Konnichiwa! Eine Transe, die in den ersten Sekunden ihres Auftritts ihre Perücke ins Publikum schmiss, liefert auf der Shangri-La im Ageha eine ziemlich witzige Show. Lilith ist am Montag weiter nach Norden gereist und für mich brach die letzte Woche in Tōkyō an. Ich hatte ursprünglich geplant, am Sonntag in ein kapuseru hoteru (= Kapsel Hotel) in Shinjuku zu ziehen und hatte deshalb nach meinem Partywochenende meinen Krempel aus dem Spind am Bahnhof geholt und zum Green Plaza Shinjuku Capsule Hotel geschleppt. Dort fragte mich der Herr an der Rezeption dann, ob ich Tättowierungen habe. Obwohl ich inzwischen eigentlich längst hätte wissen sollen, worauf die Frage abzielte, antwortete ich ehrlicherweise, dass ich tättowiert sei. Das Gesicht meines Gegenübers verzog sich und nahm diesen Gesichtsausdruck an, den ich in den letzten Wochen häufiger mal gesehen habe: „Warum bringt mich dieser ungehobelte Europäer nun in die missliche Situation, unglaublich unhöflich sein zu müssen?“ Dann bildete er mit den Händen ein Kreuz (= die japanische Geste für „Kannste knicken, Kollege!“) und wiederholte immer wieder „Cancel, cancel“. Die ewige Prophezeiung meiner Mutter war eingetreten: dank meiner Tättowierungen war ich zum Obdachlosen geworden. Dazu noch ein sehr müder Obdachloser, ich hatte wegen all der Feierei kaum geschlafen in der Nacht zuvor.
Ich suchte den nächsten Family Mart, denn da funktionierte das W-LAN am verlässlichsten und kontaktierte Naoki, den ich eine Woche zuvor vorm Advocates Café kennengelernt hatte, auf Facebook. Er hatte mir damals angeboten in seiner Wohnung zu crashen und ich hoffte, das Angebot wäre noch aktuell. Eine halbe Stunde später stand ich in Jingūmae in Naokis Wohnung, die der exakte Gegenentwurf zu meiner Kapsel war. Naoki hatte eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung mitten in Tōkyōs hippester Gegend, die auch nach Berliner Standards als riesig bezeichnet werden müsste. Ich glaube, selbst meine Mutter wohnt in meinem norddeutschen Heimatdorf in einer kleineren Wohnung. Ich staunte nicht schlecht. In dem eigentlichen Gästezimmer wohnte zurzeit Akiro, ein japanisch-französischer Freund von Naoki, der gerade seine Masterarbeit in Japan schrieb und deshalb bekam ich das Wohnzimmer und Naokis volle Gastfreundschaft. Ich fühlte mich sofort verdammt wohl – ziemlich verständlich, wenn man bedenkt, dass innerhalb einer Stunde mein Wohnort von Bordsteinrinne zu Palast upgegradet wurde. Tōkyō meinte es sehr gut mit mir. Ich nahm eine lange Dusche in einem Bad, das unsinnigerweise zwei Eingänge hatte und trank Whiskey mit Naoki. Einfach so, weil Sonntag war. Am Abend kam noch Yuya vorbei, ein weiterer Freund von Naoki und Akiro und wir saßen auf der Terrasse, rauchten und tranken Wein. Ich verstand schnell, dass Naokis Wohnung ein Treffpunkt ist für alle in Tōkyō gestrandeten Homosexuellen, denn in den nächsten Tagen sollten noch Dirk, ein flämischer Flugbegleiter, seine beiden britischen Kollegen und Sea, eine mit Akiro befreundete chinesische Lesbe irgendwo in den unzähligen Winkeln von Naokis Wohnung nächtigen. Ich habe selten jemanden kennengelernt, der mit jeder Faser seines Wesens ein so gutmütiger und warmherziger Mensch ist wie Naoki. In meiner letzten Woche in Tōkyō verlagerten sich meine Aktivitäten zunehmend Richtung Abend, weil ich meinen eigenen Schlüssel zu Naokis Wohnung hatte und mich niemand mehr daran hinderte, nach meinem eigenen Rhythmus zu ticken. Ich besuchte an einem Nachmittag das Ukiyo-e Ota Memorial Museum of Art in Harajuku, in dem es aktuell eine Ausstellung zu Gespenstern, Geistern und Zauberern im traditionellen Ukiyo-e gab, die mir ziemlich gut gefallen hat. Ukiyo-e ist ein Genre traditioneller japanischer Kunst, das hauptsächlich durch die große Welle vor Kanagawa von Katsushika Hokusai in Europa bekannt ist. Mit Holzschnitttechniken werden in verschiedenen Stufen Farben auf das Papier gedruckt, so dass zum Schluss ein mehrfarbiges, graphisches Motiv zu erkennen ist. Von diesen sehr alten japanischen Farbholzschnitten sind nicht nur spätere westliche Stile wie der Impressionismus inspiriert, aus dieser Tradition sind auch die heutigen japanischen Manga hervorgegangen. Auch ich fand es beeindruckend, wie modern die ausgestellten Bilder auf mich wirkten, obwohl sie alle im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Alex, eine US-Amerikanerin, bei der Lilith und ich eigentlich in Tōkyō couchsurfen sollten, traf ich an einem Abend in Kōenji, einer Gegend westlich von Shinjuku. Wir tranken klare Schnäpse und verstanden uns auf Anhieb großartig miteinander. Zwischen Alex und mir war es gleich so, als wären wir schon ewig miteinander befreundet, denn wir übersprangen das übliche Kennenlerngeplänkel und widmeten uns direkt den wichtigen Themen, die uns beschäftigten. Alex denkt nach anderthalb Jahren, die sie nun in Japan gelebt hat, darüber nach, wo sie als nächstes wohnen möchte und zieht Berlin in Erwägung. Zurzeit arbeitet sie in Tōkyō an einer Schule für bildene Künste. Alex und ich trafen uns noch einmal am Freitagabend in Ebisu, südlich von Roppongi, wieder. Ein schweizerischer Freund von Alex hatte in den letzten Monaten ein Praktikum bei Grey gemacht, einer großen Werbeagentur, und feierte nun mit den Praktikantenkollegen und Chefs seinen Abschied im America Bashi, einem Irish Pub, das wohl schon Quentin Tarantino während der Dreharbeiten zu Kill Bill 2 zu seiner Lieblingsbar kürte. Ich fand Quentin Tarantino ja noch nie wirklich toll, aber wenn er in einer Stadt wie Tōkyō tatsächlich diese unspektakuläre Saufhalle zu seiner Lieblingsbar erklärt, darf ich ihn wohl von nun an guten Gewissens scheiße finden. Der Abend mit den Werbern war trotzdem ganz lustig, auch wenn ich mich hauptsächlich mit Alex unterhielt, die ich nach wie vor großartig finde. Irgendwie kamen wir, wahrscheinlich schon relativ betrunken, zum Ende des Abends auf die spontane Idee am nächsten Tag zum Ringo Musikfestival nach Matsumoto zu fahren (genauer: mit dem Zug schwarz nach Matsumoto fahren und dann in das Ringo Musik Festival einbrechen), haben diesen Plan aber glücklicherweise am nächsten Tag wieder verworfen. Ich zog mal wieder weiter nach Nichōme, denn Naoki hing dort rum und ich wollte noch Zeit mit ihm verbringen, weil er am nächsten Tag zum Labyrinth Festival fuhr, das irgendwo in der Präfektur Niigata stattfand. (Jetzt weiß ich auch wieder, wie Alex und ich auf die Ringo-Idee kamen.) Außerdem waren an dem Abend gerade die drei schwulen Flugbegleiter da, die ich kurz vorher schon in Naokis Wohnung kennengelernt hatte und ziemlich unterhaltsam fand. (Zumindest den Belgier. Die Briten waren eher... nunja, britisch.) Zu fünft zogen wir also mal wieder durch die allseits bekannten Lokale, tranken Gin Tonic, als ob es kein Morgen gäbe und landeten schließlich im Dragon, wo ich von Akihiro angesprochen wurde, einem wirklich niedlichen japanischen Hipster, der dort mit seinem besten Freund (offiziell hetero, baggerte aber wie blöde an mir rum) und seiner besten Freundin seinen 23. Geburtstag feierte. Akihiro wurde irgendwann in seiner Jugend mal drei Jahre lang auf eine internationale Schule in Schweden geschickt, sprach dafür aber ein überraschend holpriges Englisch. Trotzdem verbrachten wir das Wochenende miteinander und verließen Shinjuku eigentlich nur zum Klamottenwechseln. Am Samstagabend machte ich Akihiros Dreierclique in einer japanischen Karaokebar ausfindig, in der sie nochmal Geburtstag feierten, ging aber nach einer halben Stunde wieder. Zum einen, weil mir sein bester Freund in jedem unbeobachteten Moment auf die Pelle rückte, zum anderen weil Akiro, Georgi (Naokis bulgarischer Ex-Freund) und Kiri (eine sarkastische und irre witzige Lesbe aus Kalifornien, die Lilith unabhängig von mir schon vor einer Woche betrunken kennengelernt hat) die deutlich witzigere Abendbegleitung waren. Wir gingen erst zum Thailänder was essen und verloren dann Kiri auf dem Weg ins New Sazae (Tōkyōs älteste Gay Bar, die seit 1966 durchgehend geöffnet ist.) Angeblich hat der Besitzer, der unseren ersten Drink aufnahm und mindestens 70 Jahre alt war, an jedem einzelnen Abend seit der Eröffnung dort gearbeitet. Mir wurde außerdem von Akiro und Georgi erzählt, dass dort hin und wieder wohl auch eine mindestens genauso alte DJane auflegt, leider nicht an diesem Abend. Stattdessen liefen auf einem Fernseher alte Soul Train- Folgen und wir tanzten zu irre witziger Retro-Musik. Spätestens jetzt war es klar: ich liebe Tōkyō. Je suis un Tokyo boy. Akihiro ließ sich an dem Abend zwar nicht mehr blicken, schickte mir aber am Tag darauf reumütig geraspeltes Süßholz auf's Handy, das fast noch niedlicher dadurch klang, dass es wohl per Google Translator übersetzt worden war. Wir trafen uns schließlich am Sonnabend nach seiner Arbeit in Harajuku, aßen kurz was und liefen dann schweigend durch die Straßen. Mir fiel auf, dass sich die Tatsache, dass wir eigentlich keine gemeinsame Kommunikationssprache haben, nüchtern ziemlich schlecht ignorieren lässt. Ich notierte auf meinem geistigen Merkzettel, dass ich mich dringend für den Japanisch A.1.2.-Kurs anmelden sollte. Dann schließlich begann meine letzte Nacht in Japan, zu der ich eigentlich erst gar nicht erscheinen wollte, weil ich höllisch verkatert und mies gelaunt war. Glücklicherweise hatte aber jeder schwule Mann, der mir in den letzten Wochen in Tōkyō begegnet ist von der Shangri-La erzählt, die an diesem Abend im Ageha am Hafen stattfinden sollte, sodass selbst meine stark alkoholgetränkten Gehirnsynapsen noch den sozialen Zwang begriffen, dem ich ausgesetzt war. Letzte Nacht in Tōkyō, letzte Nacht in Japan, immer noch ein paar lausige Yen in der Tasche, riesige Schwulenparty mit Meerblick – ich konnte nicht nicht gehen. Und tatsächlich: Ageha was amazing! Ich sah so ziemlich jeden schwulen Mann wieder, den ich den letzten Wochen kennengelernt habe. Akiro, Georgi, Yuya, Kiri, Ricky (Wills bester Freund) und der hübsche Norweger (der bizarrerweise dunkelhäutig, aber gleichzeitig blond und grünäugig war) waren da. Jamie, der australischen Tänzer, mit dem ich am Wochenende zuvor noch feiern war, trat auf der Bühne an dem Pool auf, vor und nach ihm noch einige japanische Transen-Girlgroups und muskulöse, japanische Oben-Ohne-Tänzer mehr. Der riesige Außenbereich erinnerte mich ein bisschen an die Berliner Klubs an der Spree, außer dass es hier so viel schöner war. Shangri-La war eine riesige, glitzernde, unglaublich großartige Party. Ich (inzwischen topless) tanzte mit einem witzigen Briten (ebenfalls topless), dessen britischer Freundin (trug immerhin noch ihren BH) und einem japanischen Bekannten (ratet mal) auf einer Großraumdiskothekentanzfläche und schaute mir schließlich mit Yuichi – so hieß Letzterer – (dann wieder komplett bekleidet) den Sonnenaufgang am Hafen an. Ich habe Sonnenaufgängen in meinem bisherigen Leben nicht viel Bedeutung beigemessen. Das war ein Fehler. Ab jetzt mag ich Sonnenaufgänge. Schließlich verließ ich zusammen mit Akiro und Sea früh am Morgen die Party. Wir aßen zusammen noch nebenan jeder eine Nudelsuppe, in der Sea beinahe eingeschlafen wäre, verloren uns im U-Bahnnetz von Tōkyō und fanden uns schließlich alle drei vor Naokis Haustür wieder. Meine letzte Nacht in Tōkyō war also der würdige Abschluss einer großartigen Reise. Am Sonntag, meinem letzten Tag, traf ich Tom, einen flämischen Freund, der inzwischen in Bangkok wohnt. Für seinen Geburtstag war er zusammen mit Art, seinem thailändischen Freund, über's Wochenende nach Tōkyō gereist. Wir trafen uns in Harajuku und liefen zusammen zum Yoyogi-kōen, einem Park der gerade japanweit dafür bekannt war, dass Forscher hier kürzlich Mücken gefunden haben, die Denge-Fieber übertragen. Denge-Fieber gab es in Japan eigentlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, deswegen panicten alle ziemlich und badeten förmlich in Mückenspray und auch wir wurden gebeten, uns intensiv einzusprühen, bevor wir uns dem Teich und dem Azalea-Garten näherten. Der Tag mit Tom und Art war nochmal sehr schön, vor allem weil es sonnig und ruhig war. Tom hatte ich nicht mehr wiedergesehen, seit ich mein Auslandssemester in Belgien beendet habe, denn er war kurze Zeit später nach Thailand gezogen. Am Abend packte ich meine Klamotten und all die Mitbringsel und Souvenirs, die ich über 5 Wochen in Japan angesammelt hatte, in meinen Seesack und machte mich todtraurig auf den Weg zum Flughafen. Ich hinterließ Naoki noch eine Nachricht und einen Jägermeister, mein letztes omiyage, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Am Flughafen belastete ich mein Gemüt noch mit stundenlanger Wartezeit und tausenden schönen Erinnerungen an Japan und meine Kreditkarte mit einigen Einkäufen im Duty Free Shop und stieg schließlich um 23:45 Uhr in den Flieger nach Dubai. Damit war diese einmalige Reise vorbei. Was ich gelernt habe: Mit freiem Oberkörper auf einer Tanzfläche tanzen. Ist tatsächlich, äh, sehr frei. Was ich hätte brauchen können: mehr Platz in meinem Seesack. Ich hätte mindestens noch 3 Kilo Matcha-Tee, zwanzig Packungen japanische Süßigkeiten, getrockneten Tintenfisch und getrocknete Shrimps mitnehmen wollen. Wen ich grüße: Lilith. Ich habe sie wirklich vermisst in meiner letzten Woche und noch mehr, als ich wieder in Deutschland ankam. Und entgegen aller Prophezeiungen (Die Wetten lagen, glaube ich, irgendwo zwischen 3 und 5 Tagen) haben wir es einige Wochen lang miteinander ausgehalten und, besser noch, eine unvergessliche Zeit zusammen gehabt. Song des Tages: Grotesque von Ken Hirai & Namie Amuro. Denn Tōkyō ist höchst grotesk. Und hart großartig.
0 Kommentare
Antwort hinterlassen |
weltr/eis/e
Alle
zeit~fliegt
Mai 2018
|