Kreuzberg, du Muschi!“, sagte ich immer wieder leise, als ob Antwerpen mich hören könnte. Auf dem Flugblatt stand in Großbuchstaben „Schönes Leben gesucht“, fünf Zeilen Lebensgeschichte, die Antwerpener Herzen zum Schmelzen bringen sollten und meine Telefonnummer. Ich hatte kaum richtig schlafen können, da klingelte mein Telefon im Fünfminutentakt. Eine ältere Dame, die mich anrief, weil sie einen neuen Enkelsohn brauchte. Studenten, die mit mir etwas trinken gehen wollten. Ein Junge, der auf ein unverfängliches Tête-à-tête hoffte. Halb Antwerpen hatte Mitleid mit dem gestrandeten Deutschen und auf seine Art wollte jeder sein Leben etwas schöner machen. Ein Mann vom regionalen Fernsehsender fand meine Flugzettel einfach nur fucking awsome und drehte einen Beitrag für die 20-Uhr-Nachrichten. Ich wurde angekündigt als ein Symbol für die Anonymität in der Großstadt. Große Aufregung überall, dabei hatte ich bloß ein paar Flugblätter aufgehangen. Zwar hatte ich noch immer keine Wohnung, Antwerpen hatte nun aber seine eigene Amélie Poulain. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass im Durchschnitt jeder Mensch in seinem Leben fünfzehn Minuten berühmt ist. Durch Fernsehbeiträge und Zeitungsartikel hielt meine Popularität noch ein Weilchen an und anfangs profitierte ich auch ganz gut davon. Die Frau in der Universitätsbibliothek ließ mich mehr Bücher ausleihen als erlaubt war (Er hat ja sonst nichts!) und die Verkäuferin im Second-Hand-Laden gab mir fünfzig Prozent Rabatt auf meine Einkäufe (Ich war im Sommer in Berlin. Berlin ist ja so cool!). Auf Partys brauchte ich mich nicht mehr vorzustellen, meine Name war allseits bekannt. Meine ursprüngliche Absicht, einfach nur ein normales Leben in Antwerpen führen zu können, hatte sich ins absolute Gegenteil umgekehrt. Ich war besonderer und exotischer als je zuvor, ein Abziehbild, auf das jeder seine eigenen Unzulänglichkeiten projizieren konnte. Nicht so schlimm, wenn einen der eigene Job langweilte, der Deutsche hatte schließlich gar keinen. Die Weltreise, von der man immer geträumt hatte? Ganz gut, dass man sie nicht gemacht hat. Man sieht ja an dem Deutschen, was dabei raus kommt. Die eigene Einsamkeit wollte man mit dem Deutschen überbrücken, gut getarnt als Barmherzigkeit. Es war mein innerer Kreuzberger, den man wegen seiner Einfachheit tätschelte und belächelte, um es sich dann wieder in seiner bürgerlichen Spießigkeit gemütlich zu machen und lächelnd ein paar Sätze zu sagen, die mit „Die Jugend von heute...“ beginnen. Ein paar Monate spielte ich das Spielchen noch mit, erzählte meine Geschichte wieder und wieder, ließ mich anschauen wie ein Hundewelpe ohne Eltern und entschied mich schließlich ins fünfzig Kilometer entfernte Brüssel zu ziehen. Eine Großstadt, nein, Weltstadt sogar, Hort der Entwurzelten. Mehr als die Hälfte der Brüsseler sind keine Belgier, auf den Straßen herrscht ein babylonisches Sprachenwirrwarr. Die Häuserwände sind von oben bis unten beklebt mit bunten Plakaten, keiner würdigt sie auch nur eines Blickes. Ich fand ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft: ein hübscher Altbau in einem hochpreisigen Stadtviertel, drei sympathische Mitbewohner, geschmackvolle Einrichtung. Nur einen Trockner hatten wir nicht.
0 Kommentare
Eine kleine Lampe beleuchtete ihr Gesicht unvorteilhaft von der Seite. Sie konnte nicht schlafen, weil sie unaufhörlich denken musste. Um nicht denken zu müssen, las sie. Josefine war keine junge Frau mehr. In ihrem Gesicht aber konnte man noch lesen, wie schön sie einstmals gewesen war. (Ein fremder Mann hatte ihr einmal versprochen, wegen ihr noch viele Sprachen zu lernen. Seine Muttersprache habe nicht genügend Worte, um zu beschreiben, wie bezaubernd Josefine war.) Mehr als fünf Jahrzehnte brauchte das Leben, um ihre Augen mit waagerechten Falten zu schraffieren. Im schummrigen Licht der Lampe warfen sie kleine Schatten. Ihr Haar trug sie inzwischen kurz. Lange Haare, fand sie, schickten sich nicht für eine Frau in ihrem Alter.
Das Zimmer war gerade groß genug für ein Sofa, einen Tisch und ein Regal. Josefine lag auf dem Rücken und horchte in ihr Inneres. Sie hörte die Geräusche in ihrem Magen, die sich anhörten wie Meer, aber Rotwein waren, konnte darüber hinaus aber nichts Beunruhigendes ausmachen. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Josefine lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde keiner es bemerken. In dem Fenster sah Josefine ihr Spiegelbild. Es stand mit trauriger Miene im nächtlichen Dunkel und blickte seinen diesseitigen Zwilling vorwurfsvoll an. „Wo bist du nun gelandet?“, schien es zu fragen. „Hätte man das nicht vermeiden können?“ Josefine wusste keine Antwort. Sie war der Meinung, dass ein bisschen Tragik unvermeidbar sei. Glücklichsein müsse man sich verdienen. Die jenseitige Josefine schien das nicht richtig glauben zu wollen. Ratlosigkeit in beiden Gesichtern. Josefine war siebzehn und hatte langes dunkelbraunes Haar, als sie ihrem zukünftigen Mann begegnete. Im Licht des Tanzlokals wirkte das Haar leicht rötlich, zwei dünne Strähnen von den Schläfen hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden. Er verliebte sich sofort in sie. Sie bemerkte das und fühlte sich geschmeichelt. Ein greiser Mann, von dem man im Dorf munkelte, er habe seit mehr als zwanzig Jahren kein Wort mehr gesprochen, pustete unaufhörlich Zigarettenrauch in die tanzende Menge. Es war warm und stickig in dem kleinen Raum, die Luft roch süß. Josefines Herz schlug im Takt der Musik, als ein Junge aus der nahe gelegenen Stadt sich auf sie zu bewegte. Sie trug eine Bluse, die ihrer älteren Schwester nicht mehr passte. Auf den blauen Stoff war ein weißes Blumenmuster gestickt. In ihrer weiten Hose sah man glücklicherweise nicht, wie ihr die Knie zitterten. Als er sie ansprach, wandte sie ihren Kopf leicht nach unten und lächelte verlegen. Sie gab sich Mühe, mit ihrem Blick einen Punkt am Boden zu fixieren, andernfalls hätten ihre Augenlider vor Aufregung unbändig zu zittern angefangen. (Das taten sie in solchen Momenten.) Das durchdringende Lächeln, das Josefine eigen war, sicherte ihr die sehnsuchtsvollen Blicke aller Jungen im Dorf. Er war allerdings der Erste, der sich traute, sie anzusprechen. Die jungen Verliebten trafen sich heimlich wieder, die Eltern durften von nichts wissen. Die Zeiten waren andere. Doch war es Liebe. Beständige Zweisamkeit. Vor zwei Monaten war Josefine aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen. Was ihr anfangs geschmeichelt hatte, nahm ihr nun die Luft zum Atmen. Die Zweisamkeit war ihr zum Korsett geworden. Und ein Korsett, fand Josefine, schickte sich erst recht nicht für eine Frau ihres Alters. Dass sie ausziehen musste war das Ergebnis einer Rechnung, die Josefine schon häufig aufgestellt hatte. An jenem Tag hatte sie in ihrem Horoskop gelesen, dass alte Rechnungen endlich beglichen werden müssen. Josefine war nicht abergläubisch, aber dass ihr Ehemann zusätzlich noch zwei Tage geschäftlich auf Reisen blieb, war ihr himmlischer Fingerzeig genug. Hals über Kopf, heimlich, still und leise, ohne Glanz und Gloria. Josefine benutzte gerne elliptische Redewendungen, um von ihrem Auszug zu berichten. Bewegungslos saß sie da, auf dem Sofa, das sie nachts zu ihrem Bett umfunktionierte. Es war blau. Tags diente der Raum als Wohnzimmer, nachts als Schlafzimmer. Weil es Josefine wichtig war, in einem separaten Raum Besuch zu empfangen, verzichtete sie auf einen eigenen Raum. Oder soll man seinen Besuch etwa zu Kaffee und Gebäck ins Schlafzimmer führen? Bei dem Gedanken musste Josefine lachen. Eigentlich wollte sie gar nicht, dass Besuch kam. Da war sie nun. Sie saß. Sie verweilte. Sie lebte und atmete. Es fehlte an nichts in der Wohnung, die sie vor zwei Wochen im Übermut des Moments bezogen hatte. Diese Wohnung, die so dunkel war und eigentlich auch etwas zu klein, am Rande der Stadt. Diese paar Quadratmeter hatte sie im Tausch für ihr Korsett bekommen. Hatte sie die Enge vor einigen Wochen kaum benennen können, konnte sie sie nun sehen in den vier Wänden, die ihr so beängstigend nahe kamen. Diese Wände, die eigentlich ihre Freiheit sein sollten, waren ihr nun zuwider. Es war, als habe sie sich selbst in einen Umzugskarton gesteckt. Konserviert von der Welt, ihre Gedanken und Erinnerungen verschnürt und platzsparend aufeinandergestapelt. Verstaut in einer Ecke, damit niemand darüber stolpert. Das entsprach ihrem Naturell: nicht im Weg stehen, niemandem zur Last fallen. Josefine war verzweifelt. Es war nicht die Verzweiflung, bei der man an einer Wegzweigung im Leben ankommt und alle weiteren Wege die falschen wären. Solch eine Situation hätte vielleicht in Panik gemündet, man hätte unter Umständen all die falschen Wege ausprobieren wollen. Nein, Josefines Verzweiflung war von ganz passiver Natur. Sie sah keine Wege vor sich, und so blieb ihr nichts übrig, als in tragischer Pose zu verharren. Auch während ihrer Ehe liebte sie es, abends zu lesen. Traurige Liebesgeschichten. Große Gefühle, dramatische Wendungen, Höhepunkt, irgendwer stirbt. Und Schluss. Lange hatte sie nicht bemerkt, dass sie bloß neben sich hätte schauen müssen, um eine traurige Geschichte zu sehen. Nicht wortwörtlich neben sich, man hatte schon länger getrennte Schlafzimmer. Josefine beanspruchte das Ehebett. Einzelbetten erinnerten sie an Jugendherberge. Und ein Jugendherbergsbett, das schickte sich nicht, fand Josefine. Sie war schließlich keine siebzehn mehr. Sie erinnerte sich noch gut an die Jugendherberge in England, in der sie mit ihrem späteren Mann übernachtet hatte. Josefine war damals zweiundzwanzig, er war ein paar Jahre älter und studierte in einer mittelgroßen Stadt. Josefine war ihm gefolgt und hatte sich eine Stelle in einem Büro gesucht. Viel lieber wäre sie Erzieherin oder Lehrerin geworden. Fürsorglich sein, das lag ihr. Sie mochte die Menschen, die Menschen mochten sie. Doch für solche Träume wollte man in ihrer Familie kein Geld entbehren. Josefine wusste das. Aus diesem Grunde war es von vornherein aussichtslos, ihren Vater danach zu fragen. Sowieso traute sie sich kaum, mit ihm zu sprechen. Dieser Mann duldete keine Sentimentalitäten. Er war griesgrämig und alt und konnte es sich selbst nicht verzeihen, ausschließlich Töchter gezeugt zu haben. Seine Töchter hatten ihn schon mit ihrer Geburt enttäuscht. Wenn er sprach, blickte Josefine ihn mit großen Augen an. Sie hielt ihren Blick gespannt auf ihn gerichtet, genauso wie es Hasen tun, wenn sich ein Jagdhund nähert. Manchmal war es deshalb zu spät, um wegzulaufen. In völliger Ruhe verharrte Josefine, bis der Vater befand, dass es genug der Züchtigung sei. Manchmal weinte Josefine - nicht wegen der Schmerzen. Ihr schossen die Tränen in die Augen, weil sie ihrem Vater so zur Last fiel. Und das war mit Sicherheit nicht ihre Absicht gewesen. Mit seiner Grobheit versuchte der Vater, den Mangel an Männlichkeit in seinem Haushalt auszugleichen. Er war vielleicht zwanzig Jahre älter als seine Ehefrau, so genau wusste Josefine das nicht. Sie hatte ihn nie gefragt. Was für eine dumme Frage das sei, hätte er gerufen. Vor Entrüstung hätten sich die Worte in seinem Mund überschlagen, und ein Tropfen Speichel hätte sich in seinem Schnauzbart verfangen. Jener Schnauzbart - von dem der Vater fand, dass er ihm ähnlich kaiserlich zu Gesicht stand wie einst Bismarck - erinnerte Josefine an ein kleines Nagetier, das nur so dahingaloppierte und sich mit Speichel besudelte, sobald der Vater böse wurde. Als er seine Kinder einmal mit Ratten verglich, die nur darauf aus seien, ihm die Haare vom Kopf zu fressen, hatte Josefine laut lachen müssen. Es amüsierte sie, dass sich eine Ratte darüber echauffieren könne, nur Rattenkinder zu haben. So begab es sich, das Josefine und ihre zwei Schwestern unter den strengen Augen ihres Vaters aufwuchsen. In den Momenten, in denen er außer Haus war, hatte die Mutter Gelegenheit, ihren Kindern ihre warme, mütterliche Liebe zu schenken. Sie liebte sie alle gleichermaßen, Josefine vielleicht ein bisschen mehr. Sie hatte die honigfarbenen Augen und die dunklen Haare ihrer Mutter, während die Geschwister aschblond und blauäugig waren wie der Vater. Als Josefine noch ein Kind war, kam die Mutter gelegentlich in das Zimmer der beiden jüngeren Mädchen, um ihnen vorzulesen aus dem einzigen Kinderbuch, an das sie sich erinnerte. Es war ihr rotes Märchenbuch, und Josefine mochte die Geschichte von dem Mädchen mit den Zündhölzern am liebsten. Seite siebenundsiebzig, das wusste sie heute noch. Manchmal brachte die Mutter für jedes Kind ein Stückchen Schokolade mit. In einem Stofftaschentuch hatte sie das kostbare Gut durch die Wohnung befördert. Während Josefine die Süßigkeit auspackte, begann sie heftig mit den Augen zu zwinkern, als ob sie mit jedem Augenschlag die Zeit hätte festhalten können. Sie erinnerte sich noch heute lebhaft, wie sehr sie ihre Mutter in diesen Momenten liebte. (Um dieses Gefühl zu beschreiben, hätte auch Josefine noch einige Fremdsprachen lernen müssen.) Selten las die Mutter die Geschichte zu Ende. Da sie Angst hatte, dass der Vater aufwachen könnte und böse würde über diese geheime Zusammenkunft, ging sie meist früher wieder zurück in das elterliche Schlafzimmer. Josefine aber wusste, wie die Geschichte ausging: am Ende sahen Mutter und Tochter sich wieder. Der Vater war der Grund, warum Josefine nicht zögerte, zu ihrem Freund in die Stadt zu ziehen, sobald sie volljährig war. Sie wohnten zusammen, sie schliefen zusammen, sie liebten einander. Keine Frage, dass sie auch gemeinsam nach England fuhren. Es war Sommer, sie saßen auf einer Wiese und rauchten. Das tat Josefine normalerweise nicht, aber sie fand, nun wäre der richtige Moment, es auszuprobieren. Als sie fühlte, wie sich ihre Lungen mit Rauch füllten, erschrak sie ein bisschen und begann zu husten. „Es war so beengend. Ich dachte, ich müsste ersticken“, sagte sie und wurde etwas rot vor Scham. (Eigentlich fühlte es sich an, als hätte sie Wolken eingeatmet, und sie mochte die Vorstellung, ein Stück Himmel zu verschlucken.) Beide lachten, und er nahm sie tröstend in die Arme. Wenn auf der Welt alle Menschen wie er lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde viel gedacht und wenig gesprochen werden auf dieser Welt. Es wurde Abend an Englands Küste. Die Luft war klar, und man hörte die Grillen. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich im Wasser, und Josefine befand, dass ihr Leben nach Zuckerwatte schmeckte. (Heimlich liebte Josefine den romantischen Kitsch, den Jahrmärkte ausströmen.) Er nannte sie liebevoll Effi und sprach meistens leise. Sie hatte es gern, wenn er das tat. Seine Stimme war dunkel, und er sprach mit Besonnenheit. Als ob er jeden Satz vorher in seinem Kopf formulierte, abwägte, ob er gut genug sei für Josefines Ohren, und ihn erst dann aussprach. Josefine konnte sich nicht erinnern, ob sie sich jemals wohler gefühlt hatte. Solch eine Erinnerung legt man nicht achtlos zu den anderen. Erinnerungen dieser Art bewahrt man an einem besonderen Platz auf. So kann man sie immer wieder hervorholen, wenn man sie braucht. Dass Josefine ihre schönen Erinnerungen noch häufig brauchen würde, wusste sie damals noch nicht. Der Frohsinn war ihr abhandengekommen. Man hätte die erste Träne sehen können, die über ihre linke Wange floss. Oder die zweite, die sich rechtsseitig dem Kinn näherte. Aber niemand sah sie weinen, Josefine war allein. Es gab also auch keinen Grund, die Tränen anmutig wegzuwischen und die Fassung mit einem letzten Schluchzen wiederzuerlangen. Sie hatte nicht weinen müssen, als sie die Möbel aus dem Haus getragen hatte. Ebenso wenig, als sie ihre neue Wohnung strich und einrichtete. Sie hatte nicht weinen müssen, als sie bei einem Glas Rotwein alleine einen Liebesfilm im Fernsehen schaute. Bei Liebesfilmen zu weinen, fand sie pathetisch und übertrieben. Erst jetzt, zwei Wochen später, überfiel es sie in der nächtlichen Stille. Ihr Schluchzen hallte durch das offene Fenster hinaus, entfernt hörte sie die Sirenen eines Rettungswagens. Ihre Augen blickten starr an die Wand. Als ihr Vater starb, war Josefine zufällig zugegen. Sie vermisste ihre Mutter sehr, und es schmerzte sie, sie mit ihrem Vater alleine gelassen zu haben. Um ihre Schuldgefühle zu tilgen, stieg Josefine einmal monatlich in den Zug und fuhr in ihr Heimatdorf. Das Zugticket bezahlte sie von ihrem kleinen Gehalt. Wenn der Vater es erlaubte, wurde Josefine von ihrer Mutter am Bahnhof abgeholt. An jenem Tage war der Vater seltsam ruhig und machte der Mutter keine der üblichen Vorhaltungen. Auf dem Rückweg vom Bahnhof gingen Josefine und ihre Mutter langsamer als gewöhnlich. Sie wollten die Zeit, die sie ohne den Vater hatten, in die Länge ziehen. (Sie strapazierten die Zeit und die Nerven des Vaters wie den Gummizug einer Jogginghose. Beide wussten, dass das schmerzhaft enden konnte.) In dem Dorf roch Josefine noch den Staub der Fünfzigerjahre, obwohl die Zeit schon um anderthalb Jahrzehnte fortgeschritten war. Durch das Land wehte ein neuer Wind, auf dem unbefestigten Weg zu ihrem Elternhaus bewegte sich kein Blatt. Meistens war Josefine diejenige, die redete. Sie erzählte von ihrem Freund, den sie inzwischen geheiratet hatte. Dass sie in eine größere Wohnung gezogen waren, nun, wo er arbeitete und gut verdiente. Hin und wieder sei er eifersüchtig, sagte sie. Er sorge sich, sie könne ihn betrügen. „So sind sie, die Männer“, lachte die Mutter. „Wir Frauen sind die Ruhigeren, aber im Grunde sind sie diejenigen, die ängstlich sind.“ Aus dem Augenwinkel sah Josefine ihre Mutter nachdenklich lächeln und erkannte darin tiefe Zuneigung. Die Mutter legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. Mit diesem Bild endet Josefines Erinnerung. Zwei Minuten später hatten die beiden Frauen die Wohnungstür aufgeschlossen und den Vater tot in seinem Sessel vorgefunden. Josefines Gedanken daran sind verschwommen. Wie ein Gemälde, das sie selbst nie gesehen hat, von dem ihr aber etliche Male berichtet wurde. Keine Krankheit und kein Leiden hatten ihn gequält. Er war ruhig eingeschlafen, ohne eine Miene zu verziehen. Ebenso wenig taten dies Mutter und Tochter. Ein Vierteljahrhundert später saß Josefine auf ihrem blauen Sofa und ließ Revue passieren, wie man einen Rettungswagen gerufen hatte und sich den Tod hatte bestätigen lassen. Es wurden verschiedene Leute angerufen, das Telefon hatte man erst vor kurzem angeschafft. Josefine erinnerte sich, dass die Mutter all diese Aufgaben ohne Fehl und Tadel erledigte. Sie zeigte keine Schwäche, vielleicht weil es keine gab. Wenn auf der Welt alle Menschen wie die Mutter lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würden sich die Menschen aneinander klammern und vor zu viel Zuneigung erlahmen. Josefine wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich wieder auf ihr Sofa. Sie erschrak, als ihr Roman vom Nachttisch fiel. In der Dunkelheit hatte sie das Geräusch nicht erwartet. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag für diese Jahreszeit. Der Himmel schien ebenso wenig eine Träne für diesen Mann vergießen zu wollen wie dessen Angehörige. Außer jenen vier Frauen war lediglich der Pastor anwesend, der sich nicht mal Mühe gab, dem Anlass eine traurige Feierlichkeit zu verleihen. Erst jetzt bemerkte Josefine, dass ihr Vater keine Freunde gehabt hatte. Nicht nur in seiner Familie war er ein einsamer Mann auf weiter Flur gewesen, auch im restlichen Dorf konnte man ihn nicht so recht leiden. Wenn auf der Welt alle Menschen wie der Vater lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch hätte keiner eine Ahnung, was den anderen bewegte. Es war ein außerordentlich trauriges Begräbnis. Vor allem, weil niemand traurig war. Mehrere Male stand Josefine in dem Wohnzimmer des gemeinsamen Hauses und blickte ihrem Mann ins Gesicht. Er sprach ruhig und langsam, wie er es immer tat, und die Tränen, die sie nun auf keinen Fall weinen wollte, trübten ihren Blick. Nun ja, wenn du das für das Beste hältst. Das tue ich. (Tat sie das?) Josefine probierte, sich die gemeinsamen schönen Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen und sich an ihnen festzuhalten. In ihrem Gedächtnis waren sie so ausgeblichen wie die dazugehörigen Fotos in dem dicken Album mit dem roten Ledereinband. England ´73. Schließlich packte sie jenes Album und ihr übriges Hab und Gut zusammen und zog aus. Der Roman lag noch immer auf dem Boden, als Josefine langsam in Schlaf sank. Sie träumte nicht häufig, zumindest konnte sie sich selten an ihre Träume erinnern. In dieser Nacht sah sie deutlich vor ihrem inneren Auge, wie eine Gruppe Menschen – es waren sicher achtzig oder hundert, und alle waren in Schwarz gekleidet – durch einen Wald lief. Sie sah die Gruppe von oben, als flöge sie über ihr. Unter ihnen erkannte sie ihre Schwestern, die mit den Händen ihre Gesichter verdeckten. Die Ältere trug einen schwarzen Schleier, der eigentlich genau diese Aufgabe hätte erfüllen sollen. Etwas weiter hinten in der Kolonne lief ihr früherer Mann, gefasst und still, wie es seiner Art entsprach. Josefine merkte schnell, dass dies ihr eigener Traum war. Ihr war klar, dass sich all die Menschen eingefunden hatten, um sie beizusetzen. Es war ein grotesker Blick in die Zukunft, der Josefine da zuteilwurde. Grotesker fand sie nur den weißen Sarg, in dem offenbar ihr eigener Körper lag. Weiße Särge fand Josefine geschmacklos. Reinheit und Unbeflecktheit - so eine Lüge. Ein ganzes Leben hatte sie gelebt, sie hatte kleine Schrammen und tiefe Wunden einstecken müssen. Die Höhen und Tiefen, von denen alle redeten – ja, die gab es auch in ihrem Leben. Weiß war also völlig unangebracht, fand Josefine, erst recht für eine Frau ihres Alters. Sie ließ ihren Blick weiter über die Menge streifen. Am Ende des Zuges liefen ehemalige Arbeitskollegen. Josefine war erstaunt, wie traurig sie waren - hatte sie diese Menschen doch nun schon Jahrzehnte nicht mehr getroffen. Wunderlich außerdem, weil sie die Arbeit in dem Büro damals doch zwar gewissenhaft, aber nicht mit Herzblut getan hatte. Weiter vorne liefen ihre Freundinnen, mit denen sie einmal jährlich an die Ostsee reiste. Langsamen Schrittes bewegte sich die Gruppe zu dem Baum, unter dem die geliebte Freundin beigesetzt werden sollte. Josefine fand es eine schöne Idee, in einem Wald bestattet zu werden. Bäume. Leben. Ruhe. Neubeginn. Auferstehung. (Vielleicht wird genau auf ihrer Grabstätte ein neues Bäumchen wachsen.) Die Assoziationen purzelten unkontrolliert durch den Teil ihres Hirns, der für Glückseligkeit verantwortlich war. Friedhöfe hingegen, das waren die Plattenbauten der Toten. Und unter keinen Umständen wollte Josefine je in einem Plattenbau wohnen, nicht einmal im Jenseits. Während ihre jüngere Schwester eine rührende Rede zu ihrem Gedenken hielt, fielen Josefine die zwei Menschen auf, die allen Trauernden vorangegangen waren. Es waren ihre Zwillinge: Junis, ihr Sohn, und Jona, die das Nesthäkchen der Familie war. Jona, die zwar nicht die dunklen Haare, aber dafür eindeutig ihre Schönheit und Anmut von Josefine geerbt hatte, konnte auch während der Rede ihre Tränen nicht unterdrücken. Sie schluchzte so laut und herzergreifend, dass eine dicke Großtante herbeikam und das zierliche Mädchen an ihren stattlichen Busen drückte. Junis, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, ließ sich ebenfalls von einem Mann stützen, der seit jeher ein enger Freund der Familie war. Junis hatte die nachdenkliche Art des Vaters, während Jona normalerweise quirlig war, wie es Josefine einst gern gewesen wäre. In erster Reihe standen die beiden – eigentlich junge Erwachsene. Für Josefine blieben es immer Kinder. Josefine, obschon sie schlief und sich sehr wohl bewusst war, dass sie dies bloß träumte, wäre gerne zu ihnen gegangen, um mit ihnen zu weinen. Auf ihrer eigenen Beerdigung hätte sie die beiden in den Arm genommen und ihnen versichert, wie sehr sie sie liebte. Sie hätte die beiden getröstet, gesagt, dass das Leben auch ohne sie weiterginge. Es war deutlich, dass das selbst im Traum jegliche Logik durcheinandergebracht hätte. Vermutlich ist es nur menschlich, sich seine eigene Beerdigung vorzustellen. Jeder tut es, aber niemand erzählt es. (Niemand?) Man meint die Gedanken nicht ernst, deswegen will man auch niemanden mit dieser traurigen Vorstellung erschrecken. Auf Josefine wirkte die Szenerie jedoch alles andere als traurig. Sie ist eine Mutter. Das war in dem Strom ihrer Erinnerungen völlig untergegangen. Und für eine Mutter, fand Josefine, schickte sich Einsamkeit ganz und gar nicht. Es war keine Vorstellung, sondern die Wirklichkeit, die Junis und Jona erschreckte. Es war den beiden nicht entgangen, dass Josefine Nacht für Nacht wach lag, hin und wieder in die Küche ging, meistens aber einfach nur dasaß und weinte. Die Zwillinge waren fünfzehn Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter aus dem Haus ihrer Eltern auszogen. Instinktiv merkten sie, dass für die üblichen Problemchen eines Jugendlichen nun kein Platz war, und verschoben ihre Pubertät somit auf die Zeit, wenn alles wieder gut werden würde. In ihrer Welt hatte sich merklich nicht viel verändert. Ihr Schulweg war nun ein anderer, und die Zimmer waren kleiner, ansonsten blieb für sie äußerlich alles beim Alten. Jona hatte häufig abends auf der Treppe gesessen und gelauscht, wenn die Eltern stritten. Sie war immer ein sensibles Mädchen gewesen. Als Jüngste der Familie genoss sie stets die Sympathien aller Familienmitglieder. Josefine liebte ihre Tochter so innig, wie sie von ihrer eigenen Mutter geliebt worden war. Junis, der sich trotz der Gleichaltrigkeit als ihr älterer Bruder fühlte, mimte an Jonas Seite den Beschützer. Für den Vater war Jona der kleine Engel, dessen zauberhaftem Gesicht man keinen Wunsch abschlagen konnte. Umso mehr schmerzte es Jona, als sie ihre Familie zerbrechen sah. Junis, der von dem leisen Weinen seiner Schwester aufgewacht war, brachte sie zurück ins Bett. Ganz rational erklärte er ihr, wie die Dinge lagen. Dass Menschen sich nicht ewig lieben könnten, und dass das Leben schon weiterginge. Dieselben Psalmen betete er auch sich selbst vor, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als keinerlei Gefühle betreffend der elterlichen Trennung zu haben. (In demselben Wortlaut beantwortete er auch Fragen nach seinem aktuellen Gemütszustand.) Junis war ein guter Schüler und ein wissbegieriges Kind. Während seine Schwester es liebte, sich draußen mit Freunden zu treffen, blieb Junis in seinem Zimmer und las. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Junis lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde keiner dem Glück trauen und Gründe finden, sich zu streiten. Junis liebte die hauseigene Bibliothek seines Vaters und konnte dort stundenlang stöbern, während der Vater am Schreibtisch saß und arbeitete. Fast jeden Abend war Junis dort, mit seinem Vater sprach er jedoch selten. (Sprechen war nicht ihre Stärke.) Als Josefine ihre Sachen packte, zogen Junis und Jona mit. Es war nicht die Frage danach, wen sie mehr und wen sie weniger liebten, sondern schlichtweg auf wessen Seite sie das Recht sahen. Dass ihre Mutter dieses Recht mit Unglück bezahlte, schmerzte die beiden. Sie verstanden nicht genau, was vorgefallen war, und wussten auch nicht, wie sie sich verhalten sollten. Und weil sie auch nicht viel hätten verändern können, einigten sich die Zwillinge darauf, dass sie sich vorerst aufeinander verlassen könnten. Es war eine Zeit des Alleinseins für alle Beteiligten. Junis und Jona hatten das Glück, diese zu zweit meistern zu dürfen. Junis holte seine Schwester mit dem Fahrrad von Freunden ab, wenn sie bei Dunkelheit nicht mehr alleine fahren sollte. Jona half im Haushalt und setzte sich gelegentlich zu Josefine ins Wohnzimmer, um mit ihr zu schweigen. Gemeinsam regelten die Zwillinge die Kommunikation zwischen Vater und Mutter (Richte liebe Grüße aus. Oder nein, nur Grüße), brachten die Zeitung, die man gemeinsam abonniert hatte, erledigten Botengänge und anfallende Korrespondenz. Jona kam zurück von Freundinnen, als sie probierte, mit ihrem Mobiltelefon ihren Bruder zu erreichen. Er sollte sie vom Bahnhof abholen, es war schon weit nach Mitternacht. Sie war mit ihren Freundinnen in der Stadt gewesen, hatte über Jungs geredet und die Zeit vergessen. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Jona lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde viel geweint werden auf dieser Welt. Draußen war es dunkel, und die Einöde am Stadtrand gruselte sie. Der Weg in die mütterliche Wohnung führte über eine wenig befahrene und unbeleuchtete Straße, und sie traute sich nicht, ihn allein zurückzulegen. Der Bruder antwortete nicht auf ihre Anrufe, und als Jona schließlich das Bahnhofsgebäude verließ, stand sie allein auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie hätte ihn am liebsten verflucht – nein – sie tat es auch. Idiot, flüsterte sie in die nächtliche Stille. Idiot. Idiot. Idiot. Gerade wollte sie einen der Angestellten am Bahnhof bitten, ihr ein Taxi zu rufen, da näherte sich von weitem eine Frau. Sie war recht klein und wippte mit den Hüften, während sie auf Jona zuging. Jona erkannte sie sofort an ihren dunklen Haaren mit dem eigentümlichen roten Schimmer und rannte ihr entgegen. Seit Monaten hatte sich Josefine nicht mehr außerhalb der eigenen Wohnung gezeigt, nun war sie gekommen, um ihre Tochter abzuholen. Als Jona vor ihr stand, lächelte Josefine und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. Vor Freude zwinkerten ihre Augen wie wild. (Das taten sie in solchen Momenten.) Als Anne-Marie und ich an der Turnhoutsebaan in Antwerpen standen, um unsere letzte Etappe auf unserem Roadtrip anzutreten, begannen wir, selbigen zu resümieren. Wir betrauerten die Tatsache, dass wir weder bei einem Truckie noch bei einer Frau mitgefahren waren (Eyla aus Leer zählt nicht, die entsprach nicht dem Typ Frau, den man davon hätte überzeugen müssen, Tramper mitzunehmen). Die letzten Tage in Antwerpen entpuppten sich als krönender Abschluss einer sowieso unbeschreiblichen Reise und wir waren uns sicher, dass wir in diesem Sommer 2010 unseren Vorrat an Anekdoten mindestens verdoppelt hatten. Nachdem wir an der Autobahnauffahrt Richtung Lüttich jedoch auch bereits eine Stunde warteten, kamen uns Zweifel, ob wir wirklich Lust auf diese letzte Anekdote hatten. Als die Stimmung gerade an einem Tiefpunkt angekommen war, hielt plötzlich ein Red-Bull-Promo-Auto, am Steuer saß eine junge Frau, die gesamte Rückbank war voll mit Red-Bull-Dosen. „Um euch ein bisschen zu unterstützen!", sagte sie - und drückte uns jedem eine Dose chemische Energie in die Hand. Passend zu dem Getränk hielt 5 Minuten später ein tiefergelegter Kleinwagen, aus dem lauter Techno dröhnte. Drinnen saß Wim, der seinen Wagen zu einer fahrenden Musikanlage umgebaut hatte. Er fuhr uns in Höchstgeschwindigkeit zur nächsten Raststätte nach Ranst, Anne-Marie verschüttete ihr Red Bull auf seiner Rückbank und hoffte, es würde trocknen, bevor er es bemerkt.
An der Raststätte mussten wir nicht lange warten, bevor der erste Wagen hielt. Das Blöde war, wir bemerkten es nicht, weil Anne-Marie mich gerade auf irgenetwas „total Gruseliges" im Gebüsch aufmerksam machen wollte. Also standen wir beide da, das Schild, Aufschrift "Lüttich/Köln", in der Hand, die Blicke Richtung Dunkelheit und ließen den Kleinwagen ungesehen ziehen, der – so redeten wir uns ein – garantiert eh nicht in unsere Richtung gefahren wäre. Fünf Minuten später, es war inzwischen bereits dunkel, hielt ein Truck mit rumänischem Kennzeichen. Wir stiegen ein und probierten, uns mit dem Fahrer zu verständigen. Er sprach nur Rumänisch und vielleicht Italienisch, wir konnten das nicht so genau entziffern. Ich antwortete mit irgendeinem Spanisch-Portugiesisch-Mix und es muss ein göttliches Bild abgegeben haben, wie wir verzweifelt probierten, miteinander zu reden und doch nichts verstanden. Seine Name war Gheorghe oder irgendwas, was so ähnlich klingt. Gheorghe fuhr nach Öesterreich und es sollte unsere nächste Aufgabe werden, mithilfe von Landkarten herauszufinden, wo sich unsere Wege trennten. Wir entschieden uns für Aachen und ließen uns dort an einer Raststätte absetzen. Immerhin waren wir schonmal wieder in Deutschland. Wir konnten uns kaum über unseren ersten Truckie freuen, da hielt auch schon der Nächste. Rolli, 43 Jahre alt aus Dessau. Anfänglich wollten wir bloß nach Köln fahren, um dort bei einer Freundin zu übernachten. Als Rolli jedoch von Bitterfeld in Sachsen-Anhalt erzählte, witterten wir bereits Hauptstadtluft. Wir entschieden uns also dazu, mit Rolli bei 80km/h durch Deutschland zu rollen und nicht mehr in Köln Halt zu machen. Rolli war ein freundlicher Typ. Sofort bot er Anne-Marie, die bereits müde wurde, sein Bett an. Eine halbe Stunde später hatte diese es sich in Rollis Bettwäsche bequem gemacht und schlief seelenruhig auf Deutschlands Autobahnen, während ich mich stundenlang mit Rolli unterhielt. Rolli erzählte von LKWs und dass er seinen Job liebte. Immer wieder präsentierte er mir Informationen „von denen mir die Ohren schlackern würden" - das war sein Lieblingsspruch – oder zeigte mir andere LKWs, die „mit allen Dood un Deibel" ausgestattet waren – Nummer 2 in seiner Redewendungen-Hitparade. An mir war er gar nicht interessiert, immer wieder fiel er mir ins Wort, wenn ich probierte, ihm von unserem Urlaub zu erzählen. Wenn er doch mal zuhörte, nutzte er jede Geschichte, um wieder zu sich selbst überzuleiten. Rolli redete gern. Oder vielleicht wollte er manche Dinge einfach mal los werden. Seine größte Sorge wurde es, Anne-Marie den Aufenthalt in seinem Truck so angenehm wie möglich zu gestalten: er achtete penibel darauf, dass nicht zwei Fenster auf einmal geöffnet waren, Anne-Marie wäre es sonst zu kalt geworden. Er umfuhr ganze Landstraßen, weil diese seiner Meinung nach zu holprig waren und Anne-Marie aufwachen könnte. Wenn ein Lied im Radio lief, bei dem Anne-Marie vorher mitgesungen hatte, drehte er es langsam ein bisschen lauter und warf einen Blick nach hinten – vielleicht freute sie sich im Schlaf darüber. Anne-Marie wurde während dieser siebenstündigen Fahrt nach Bitterfeld also umsorgt wie eine Prinzessin, während ich Mühe hatte, mich wach zu halten. Wir waren inzwischen bei LKW-Gewerkschaften und Gefahrengutladungen angekommen, da legte Rolli bei einem Autohof irgendwo im Nichts eine Pause ein. „Gesetzlich vorgeschrieben.", sagte er und tickte auf die digitale Uhr über ihm. Anne-Marie schlief hinten weiter, während Rolli und ich je eine Bockwurst und einen Kaffee zu uns nahmen. Ich wollte noch eben zur Toilette gehen und bat deshalb die Frau hinter der Kasse, mir meinen Zehn-Euro-Schein zu wechseln. „Du bist mit Rolli hier, oder?", fragte sie mich vertraulich. Ich nickte. „Ach, dann brauchst du nichts zu bezahlen." Meine prominente Begleitung hatte mir gerade eine Ersparnis von fünfzig Cent eingebracht. Ich war ein bisschen stolz auf Rolli. In der Truckieszene schien er eine große Nummer zu sein. Als wir weiter fuhren, inzwischen war es etwa 5 Uhr morgens, wurde auch Anne-Marie langsam wieder wach. Rolli erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden. „Gut, gut", sagte sie, während sie sich die Augen rieb und Rolli lächelte zufrieden. Ein paar Stunden später hatten wir dann unsere Bestimmung erreicht: Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, ein trostloses Fleckchen Deutschland irgendwo an der A9, eingehüllt in Morgennebel. Glücklicherweise mussten wir hier nicht länger warten, als ich „BE" auf unser Berlin-Schildchen schreiben konnte. Ohne es wirklich probiert zu haben, nahm uns Maria mit, eine Münchenerin, die auf dem Weg nach Rostock war. Sie arbeitete dort und nahm öfter Tramper mit, auf langen Strecken langweilte sie sich oft. Maria war sympathisch, ich war verdammt müde. Auf der Rückbank schlief ich beinahe ein, während Anne-Marie auf dem Beifahrersitz quickfidel war. In Werder an der Havel ließ Maria uns raus, mit unserem Semesterticket fuhren wir Richtung Berlin. Gegen elf Uhr mittags stiegen wir am Bahnhof Friedrichstraße aus, eine Frau rempelte mich an, noch bevor ich den Zug verlassen konnte. Berlin, wir sind zurück. Kosten/Strecke: 0€/917km Was wir gelernt haben: auch Truckies und Frauen haben ein Herz für Tramper Was wir hätten brauchen können: einen Pokal für den tollsten Truckie der Welt, um ihn Rolli zu überreichen Wieder in Antwerpen zu sein, ist einfach traumhaft. Ich war mir zwischendurch nicht sicher, ob ich hier wirklich die nächsten sieben Monate verbringen möchte, aber bereits nach einem Tag waren alle Zweifel beseitigt. Zuerst wollten Anne-Marie und ich einen Kaffee im Barnini trinken, das Café einer Freundin von mir. Weil wir dort aber leider vor verschlossenen Türen standen, gingen wir weiter ins Caffènation, einem hippen Café in Antwerpens Zentrum. Dort saßen wir inmitten gutaussehender Mittzwanziger und freuten uns, hier zu sein. Im Laufe des Tages kam ich dann endlich dazu, Vintage in Belgien einzukaufen: in der gesamten Stadt herrscht gerade Ausverkauf. Think Twice, ein charmanter Second-Hand-Laden, schmiss sämtliche Kleidungsstücke für je einen Euro raus. Ich erweiterte meine Garderobe um vier Stücke und wurde also nicht mal einen Schein los. Während wir so durch die Stadt flanierten, begegneten mir Charles und Marijana, zwei Bekannte, die ich bei früheren Besuchen in Antwerpen kennengelernt hatte. Ich freute mich wahnsinnig darüber, weil mir klar wurde, dass ich nicht für ein Auslandssemester in eine fremde Stadt gehen würde, ich bin schon längst ein bisschen auch Teil dieser Stadt. Abends traf ich mich mit Jeroen in einem Café in der unmittelbaren Nähe der Onze-Lieve-Vrouwen-Kathedrale und alles war, als sei ich nie weg gewesen. Antwerpen liebt mich und ich liebe Antwerpen. Zu späterer Stunde trafen wir Roel und Kim im Hessenhuis und trotz gähnender Leere hatten wir Spaß. Der Barmann spielte Lieder, die ich mir wünschte, mir wurden Getränke angereicht und den ganzen Abend wurde drinnen geraucht. Alles war so herzallerliebst, dass es mir unbegreiflich ist, wie ich tatsächlich an meinem geplanten Auslandssemester zweifeln konnte.
Kosten/Strecke: 0€/15km Was wir gelernt haben: Klamotten kauft man besser in Belgien Was wir hätten brauchen können: bequeme Schuhe für Anne-Marie Ich glaube an Karma. Man tut etwas Gutes und irgendwann kommt es zurück. Kürzlich saß ich mit einem Mann am Tisch, der mir erzählen wollte, dass die Migranten in Deutschland an allem Schuld seien. Migranten seien persé kriminell, schlecht gebildet und wollen sich alle nicht integrieren, das war sein Standpunkt. Kulturelle Bereicherung war meiner. Die Diskussion endete damit, dass ich vom Tisch aufstand mit dem Satz: „Ich freue mich, wenn dieses Gedankengut mit eurer Generation ausstirbt." Sicher, das war der hässliche Gipfel einer hässlichen Diskussion, aber ich war mir sicher, mein ergreifendes Plädoyer für die kulturelle Vielfalt in unserem Land würde mir auf meinem Karma-Konto gutgeschrieben werden.
Nach einem regnerischen Tag in Rotterdam, rafften Anne-Marie und ich uns auf, um weiter zu trampen Richtung Belgien. Ein Rotterdammer, den ich am vorigen Abend kennengelernt hatte, hatte mir einen guten Platz zum Trampen verraten - eine Tankstelle kurz vor der Autobahn. Mit unseren Reisetaschen trotteten wir also den Weg entlang, von dem wir nur vage vermuten konnten, wohin er führte - Beschilderungen waren nämlich Mangelware. Eine gute Dreiviertelstunde später, wir hatten inzwischen die Nieuwe Maas überquert und befanden uns nun auf der südlichen Flussseite, waren immernoch weder Autobahn noch Tankstelle in Sicht. Von der Nordsee her näherte sich eine bedrohlich dunkle Wolke. Bei meiner rollbaren Reisetasche waren inzwischen die Stange zum Ziehen und die Rollen zu Bruch gegangen, sodass ich sie auf dem Rücken tragen musste. Anne-Marie schien ebenfalls genervt von der Situation. Aus Mangel an anderen guten Ideen packten wir an Ort und Stelle unser Schildchen aus und hielten es den Autofahrern entgegen. Keine zwei Minuten später hielt ein roter Fiat an, drinnen saß ein Mann südländischer Abstammung, der weder gut Niederländisch noch Englisch verstand. Er half uns unsere Taschen in den Kofferraum zu packen und wir fuhren los. Durch einfache Fragen fand ich heraus, dass er nur des Kurdischen, Türkischen und Arabischen mächtig war. Wir versuchten ihm begreiflich zu machen, wo wir hinwollten, wiederholten 'Belgium. België. Belgique' in allen Sprachen, die uns einfielen und tatsächlich holte er sein Navigationssystem aus dem Handschuhfach und tippte Belgien ein. (Zumindest einen arabischen Schriftzug, neben dem die belgische Flagge abgebildet war) Er lächelte uns beiden zu, als ob er sagen wollte „Ich verstehe euch nicht, ihr mich nicht, aber egal. Das wird schon." Weil er selbst offensichtlich in Rotterdam wohnte und eigentlich gar nicht rausfahren wollte, erzählte ich ihm von der Tankstelle. Diese ließ er jedoch in seinem rechten Rückspiegel verschwinden und fuhr auf die Autobahn. „Diesel", sagte er bloß, wie um anzudeuten, dass längere Strecken ihn nicht finanziell ruinieren würden. Im Endeffekt fuhr er uns nach Breda, was etwa auf halber Strecke zwischen Rotterdam und Antwerpen liegt. Ich wiederholte immer wieder 'Schukran' – eine libanesische Freundin hatte mir mal beigebracht, dass das Danke heißt. Er ließ uns raus, nickte uns noch freundlich zu und machte sich wieder auf den Rückweg Richtung Rotterdam. Wir standen am Straßenrand, noch völlig verblüfft von so viel Freundlichkeit und redeten über Karma. Vielleicht wollte uns jemand für den regnerischen Tag entschädigen, für all die Strapazen, die wir in Rotterdam hatten oder uns einfach dafür belohnen, dass wir den Menschen ein gutes Wesen unterstellen. Der Mann, mit dem ich damals die Diskussion über Migranten hatte, liegt heute übrigens im Krankenhaus. Es hatte ein Herzanfall, während er gerade als Hausmakler auf Sylt unterwegs war. Es wäre fast zu spät gewesen, auf Sylt wollte offensichtlich keiner anhalten. Wir hatten unsere Freude kaum ordnen können, da hielt auch schon der nächste an. Rodrigo, ein in Antwerpen wohnhafter Dominikaner (Nicht der Orden, sondern die Republik). Er erzählte uns, er sei nach Breda gefahren, um dort einen Joint zu rauchen. Zehn Gramm Marihuana habe er auch mitgenommen, sagte er und öffnete wie zum Beweis das Handschuhfach. Ob denn an der Grenze nicht kontrolliert würde, erkundigte ich mich und sah mich schon unfreiwillig in einen Drogenskandal verwickelt. Rodrigo schüttelte den Kopf. Er sei da ganz zuversichtlich. Und wenn doch, dann ist es eben weg. Rodrigo trug eine schwarze Rahmenbrille und einen Vollbart. Er erzählte uns von seiner Frau und von dem Mädchen, wegen dem er vor zehn Jahren nach Belgien gezogen ist. Wir trauten uns nicht, zu fragen, ob es dieselbe ist. Rodrigo redete viel und es war angenehm, ihm zuzuhören. Gegen Abend ließ er uns in Antwerpen-Zurenborg raus, obwohl er selbst schon eine Abfahrt früher hätte nehmen können. Wir waren quasi vor der Haustür von Joke, einer Freundin von uns, bei der wir übernachteten. Kosten/Strecke: 0€/109km Was wir gelernt haben: dass am Ende doch alles wieder gut wird Was wir hätten brauchen können: Grundkenntisse in Arabisch Um anfängliche Fehler zu vermeiden, haben Anne-Marie und ich uns genau informiert, wo wir die besten Chancen hätten, um nach Rotterdam weiter zu trampen. Unsere Sachen waren gepackt, alle Spuren in Amsterdam beseitigt und wir machten uns auf den Weg zur Amstelstation, einer weiteren offiziellen Lifthalte. Unsere Lust, am Straßenrand zu stehen und uns von vorbeifahrenden Menschen begaffen zu lassen, war an diesem Tag nicht sehr groß und so waren wir umso glücklicher, als schon nach einigen Minuten jemand anhielt. Er hieß Niels und erzählte uns, dass er früher selbst viel getrampt sei. Wir waren noch müde und schwiegen. "Sogar in Süddeutschland!" Wir beide lächelten etwas gequält. Die meisten Fahrer wählen so eine Anekdote als netten Einstieg für ein Gespräch und immer wieder bringt Anne-Marie und mich das in die verzwickte Lage, unsere Tramping-Jungfräulichkeit zu vertuschen. Vor ein paar Wochen hatten wir den Horrorfilm 'The Hitcher' im Fernsehen gesehen und wussten also, was wir auf jeden Fall vermeiden mussten (psychische Störungen vortäuschen, Witze über Waffen machen, aussehen wie Rutger Hauer), großartige praktische Erfahrungen im Trampen hatten wir jedoch nicht.
Niels machte lange Pausen in seinen Sätzen, oft an Stellen, die für Pausen überhaupt nicht geeignet schienen. Er probierte uns, den Unterschied zwischen Amsterdam und Rotterdam zu erläutern, natürlich nicht ohne zu erwähnen, dass Rotterdam irgendwie besser ist. Rotterdam ist eine bodenständige Arbeiterstadt, während Amsterdam abgehoben und versnobt ist. Ich überlegte, ob es diesen Städte-Zwist nicht in fast allen Ländern gäbe. Wir hörten ihm zu, was er uns zu erzählen hatte und mussten in den nächsten Tagen noch mehrmals daran denken. Vor allem aber half uns sein Tipp, im Seemannshaus zu übernachten, da wir keinerlei Menschen kannten, bei denen wir sonst hätten schlafen können. Wir gaben also je 25 Euro für unser Zwei-Bett-Zimmer aus und sparten uns so das 10-Mann-Dormatorium im Hostel, vor dem es mir sowieso schon graute. Rotterdam war in der Tat völlig anders als Amsterdam: die Skyline erinnerte eher an Frankfurt am Main, als an Holland, die ganze Stadt ist völlig geprägt von ihrem maritimen Flair. Menschen verschiedenster Nationalitäten leben hier anscheinend ziemlich glücklich miteinander (mehr als 50% der Rotterdammer sind nicht niederländischer Abstammung) und auch wir wurden freundlich empfangen. Trotz der kühlen Block-Architektur hat Rotterdam schnell seinen Weg unter meine Lieblingsstädte gefunden. Der einzige Wehrmuthstropfen war, dass wir sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne planlos durch die Stadt liefen. So haben wir auch erst um 1 Uhr erfahren, dass um 1 Uhr Sperrstunde ist. Kosten/Strecke: 5,60€/90km + 25€ Logie Was wir gelernt haben: dass man Hamburg und (!) Berlin mögen kann Was wir hätten brauchen können: ein iPhone Wir genossen es ungefähr bis 11h, die Bankfiliale durch ein Bett eingetauscht zu haben, ließen uns von Fleur ein herrschaftliches Frühstück zubereiten und machten uns dann auf den Weg Richtung Innenstadt. Die Gaypride, die an diesem Samstag auf den Grachten Amsterdams stattfinden sollte, ließen wir zu Gunsten eines Cafébesuches ausfallen. Es regnete den ganzen Tag in Strömen und wir resümierten unser Dasein als Tramper. Wir hatten weder daran gedacht, einen Regenschirm mitzunehmen noch wasserfeste Kleidung. Auch unsere sauberen Söckchen und Unterhöschen gingen langsam zur Neige. Außerdem drohte meine Reisetasche sich in ihre Einzelteile aufzulösen. Dass wir offensichtlich schlechte Tramper waren, hinderte uns jedoch nicht daran, unsere Ankunft in Amsterdam mit je drei Milchkaffee zu feiern. Als die Wolken sich kurzzeitig auflockerten, wagten wir einen Spaziergang durch die Stadt, saßen aber nur ein paar Stunden später wieder in der selben Straße und nahmen drei Freunde aus Flandern in Empfang. Erst gegen Abend beteiligte ich mich an den allgemeinen Feierlichkeiten und gesellte mich zu Fleur und Keke in die Reguliersdwaarsstraat. Henning, ein Kommilitone aus Berlin, der seit einiger Zeit in Amsterdam wohnt, stieß auch noch dazu und der Abend wurde lang. Das Straßenfest verlagerte sich zusehends mehr in die Bars und Clubs, als auch hier die Türen schlossen, tingelten die Uebriggebliebenen weiter zu den Aftershowpartys. Meine persönliche Aftershow dauerte bis 13h am Sonntagmittag und endete schlafend in Fleurs Hausflur. Abgesehen von der kurzen Episode, wie Anne-Marie mich dort aufliest und zu Bett bringt, verläuft mein restlicher Sonntag recht ereignislos.
Kosten/Strecke: 7,80€/20km Was ich gelernt habe: Es gibt einen richtigen Zeitpunkt, um Partys zu verlassen. Meistens liegt der vor „Kommt, lasst uns noch weiterziehen!" Was ich hätte brauchen können: Anne-Marie Es schien sich unter unseren Fahrern eingebürgert zu haben, uns noch etwas auf den Weg mitgeben zu wollen. Während es bei Ludwig noch ein kühler, aber ostfriesischer Handschlag war, gab uns in Rhede ein LKW-Fahrer sogar eine Tüte Karamellbonbons und wünschte uns viel Glück. Der Familienvater, der uns nach Groningen fuhr, schenkte uns zwei Ausgaben des Kartenspiels, das sein 11-jähriger Sohn erfunden hatte und wir versprachen, es in Berlin auch mal zu spielen. (Die Spielanleitung hatten wir bereits im Auto ausführlich besprochen.) Das Trampen schien in den Niederlanden generell besser zu funktionieren: in größeren Städten sind hier sogenannte 'Lifthaltes' eingerichtet, spezielle verkehrsgünstige Plätze, die öffentlich zum Trampen ausgeschrieben sind. An solch eine Lifthalte stellten wir uns, nachdem wir den sonnigen Tag in Groningen verbracht hatten. Die Müdigkeit steckte uns noch immer in den Knochen und wir wären beide lieber in einen Zug gestiegen, aber wir malten wieder unser Schildchen und stellten uns in der Nähe vom Groninger Hauptbahnhof auf. Gerade als unweit von uns ein Motorradfahrer einen kleinen Unfall hatte und wir vom Trampen abgelenkt waren, hielt jemand an, um uns ein Stückchen die Autobahn entlang mitzunehmen. Die Freude über das Weiterkommen überlagerte unsere Sorge um den Motorradfahrer und wir überließen ihn seinem Schicksal. Unser Fahrer sprach einen unglaublich breiten Groninger Dialekt, sodass Anne-Marie trotz hervorragender Niederländischkenntnisse häufig Mühe hatte, ihm zu folgen. Wir hatten inzwischen eine Regelung gefunden, wer auf dem Beifahrersitz Platz nehmen sollte: immer der, der gerade mehr dazu in der Verfassung war, viel zu sprechen. Langsam etablierte sich bei uns ein Smalltalkschema, das wir mit der Zeit perfektionierten. Wir warfen uns verbal den Ball zu, verfeinerten einige charmante Anekdoten und wurden so zu kurzweiligen Entertainern. Wir legten uns bereits Floskeln zurecht, die am Ende der Fahrt unsere unendliche Dankbarkeit zeigen sollten (Vielen Dank, dass du uns auf unserer Reise ein Stückchen weitergebracht hast!) und stimmten kleine Jubelgesänge an, sobald wir uns dem Ziel näherten. (Wow, das ist echt so toll!) Jeder Fahrer wurde von uns mit dem Gefühl entlohnt, etwas Gutes getan zu haben.
Zwischen den Rastplätzen Hoogeveen und Amersfort, beide irgendwo im niederländischen Nirgendwo, kamen erstmals politische Themen auf. Es bot sich an, denn unser Fahrer war sehr gebildet und wollte uns daran teilhaben lassen. Dass wir von den meisten Dingen während unseres Niederlandistikstudiums schon gehört hatten, verschwiegen wir. Er hatte eine ruhige Stimme, redete langsam und freute sich immer, wenn er irgendeine Information in die Freiheit unserer Köpfe entließ. Die letzte Etappe auf unserem Weg in die niederländische Hauptstadt sollte zugleich auch die seltsamste werden. Nachdem wir bereits anderthalb Stunden auf dem Rastplatz vertrödelt hatten, fiel uns ein junger Mann auf, der alleine in seinem nicht sehr teuren Auto fuhr – unserer Erfahrung nach eine 10 auf der Fahrer-Skala. Tatsächlich schien er auch recht unkompliziert, sah auch in dem Fahrrad auf seiner Rückbank kein wirkliches Hindernis uns mitzunehmen und so waren wir zehn Minuten später auf dem Weg nach Amsterdam. Anne-Marie kam schnell mit ihm ins Gespräch, während er bei geschlossenen Fenstern eine Zigarette rauchte. Keiner weiß mehr genau, an welcher Abzweigung in der Konversation wir falsch abgebogen waren, jedenfalls bot er Anne-Marie relativ zielstrebig Pillen an, die er offensichtlich im Ueberfluss zu besitzen schien. Anne-Marie, Gemütszustand schockiert bis amüsiert, lehnte dieses Geschenk dankend ab. Unser Fahrer ließ sich nicht beirren und erzählte von dem Electrofestival, das er am Wochenende besuchen würde, während er weitere fünf Zigaretten genüsslich hintereinander wegzog. Ich, zusammengepfercht auf der Rückbank, erlebte leichte Erstickungszustände. Schließlich kamen wir in irgendeinem gottverlassenen Vorort von Amsterdam an, nahmen einen Bus Richtung Zentrum und quartierten uns bei Fleur, einer niederländischen Freundin aus Berlin, ein. Kosten/Strecke: 2,60€/263km Was wir gelernt haben: Wie man – theoretisch – drei Tage am Stück wach bleiben kann Was wir hätten brauchen können: Sauerstoffzufuhr Die Segel für die Flucht aus Schortens waren gesetzt und die Winde schienen günstig. Bereits nach fünf Minuten Warten wurden wir nach Oldenburg gebracht. Unser Fahrer machte irgendwas mit Computern, wir beide heuchelten Interesse. Das Gespräch nahm eine ungeahnte Wendung und endete schließlich bei der Russendisko, die er unbedingt mal besuchen wolle. Ein kurzer Moment, in dem mir auffiel, dass uns tatsächlich noch keine Frau mitgenommen hat – trotz vermeintlichem Pärchen-Bonus. Mit dem Bus in die Oldenburger Innenstadt fuhren wir diesmal schwarz, um unsere Weg-Kosten-Rechnung nicht unnötig zu ruinieren. Während wir uns in der Innenstadt mit Freunden trafen, probierten Anne-Marie und ich, eine Schlafmöglichkeit für die Nacht zu organisieren. Außer einem Platz auf nacktem Boden wurde uns jedoch nichts angeboten und wir beschlossen, dass wir auch auf unserem weiteren Weg etwas Aequivalentes finden könnten. Hätten wir bloß da schon gewusst, wie Recht wir damit haben sollten.
Während wir also zwei geschlagene Stunden an der Autobahnauffahrt auf eine adäquate Mitfahrgelegenheit warteten, fielen uns plötzlich eine Menge Dinge ein, die unbedingt noch erledigt werden mussten. Anne-Marie musste beispielsweise dringend Zigarettendrehen lernen (Filterzigaretten wirken zu bourgeois, um zu trampen. Kann in Holland auch sonst von Vorteil sein.), ich hingegen dachte mir aus, wofür einige Kfz-Abkürzungen wirklich stehen. (WTM - Wir töten Menschen, CLP - Christliches Lumpenpack) Nach den oben erwähnten zwei Stunden erlöste uns schließlich Ludwig von der Schmach, unseren Negativ-Warterekord zu brechen und fuhr mit uns nach Leer. Ludwig kam aus Leer, hatte uns bereits vor zwei Stunden mal gesehen und nun Mitleid bekommen. Ludwig sprach mit solch einem starken ostfriesischen Dialekt, dass Anne-Marie sich völlig aus dem Gespräch ausschaltete und ich umso mehr selbigen adaptierte. Wir redeten über Leer und Berlin, probierten Gemeinsamkeiten zu finden und verwarfen diesen Versuch sofort wieder. Ludwig war sympathisch und ich hätte ihn trotz seiner 38 Jahre gerne als Großvater adoptiert. Auch weil ich der Grund war, warum er angehalten hat. „Ich bin nicht schwul, aber nur eine Frau – da hätte ich nicht angehalten. Wer weiß, was die einem dann später anhängt.“ Aus Ludwig schien das Leben zu sprechen und da diese Sympathie offensichtlich beiderseitig aufkeimte, fuhr er uns sogar bis zum Leeraner Bahnhof, an dem er die größten Chancen auf Weiterfahrt vemutete. Außer einer Gruppe Spanier, die versehentlich nicht in den Zug zum Bremer Flughafen eingestiegen sind, und einem Taxifahrer, der das große Geschäft witterte, war weit und breit niemand zu sehen. Hin und wieder fuhren ein paar Jugendliche in ihren tiefergelegten Autos vorbei, um fünf Runden in dem Kreisverkehr zu drehen. Eine junge Frau bot sich außerdem an, uns in die Jugendherberge zu bringen – oder auch früh um 6 Uhr zur niederländischen Grenze. Letzteres nahmen wir an und tauschten Handynummern mit Eyla. Weil auch sonst keiner nach Holland wollte, beschlossen Anne-Marie und ich, die Leeraner Innenstadt zu erkunden. Unsere Müdigkeit hielt uns nicht davon ab, den erstbesten (und vermutlich einzigen) Laden zu betreten. Es war das Jameson's Pub am Mühlenplatz und man kann guten Gewissens sagen, hier brummte der Bär. Die Bandbreite an Menschen war kaum zu übertreffen. Da wäre zum einen Petra, die Dame hinter der Bar, die förmlich darauf wartete, dass endlich jemand ihre groß angekündigten Sommercocktails bestellte. Noch bevor wir einen Schluck nehmen konnten, plauderte sie schon das Rezept aus. An der Bar saß ein Mann, der mit seiner wasserstoffblonden Lockenmähne einer norwegischen Version des frühen Jon Bon Jovi glich; neben ihm Willygo, der zu späterer Stunde noch das Gespräch mit Anne-Marie suchte. „Das ist'ne tolle Locke“, lallte er und meinte ihre Frisur. „Und schöne Augen hast du auch.“ Bevor er noch weitere Körperteile lobhudeln konnte, stand allerdings schon das Taxi bereit, das Petra ihm gerufen hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass, wenn man schon an einem Donnerstagabend in irgendeiner deutschen Kleinstadt stranden musste, es doch wenigstens Leer sein musste. Um kurz vor 3 verließ uns schließlich der Partyesprit und wir schlugen mangels Alternativen in der Bankfiliale gegenüber unsere Zelte auf. Es war unbequem auf dem Fliesenfußboden und angesichts der drohenden Erniedrigung hier vorgefunden zu werden, konnten wir kaum ein Auge zu tun. Ich fragte mich, was meine Mutter nun wohl von dieser Situation finden würde und ob das nicht etwas zu viel des Abenteuers sei. Ich stellte mir vor, wie wir doch einschliefen und am nächsten Tag von der ersten Bankangestellten überrascht werden würden. Ich überlegte außerdem, wie viel ein Taxi von Leer nach Berlin wohl kosten mag. Aber alles half nichts, auch die schlimmste Nacht unserer bisherigen Reise ging vorüber und wir standen um 6 Uhr frisch wie Zahnpasta auf dem Bahnhofsvorplatz, um Eyla zu treffen. Eyla hätte Ludwigs Tochter sein können. Sie war genauso witzig, ohne irgendwelche Pointen betonen zu müssen, der gleiche ostfriesische Singsang. Eyla war viel gereist, immer per Anhalter. „Irgendwann wollte ich eine Woche abschalten in Dänemark. Ich hab dort so viel gekifft, dass ich am nächsten Tag in Paris aufwachte und nicht wusste warum.“ Anne-Marie und ich schauten uns verwundert an ob dieser unerklärlichen Magie. Kurz vor Rhede an der Ems schubste Eyla uns in die Morgendämmerung und empfahl uns das Frühstück „bei Rudi“. Rudi empfahl uns nach dem Frühstück eine geeignete Stelle zum Trampen. Klappte anfänglich eher nicht so gut, aber schließlich nahm ein junger Niederländer uns über die Grenze mit und setzte uns in Winschoten wieder aus. Dort gaben wir unser Bestes, um schnell weiter zu kommen. Die Niederländer schienen anfangs auch tatsächlich freundlicher als die Deutschen; sie winkten, lächelten uns zu und hupten – aber keiner hielt an. Nach einer Stunde erbarmte sich ein Familienvater und fuhr uns nach Groningen. Auch er hatte uns schon auf dem Hinweg gesehen und auf dem Rückweg Mitleid bekommen. Kosten/Strecke: 0€/217km Was wir gelernt haben: Plattdeutsch, von Ludwig Was wir hätten brauchen können: Freunde in Leer Der Besuch bei meiner Mutter verlief wie erwartet. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen wurde schnell überlagert von der Oednis, die meinem Heimatdorf eigen ist. Ich zeigte Anne-Marie die gesamte Ortschaft und leitete dann schnell über zu Jever, was wesentlich älter, hübscher und repräsentativer ist. Weil wir das Auto meiner Mutter benutzten, hatte ich die Gelegenheit, meine eingeschlafenen Fahrkünste wieder zu erwecken. In Jever schlenderten wir über die Hauptflaniermeile, kauften Postkarten und suchten Zerstreuung in einem der charmanten Kleinstadtcafés, deren Getränkekarten zwar keine Bionade kennen, dafür aber ausgezeichneten Milchcafé. Wir aßen Labskaus und Matjesfilets zu Mittag, begrüßten jeden mit 'Moin' (Ja. Auch nachmittags.) und fühlten uns wunderbar norddeutsch. Am späten Nachmittag besuchten wir das Schloss Jever, das inzwischen ein Museum beherbergt. Ich hatte die Ausstellung in meiner Jugend zwar bereits gefühlte zwanzig mal gesehen, konnte meiner Heimat aber nun (aus touristischer Distanz betrachtet) wesentlich mehr abgewinnen als damals. Der Besuch an der Nordsee, der der eigentliche Grund für unseren Urlaub gewesen war, wurde wegen schlechten Wetters auf den Abend verlegt. Statt zu schwimmen und uns in der Sonne zu lümmeln, liefen wir bei Dämmerung dick eingekleidet am Strand von Hooksiel entlang. Von weitem hörten wir ein adipöses Kind, das seinen Eltern fortdauernd berichtete, welche Schalentiere es gefunden hatte.
Kosten/Strecke: 0€/47km Was wir gelernt haben: so ziemlich alles über Fräulein Maria von Jever Was wir hätten brauchen können: ein Teleskop für den atemberaubenden Nachthimmel auf dem Land Erst waren es bloß ein paar Tropfen, kurze Zeit später ein ausgewachsener Regenschauer. Anne-Marie und ich sitzen an der Autobahnauffahrt Spanische Allee im Südwesten Berlins, im Gras hinter uns liegen unsere Reisetaschen. Sie hält ein Schild mit der Aufschrift 'Bremen/Hannover' in der Hand, ich strecke unaufhörlich meinen Daumen in die Luft und suche Blickkontakt zu den Autofahrern. Wir hätten bereits begonnen zu zweifeln, ob per Anhalter fahren nicht ein Relikt vergangener Zeiten ist, wenn wir nicht schon drei Tramperpärchen vor uns hätten wegfahren sehen. All diese Leute ließen sich auf ein bestimmtes Erscheinungsbild reduzieren: überdimensionaler Rucksack, mehrfarbige Strickbekleidung und ungestümer Haarwuchs. „Wie können die Menschen so herzlos sein? Man kann uns doch nicht dafür bestrafen, dass wir uns geschmackvoll kleiden.“, sagte sie weinerlich. Seit drei Stunden standen wir bereits an Ort und Stelle, haben wildfremde Menschen angesprochen, Schilder gemalt und reiselustig drein geschaut. Die meisten Fahrer schauten mitleidig zurück und fuhren weiter. „Es liegt an deiner Hose.“, schlussfolgerte endlich Anne-Marie, „Vintage in Brüssel kaufen, aber umsonst dort hin fahren wollen. Das passt nicht zusammen. Wir sehen nicht arm genug aus.“ Ich setzte bereits an zu einem erhitzten Vortrag über belgische Designer, als uns der blaue Twingo aus Sachsen-Anhalt ansprach.
Er fahre zwar nicht in unsere Richtung, könne uns aber zum nächsten Rasthof mitnehmen. Chancenoptimierung, sagte er noch, und dass er Wirtschaft studiert habe. Gerade fertig geworden, jetzt hatte er ein Vorstellungsgespräch in Berlin. „Gibt Schlimmeres“, tönten Anne-Marie und ich von der Rückbank und waren glücklich, unserem Ziel 25 km näher zu kommen. Von da an ging plötzlich alles ganz schnell. In Michendorf hatten wir innerhalb von fünf Minuten ein kroatisches Ehepaar aus Emden beschwatzt, uns mit nach Oldenburg zu nehmen. Anfangs gaben wir uns noch Mühe, ihnen zuzuhören (sie hatten ihre Tochter besucht, die gerade nach Berlin gezogen war), doch bereits nach einer Viertelstunde zwang uns der Schlafmangel der letzten Nacht in die Rückbankpolster. Erst kurz vor Oldenburg wurden wir wieder wach und erwarteten sehnsüchtig das Ende unserer ersten Etappe. Irgendwo in der oldenburgischen Kleinstadtperipherie wurden wir lieblos ausgesetzt und stiegen in einen Bus Richtung Innenstadt. Wir trafen uns mit zwei Freundinnen von früher und traten nach zwei Stunden bereits die Weiterreise an. Diesmal wollten wir im Zug trampen und wurden am Bahnsteig 5 auch schnell fündig. Eine Mutter, die mit ihrer Tochter wartete, wollte uns auf ihrem Niedersachsenticket mitfahren lassen, allerdings war die Frau geschäftstüchtiger, als wir zunächst annahmen: mit zehn Euro sollten wir uns beteiligen. Wir handelten sie auf acht herunter und stiegen in den Zug Richtung Heimat. Vier Stationen und dreißig Minuten friesische Einöde später holte uns schließlich meine Mutter vom Schortenser Bahnhof ab. Kosten/Strecke: 5,60€/478km Was wir gelernt haben: Trampen hat viel mit Mitleid zu tun Was wir hätten brauchen können: einen Poncho, möglichst bunt 24-Stunden-Tankstellen sind was Tolles. Ich muss wohl nicht erklären warum. Noch toller sind sie, wenn sie bloß zwanzig Meter von der eigenen Wohnung entfernt sind. Zu diesen wenigen Privilegierten darf ich mich zählen. Ich muss nie meinen Kaffee schwarz trinken, weil die Milch leer ist. Ich kann jedem unerwarteten Gast ein Gläschen Rotwein anbieten. Und vor allem muss ich bei nächtlichem Kummer nicht auf den 1-Liter-Eimer Schokoladeneis verzichten.
Als ich also zum wiederholten Male in diese Notlage geriet, schlich ich mich durch den Hausflur nach unten und hörte schon beim Oeffnen der Haustür wie die zierliche Verkäuferin über die Gegensprechanlage des Nachtschalters private Anekdoten ausplauderte. Auf meiner Seite der Glasscheibe hörten ihre dicke Freundin und deren Hund gespannt zu. „Is' schon was Tolles“, dachte ich mir, während ich das Eis bestellte und den gebannten Blick der Dicken kreuzte, „hier beginnen Freundschaften.“ Noch bevor ich mein Wechselgeld in den Händen hielt, überlegte ich, was die beiden zu dieser außergewöhnlichen Zusammenkunft bewegte. Die eine, klar, bekommt Geld. Die andere ist vielleicht einfach nett. Oder fühlt sich nachts allein. Oder hat einfach gern mal jemanden zum Reden. Die Dicke redet aber eigentlich kaum. Sie ging irgendwann hier vorbei, wollte wohl bloß eine Runde mit dem Hund gehen. Hatte vielleicht gerade Kummer und da hat die Zierliche ihr einen Schokoriegel empfohlen. Aus einem wurden zwei, aus zweien wurde Tradition. Sie kam nun öfter. Auch ohne Kummer. „Schon echt toll“, dachte ich wieder und hoffte, dass sich auch mit der netten Dicken jemand unterhält, wenn sie mal allein auf Arbeit ist. Obwohl ich noch nie gut Blut sehen konnte, starrte ich wie gelähmt auf die offene Wunde. Das Rot quoll über die weißen Unterschenkel - sie erschienen mir beinahe etwas zu hell, um echt zu sein. Es wollte mir nicht gelingen mich abzuwenden, mich zu entziehen – nur noch eine entfernte Erinnerung an Lärm und etwas, das nach Frühling schmeckte. Ein Gefühl von Uebelkeit überkam mich. Von der Decke her flackerte mich die Halogenlampe hässlich an wie die Kamera eines Sensationsfotografen. Ich konnte mir die Schlagzeilen in der morgigen Zeitung bildlich vorstellen.
Dieses Mädchen, das vor einigen Stunden noch barfuß über den warmen Asphalt des Ostertorsteinweges sprang, hockte nun vor mir auf der Toilettenbrille einer Diskothek. Das Gebäude war grau und wuchtig, im Inneren zerfraßen die Rhythmen die Gehörgänge der feiernden Masse. Unsere groteske Szenerie wurde akustisch begleitet von der Klospülung in der Damentoilette. Elizaveta richtete ihren Blick wie betäubt an die Decke. Ich übergab mich auf die Fliesen. Der einsame Versuch, das Würgen zu unterdrücken, wich dem Bedürfnis zu entfliehen. Tauschte fernen Lärm gegen frische Luft. „Scheiße, fass die bloß nicht an, du holst dir noch was weg.“ Ich schämte mich. Es war, als ob nach einem langen Flug der Knoten in den Ohren platzt. Schrille Töne, Menschenmassen und wer ist eigentlich diese bizarre Blondine. Elizaveta zitterte nun am ganzen Leib und ich riss Papiertücher aus dem Spender über mir. Sie war uns am selben Abend über den Weg gelaufen. Ihre Augen lächelten mich an, die hellen Dreadlocks waren aufwendig am Hinterkopf verknotet. Ein buntes Gefühl krabbelte in meinen Brustkorb, nahm meinen Arm und warf ihn über ihre Schulter. „Das wird unsere Nacht“, flötete ich und blickte in das fragende Gesicht meines Freundes. „Bei der Wärme trage ich nie Schuhe“, antwortete sie ihm noch bevor er seine rümpfende Nase mit einer Frage untertiteln konnte. Er ahnte Blut und Kotze und spielte von da an keine Rolle mehr. Lächelnd hakte Elizaveta sich bei mir ein und wir betraten das Gebäude. An der hohen Decke hingen Haken wie in einem Schlachthaus, die Grafittis an den Wänden ähnelten Tättowierungen auf weißer Haut. Die Menge bewegte sich gleichmäßig in dem nebligen Kaleidoskop. In meinen Ohren lärmte die Stille. Elektronische Beats malten in meinem Kopf das Bild einer perfekten Nacht. Elizaveta küsste mich in den Nacken und kicherte. Sie hauchte, „Ich glaube nicht an Zufälle“. Ganz selbstverständlich, als ob ich danach gefragt hätte. Ich roch ihren süßen Schweiß, heiße Schauer jagten Körper. Meine Vagabundin trank, wie es sonst nur Männer können. Diese Hüfte schien für meine Hand gemacht zu sein, die Zunge schmeckte nach bitt'rem Gin. Wenn sie heiser lachte, ließ Elizaveta ihren Kopf zurückfallen. Mit der Zeit lösten sich einzelne Zöpfe aus dem Haarknoten. Jeder Blick glich einem Versprechen. Und an irgendeiner Stelle ist mir die Situation entglitten, etwas anderes stark geworden. Verwirrt durchkämmte ich meine Erinnerungen nach Ueberbleibseln, Reliquien der vergangenen Nacht. „Elizaveta“, flüsterte ich immer wieder ihren Namen. Elizaveta. Elizaveta. Da flüsterte ich, hier schreie ich. Gelber Frühling stürzt auf graues Gebäude. Bunte Schrift prangt auf weißen Wänden. Blasse Haut lehnt an weißen Fliesen. Blondes Haar fährt über rosa Schenkel. Rotes Blut läuft auf weißem Bein. Ich nehme die Schöne in meine Arme. Gerate vom Alkohol und zu viel Gefühl in Taumel. Die Treppen runter stolpern, durch die Masse drängen, ein Ellbogen in meinem Gesicht. Ueberall Zigarettenrauch und Kunstnebel. Ich drücke sie fest an mich. Dann die Erlösung: Frische Luft und Morgentau. Ich sacke an der Mauer zusammen, streife Elizaveta über die Wange. In der Nähe ertönen Sirenen und vermengen sich mit meinem Herzschlag. „Ganz ruhig, das ist doch unsere Nacht“, versichere ich uns beiden, als sich zwei Männer in weiß nähern. Ich habe sie nicht wieder gesehen. mitten in der Nacht fuhren wir in seinem Auto die kleine Kopfsteinpflasterstraße entlang. Baujar 05 der Wagen, Baujahr 85 er. Im Radio sang eine traurige Frauenstimme von kleinen Enttäuschungen und großen Gefühlen, bei jeder Unebenheit hielt sie andächtig inne. Liebes Tagebuch, manchmal schaue ich in meinem Leben zurück und bin verwundert, wo es mich hinverschlagen hat. Dann schaue ich wieder nach vorne und lache ein bisschen. Inzwischen standen wir in seiner Wohnung, die mir beinahe weh tat in ihrer Farblosigkeit. „Mach dir ein buntes Leben“, hatte eine Freundin vor Jahren mal zu mir gesagt. Seitdem trage ich ständig dieses rote Halstuch und finde das ausreichend. Kurz überlegte ich, was hier zurückbliebe, wenn man mich samt Halstuch aus dem Bild radieren würde. Er lag bereits im Bett und hatte mir den Rücken zugewandt. Ik bewonderde zijn moedervlekkerij. Jedes Muttermal berührte ich mit der Fingerspitze, ich zog Linien und verband sie zu Bildern. Die Bilder machte ich zu Geschichten. Er reagierte nicht, obwohl ich wusste, dass er wach war. „Manchmal“, dachte ich, „voel ik me zo alleenzaam.“ Zehn Stunden später fanden wir uns in einem portugiesischen Café im Hafenviertel wieder. Einige Möwen schrien und een klein meisje liep op blote voeten over het asfalt. Beim Obsthändler nebenan verkaufte man 'Süße, saftige Clementinen' und der Händler pries sie lauthals an. Es war ein schöner Tag, die Luft hatte die Farbe von Pfirsischmarmelade. Wir redeten wenig und die Komparserie wechselte im Sekundentakt, die Hauptdarsteller aber blieben wir. „Du“, sagte er plötzlich, „das Ganze hat doch keine Zukunft mehr. C'est la vie.“ Ich nickte und bekam Lust auf Clementinen. Liebes Tagebuch, seit heute hat das Ganze wohl keine Zukunft mehr. Je t'embrasse. Die besten Geschichten schreibt nicht das Leben. Die besten Geschichten schreibe ich. Ich gebe ihnen einen Anfang und ein Ende, lasse Informationen weg, die mir nicht gefallen und dichte andere hinzu. Nun sitze ich an meiner Schreibmaschine (die eigentlich ein altersschwacher Laptop ist) und setze den Anfang in ein Café am Sonntagmittag. Großstadtmythen, Kirschbaumblüten, Einkaufstüten. Ich sitze mit zwei Freundinnen draußen an einem Tisch, du bist der Kellner. Schriebe das Leben diese Geschichte, wären wir uns vorher sicherlich schon begegnet. Ein flüchtiges Hallo in der U-Bahn oder gemeinsame Freunde auf Facebook. Und du wärest Gast in dem Café. Einer, der schüchterne Blicke in meine Richtung wirft, aber doch nichts sagt. Dein Blick wäre nicht so böse und dein Lächeln nicht so selbstsicher. Aber das Leben schreibt diese Geschichte nicht. Es ist jedenfalls Sonntag und hier beginnt die Geschichte. Du bringst mir einen Milchkaffee und eine Einladung für ein Bier am Abend. Und du bittest mich, deinen Namen zu ändern, wenn ich diese Geschichte aufschreibe.
Vom ersten Moment an bin ich gefesselt. Es ist inzwischen nachts, wir haben noch 36 Stunden. Keine Zeit für die anfänglichen Zweifel, die das Leben nun an dieser Stelle eingebaut hätte. Wir laufen mit einem Bier in der Hand durch deine Stadt, die nun ein bisschen auch meine ist. Ich mag deine dunkle Stimme, deine vulgären Witze und dein trauriges Gesicht. Du erzählst mir von Kaninchen und ich muss an das dicke Kaninchen von Albrecht Dürer denken. Wie es in seiner aus Bleistiftstrichen gebauten Gemütlichkeit da liegt und wartet. Oder vielleicht war es ein Hase. Und ich denke an den Greis, der in meinem Heimatdorf unser Nachbar war. Fast täglich hat er Kaninchen erlegt, ihnen das Fell vom Leib gezogen und die grotesken Tierkadaver an ihren Hinterbeinen in seiner Laube aufgehängt. Und von da aus schauten sie mich an, ihre morbiden Blicke verfolgten meinen Gang. Ich war fünf oder sechs oder es waren Hasen. Todesschrein, Hasenbein, Mondesschein. Die Nacht verlässt frühzeitig die Bühne und lässt sich vom Morgengrauen entschuldigen. Wir sitzen weiterhin auf einer Bank vor einem Friseursalon und finden keine Gründe uns zu verabschieden. Häuserwand, Alsterstrand, unverspannt. Würde das Leben diese Geschichte schreiben, lägen wir schon längst innig umschlungen und sinnig verklungen in deinem Bett, in deiner Stadt. In dieser Geschichte aber trauen wir uns nicht oder wollen vielleicht auch nicht. In dieser Geschichte ignorieren wir die Sternschnuppen am Himmel, sprechen über Theater und Literatur und wissen, dass ein Kuss nun keins von beidem wäre. Irgendwann stehen wir auf und gehen nach Hause, wir frieren beide ein bisschen, jeder für sich. Und Sternenhimmel finden wir blöd. Das Leben hätte mich nun meine Rückfahrt verschieben und es mich in der Bleistiftzeichnung deiner Wohnung gemütlich machen lassen. Und vielleicht sitze ich auch in dieser Geschichte zwanzig Stunden später auf deinem Bett und wir küssen uns und wir mögen uns und wir reden über Liebe und müssen kurz ein bisschen lachen. Fast beleidigend wirkt dieses Wort. Banal, weil es gedruckt auf T-Shirts und vergewaltigt in hunderten Liedtexten nicht ansatzweise zu beschreiben vermag, was uns verbindet. Du bist meine hundert Prozent, ich bin die Skizze deines Morgens und Uebermorgens. Ich liege neben dir in deinem Bett und wir hätten uns ausgezogen und ich wäre geblieben. Aber das Leben schreibt diese Geschichte nicht. Du hast mich nach Hause gefahren und im Radio lief dieses Lied, das mich schonmal an eine Stadt und einen Mann erinnert hat. Und die Frauenstimme singt genau die Worte, die nun das Leben an dieser Stelle geschrieben hätte und wir lachen ein bisschen. Und trotzdem hast du wieder diesen bösen Blick in deinem traurigen Gesicht. Du ziehst mich zu dir hin und gibst mir einen dieser Küsse, die ganz gewöhnliche Momente, die das Leben eben so schreibt, zu großen Momenten machen, von denen man dreißig Jahre später noch den Nachbarskindern erzählen wird. Und dann steige ich aus und die Geschichte ist zu Ende. Nicht, weil das Leben es so geschrieben hätte, sondern weil ich es so schreibe. Und ich ändere deinen Namen. Und ich lasse Informationen weg, die mir nicht gefallen und dichte andere hinzu. Und ich denke an dich, mein Kaninchen. Oder vielleicht war es ein Hase. Über die Leinwand flackern Bilder von Brügge. Die friedliche Stadtsilhouette mit den drei majestätischen Türmen: die Sint-Salvador-Kathedrale, die Liebfrauenkirche und der Belfried. Im Vordergrund die Kanäle, die hier Reien heißen. Die ersten zehn Minuten passiert wenig, fast störend wirkt der Satz „Ich find’s hier schön“, den der Profikiller Ken in die neblige Stille Brügges flüstert, während er den Ausblick vom Belfried genießt. Das vorweihnachtliche Brügge ist mit seinem poetischen Flair der wohl widersprüchlichste Schauplatz für einen Actionfilm und gerade daraus zieht die Handlung von In Bruges (dt.: Brügge sehen… und sterben?) ihre Spannung. Die beiden Auftragskiller Ken und Ray tauchen in der flämischen Hansestadt unter, um dort auf die nächste Mission ihres Auftraggebers Harry zu warten. „Es ist wie im Märchen überall. Mit all den Kirchen und der Gotik. Überall Kanäle, Brücken und Kopfsteinpflaster.“ Selbst dem abgebrühten Harry verleiht der Gedanke an Brügge eine fast kindliche Sanftheit in der Stimme.
„Wie traurig war die Stadt an diesen Abenden. Er liebte sie so. Gerade wegen seiner Schwermut hatte Hugo Brügge zum Wohnort gewählt.“ So beschrieb der belgische Autor Georges Rodenbach gegen Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Roman Bruges-la-morte (dt.:Das tote Brügge) die schlafende Schönheit im Westen Flanderns. Und tatsächlich war ihr Schlaf beinahe komatös: Nachdem die Stadt im 15. Jahrhundert von burgundischen Herzögen regiert wurde, die Brügge kulturell, architektonisch und wirtschaftlich zur reichsten Stadt Nordeuropas machten, begann zu Anfang des 16. Jahrhunderts der wirtschaftliche Abstieg der Hansestadt. Die Versandung der Zwin, ein Meeresarm der Nordsee, der bei einer Sturmflut im Jahre 1134 aufgerissen war, schnitt der Stadt den direkten Zugang zum Meer ab und kostete sie somit die führende Position als Haupthandelshafen. „Das tote Brügge war selbst bestattet im Grabe seiner steinernen Grachten, und erstarrt waren die Adern seiner Kanäle, verebbt der große Pulsschlag des Meeres.“, heißt es in dem Roman Rodenbachs. Die Stadt wird zum Symbol der Trauer Hugo Vianes um seine verstorbene Ehefrau: die neblige, graue Szenerie und die dunklen, tristen Häuserfassaden, aber auch die sittsame Frömmigkeit gleichen seinem unendlichen Trübsinn. Erst als Hugo die Tänzerin Jane kennenlernt, die seiner Toten aufs Haar gleicht, scheint auch Brügge sich von dem dunklen Schleier des Totenschlafes zu befreien. „Er ging getrost durch ihre Stille, als wäre auch sie aus ihrem Grabe auferstanden und stände da wie eine neue Stadt, der alten gleich.“ Auch in dem Film von Martin McDonagh steht die hübsche Flamin Chloë in perfekter Symbiose zu der klassischen Eleganz ihrer Heimatstadt. Brügge selbst wirkt wie eine rätselhafte flämische Schöne, wie sie der Maler Fernand Khnopff in seinen Brügger Porträts in ihrer ganzen traurigen Anmut darstellt. Seine durch adelige Grautöne gekennzeichneten Ansichten sind von dem Roman Rodenbachs inspiriert. Brügge konnte sich seine Schönheit bewahren, denn die im 19. Jahrhundert aufkommende Industrialisierung ging vollständig an der einstigen Metropole vorbei. Was damals den weiteren Abstieg der Stadt andeutete, ist heutzutage das große Glück. Da wegen des jahrhundertelangen Stillstandes kein Geld vorhanden war, um Bauvorhaben zu finanzieren, konnte sich Brügge den mittelalterlichen Stadtkern bewahren, der heute Teil des Unesco-Weltkulturerbes ist. Die labyrinthartigen Gassen sind heute ein Anziehungspunkt für Touristen aus ganz Europa und schon Rodenbach schrieb, Brügge sei die Stadt, „die in den tausend Bändern ihrer Kanäle wie verschnürt dalag.“ Nicht nur, dass der Roman Brügge Anfang des 20. Jahrhunderts ein Image als morbide Kulturstadt verschaffte, auch erhielt die Stadt 1907 durch den Anschluss an den Seehafen Zeebrügge neue wirtschaftliche Perspektiven. Dornröschen erwachte, hatte jedoch scheinbar noch keine Zeit für Renovierungsarbeiten: „Als wir durch die Straßen gelaufen sind, da war dieser eisige Nebel über allem. Es war wie im Märchen.“, berichtet Ken mit der gemütlichen Ruhe in der Stimme, die einen überkommt, sobald man die Stadtgrenzen überschreitet. Szenenwechsel. Ein Schwan auf dem Wasser der Grachten, pardon, Reien. Es ist früh abends, die Hintergrundszenerie ist in vorweihnachtlicher Romantik beleuchtet. Hugo schlendert in seliger Eintracht durch die Straßen, während sich die Killer in derselben Szenerie eine Verfolgungsjagd liefern. Und doch scheint alles so nebensächlich, denn im Buch wie im Film ist Brügge die heimliche Hauptdarstellerin. Die friedliche Stille macht Brügge zur Zuhörerin für traurige Stunden, durch das geschäftige Treiben auf dem vorweihnachtlichen Grote Markt wird sie zur Kupplerin großer Liebesbeziehungen, der Beginenhof und die sakralen Gebäude machen die Stadt zu einem nebligen Nirwana auf Erden. Nicht schaurig, nicht makaber, nicht grausam, sondern fast spirituell formuliert es Ken im Film: „Ich würde gern noch mal Brügge sehen, bevor ich sterbe.“ Rodenbach, Georges: Bruges-la-Morte. Paris: Marpon & Flammarion, 1892. McDonagh, Martin: In Bruges. Vereinigtes Königreich: 2008. |
weltr/eis/e
Alle
zeit~fliegt
Mai 2018
|