Illustrationen © Hannelore Dreher (instagram: @hanneloredreher)
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Schillig & Horumersiel, Niedersachsen Ich wollte nicht weinen. Es war bloß ein Krebs, ich war bloß fünf, ich hatte mich bloß erschrocken. Dann heulte ich doch. Wasser zu Wasser. Neustadtgödens, Niedersachsen Im Sand hinterließ ich rote Spuren, es sah fast schön aus, wie wilder Mohn. Ich weinte wegen meiner Mutter, deren Idee es war, zum Strand zu fahren. Ich heulte wegen meiner Schwester, die in keinen Krebs getreten war. Sie sollten sehen, wie schlecht es mir ging. Sie sollten genauso erschrecken. Groningen, Groningen Ich heulte noch lauter und begann auf einem Bein zu hüpfen. Wenn ich weiter mit beiden Beinen auftreten würde, so dachte ich, wäre am Strandkorb meiner Mutter kein Blut mehr an meinem Fuß. Dangast, Niedersachsen All mein Blut wäre aufgebraucht, würde im Sand zu einer üppigen Mohnwiese wachsen und das wäre zu hübsch und zu harmlos. Der Beweis meiner Verletzbarkeit wäre dahin. Staub zu Staub. Wilhelmshaven, Niedersachsen Ich kam an. Humpelnd, heulend, erschöpft. Schortens, Niedersachsen Ich erzählte von dem Krebs und machte ihn dreimal größer als er war. Ich ließ mich von meiner Mutter in den Strandkorb setzen und sie pustete auf meine Wunde, geschützt vor dem Wind. Jever, Niedersachsen Ich wollte nicht mehr aufhören zu weinen.
...Familie doch super ist. Ich hab' da so zwei Tanten. Die habe ich noch nicht lange. „Familie kann man sich nicht aussuchen“ hat mein Vater mal als Grund genannt für den Streit, der bis heute anhält. Und damit hat er recht. Meinen peinlichen Onkel zum Beispiel, der immer noch einen schlechten Scherz auf Lager hat. Die strebsame Cousine, die in allem besser ist als man selbst. Und nicht zuletzt die jüngeren Geschwister, die ja per se die uncoolsten im ganzen Universum sind. Dass mein Vater sich mit den seinigen also verstritten hat, ist demnach nur zu gut nachvollziehbar.
Während ich also heran wuchs und mir auf jedem erdenklichen Familienfest den Katzentisch mit Onkel Quatschmichvoll und Cousinchen Einsplusmitsternchen teilte, feierten die Schwestern meines Vaters eigene Feste und gründeten eigene Familien. Bessere Familien, vielleicht. Mit besseren Festen. Die Messlatte liegt ja, wie gesagt, nicht hoch. Familie kann man sich nicht aussuchen. Ebensowenig habe ich mir ausgesucht, diese zwei Tanten und ihre Familien nie kennenzulernen. Vor kurzem bin ich also losgezogen, habe die beiden gesucht und jetzt hab' ich da so zwei Tanten. Die zwei Tanten haben tatsächlich Familien gegründet, ich hab' jetzt auch zwei Cousinen und zwei Cousins. Und die zwei Tanten feiern Feste, zu denen ich jetzt auch eingeladen bin. Bin ja jetzt schließlich Familie. Familie kann man sich nicht aussuchen. Das ist blöd, da hat mein Vater recht. Dass sich die Familie auch mich nicht aussuchen konnte, das ist gut. Meine Tanten ahnen nicht, dass ich früher bei Museumsbesuchen unerträglich gequengelt und geschrien habe, wenn wir heute durch eine Ausstellung schlendern. Meine Cousinen und Cousins wissen nicht, dass ich ständig geschwänzt und etliche Klausuren erst im zweiten Anlauf bestanden habe, während sie die Resultate meiner Studienlaufbahn bewundern. Rückblickend bin ich plötzlich ein ruhiges, wissbegieriges Kind und ein umgänglicher, gewissenhafter Pubertierender gewesen. Stimmt ja auch. Ungefähr. Im Resultat sitze ich nun schließlich mit meinen Tanten in einer Bar in Kreuzberg und bin ein Neffe, an dem man nicht viel aussetzen kann. Wir rauchen zu dritt vier Schachteln Zigaretten weg, trinken die gesamte Spirituosenkarte rauf und runter und erzählen uns Dinge, die ich sonst nur an gute Freunde ausplaudern würde. Derselbe rauchende, trinkende und promiskuitive Fünfzehnjährige hätte bestimmt weniger Anklang gefunden. Im Gegenzug bewundere ich sie für die sympathischen und intelligenten Cousinen und Cousins, die ich ihnen zu verdanken habe. Von Neid auf deren Einsplusmitsternchens keine Spur. Ich find' sie großartig, diese zwei tollen Tanten, die im übrigen auch immer einen Scherz auf Lager haben, und ich feiere gerne Feste mit ihnen. Das macht man ja schließlich mit der Familie. Das Schlechte an Familie ist, dass man sie sich nicht aussuchen kann. Das Gute an Familie ist, dass sie sich mich nicht aussuchen kann. Man kann sich ebensowenig die einem zugedachte Rolle aussuchen, denn das ist Familie doch eigentlich: ein Laientheaterstück, dessen schärfster Kritiker man selbst ist. Aber man kann sich aussuchen, ob man sich einfach mal vor ihre Haustür stellt, klingelt und Hallo sagt, denn man gehört ohne Fragen und Klagen dazu. Und darum ist Familie doch super. _ »Frühmorgens können wir in der Ferne schon sehen, wer am Nachmittag zu Besuch kommt«, sagen die Friesen. »So flach ist die Gegend.«_
„Vielleicht von short – weil es so eine kurze Strecke von dem einem zum anderen Ende des Dorfes ist“, schlug eine auswärtige Freundin vor, als Dorfnamendeuten unser neuester Dorfzeitvertreib war. Sie, als Stadtkind, war immer recht angetan von Nordseeluft und friesischer Natur.
Ich liebte Schortens nie. Laut offiziellen Quellen hat sich der Name Schortens aus einem Familiennamen entwickelt. Peinlich. Bei coolen Städten war das ja eigentlich andersrum. Sowieso war fast alles doof an Schortens: der 219er fuhr so blöde durch das Dorf, dass jede der Bushaltestellen einen mindestens fünfzehnminütigem Fußmarsch erforderte. Kein wirklich shorter Weg für einen Zwölfjährigen, der morgens um sieben an der Haltestelle stehen musste. Blöd waren auch die Straßennamen. Ich wohnte in der Appellandstraße im Inselviertel und fragte mich meine gesamte Kindheit über, ob die acht Einwohner der Hallig Gröde-Appelland wohl wissen, dass es in Schortens eine Straße gibt, die mehr Einwohner hat, als ihr winziges Eiland. Außerdem fragte ich mich, ob es uns die dreieinhalb Millionen Hauptstädter verzeihen, dass sie auf Schortenser Stadtplänen eine Berliner Straße nur in einem lausigen Vorort finden werden. Eine Lübecker Straße hingegen gibt es. In derselben Lübecker Straße gab es einen kleinen Spielplatz, zu dem ich immer fuhr, wenn ich mir am einzigen Kiosk des Ortes eine Bravo und Süßigkeiten holte. Der Spielplatz war selbst für Schortenser Verhältnisse jämmerlich, sodass ich keine anderen Kinder zu befürchten hatte. In meiner Erinnerung war dieser Spielplatz eines der wenigen Dinge, die ich nicht blöd fand an Schortens. In meiner Erinnerung war es auf diesem Spielplatz auch immer Sommer und ich quasi in geheimer Mission unterwegs, denn sowohl Bravo als auch Süßigkeiten waren zu Hause verboten. Ich aß also im Eiltempo die bunten Weingummifiguren auf und schaute mir nebenbei Penisse und Brüste auf den Dr. Sommer-Seiten an. Verwegener Schortenser Teenager, der ich war. Danach schmiss ich die Bravo ins Gebüsch, für die Popstars der ausklingenden Neunziger Jahre hatte ich nun wirklich keine Zeit mehr. Hätte auch nicht für möglich gehalten, dass ich darüber mal glücklich sein würde. Schortens war sogar schon blöd im Mittelalter. In Oestringfelde hatten die mal ein echt wichtiges Nonnenkloster, mit Pferdezucht und allen Extras. Riesending, echt viele Nonnen. Dann kam die Pest, alle Nonnen sind gestorben. Schortens als place to be blieb also ein kurzes Intermezzo. Es passierte dann auch die nächsten paar Jahrhunderte nicht viel, was natürlich auch blöd war. Ich liebte Schortens, wie gesagt, nie. Ich erinnere mich, dass ich an irgendeinem Sonntag mit dem Fahrrad zur Neuapostolischen Kirche am Kreuzweg fuhr. Am Sonntag davor hatte ich dort so enorm viele Leute hineinlaufen sehen. Ich war vielleicht neun Jahre alt, atheistisch, naiv und vor allem davon überzeugt, dass hier etwas spannendes passieren würde. An diesem Sonntag enttäuschte Schortens mich erneut und ich verstand, dass Religion auch keinen Ausweg aus der Einöde bietet. Ungefähr fünfzehn Jahre später hatte ich Friesland im speziellen und dem Landleben im allgemeinen abgeschworen und kehrte nur noch sporadisch zurück. Reicht auch: hie und da entstand gelegentlich ein neues Gewerbegebiet, sonst blieb alles wie eh und je. Wenn dann mal ein Supermarkt neu eröffnet oder eine der beiden Drogerieketten ihre Filiale verlegt, ist das schon Rock'n'Roll für Schortenser Verhältnisse. Es war weder Rock noch Roll, als ich mal wieder vorbeischaute, mal wieder durch die Straßen spazierte, mal wieder nichts passierte. Ich setzte mich in ein Café an der Menkestraße, dem trombotischen Hauptschlagäderchen des Dorfes. Hinter der Theke: Rita, hauptberuflich Hexe. Weiß gar nicht, ob das wirklich ihr Name ist, kann mir aber gut vorstellen, dass Hexen Rita heißen. Während meiner Teenagerjahre leistete Rita sich ein Ding nach dem anderen. Mal akzeptierte sie unsere wochenlang gesparten Groschen nicht als Bezahlung, dann ignorierte sie meine Freunde und mich einen ganzen Abend lang. Von ihrer weinerlichen Stimme und ihrer generellen Abneigung gegenüber positiven Gefühlsäußerungen jeglicher Art ganz zu schweigen. Sie ist der personifizierte Magenbitter, so fröhlich wie ein Kondolenzbuch, so grau wie ein Putzlappen, so spannend wie Mischbrot. Und sie ist unsterblich, das war uns auch schon damals klar. Keine Ueberraschung also, dass sie mich auch zehn Jahre später wieder anwimmerte. Was darf's sein? Mundwinkel Richtung Hölle. "Jever", mit F-Laut in der Mitte, wie man's nur in Friesland weiß. (Hatte in Restdeutschland schon häufig ein Hefe serviert bekommen, weil ich mich weigerte, Jewer zu bestellen.) Ich saß fast allein in dem Café, abgesehen von einem Männerstammtisch, von dem stereotype Stammtischgespräche rüberwehten. „Werder Bremen. Großes Kino letzten Sonnab'nd!“ [...] „Das kommt davon, wenn'ne Frau der erste Mann im Staat is!“ […] „Jou, jou. Jever is das einzige echte Bier. Alles andere is Weiberbier.“ So vorhersehbar. Ich wartete noch auf „Früher war alles besser“, war zum Glück schon sehr betrunken und bezahlte. Mit Kleingeld. Inzwischen war es draußen dunkel und im Dunkeln und betrunken war Schortens ganz gut zu ertragen. Ich spazierte durch das Flussviertel. Jadestraße. Rheinstraße. Weichselstraße links liegen lassen. Auf den Stufen vor dem Bürgerhaus setzte ich mich und schaute mich um. Spießige Vorgärten, perfekt getrimmter Rasen, hölzerne Miniaturwindmühlen als Blickfänger. Ueberdosis Dorfidylle. Ich liebte Schortens nie. Ich legte mich auf den Rücken, Blick nach oben. In meinem Bauch: yeah, Rock'n'Roll. Der Himmel, schwärzer als er in Berlin oder Hamburg je sein könnte, ich fühlte mich wie in einem kitschigen Gedicht von Gerhart Hauptmann. Die Sterne, gleißend, weißend, reißend. Irre viele. Als hätten sie alle abgesprochen, dass sie heute Nacht über Schortens rumhängen wollen. Place to be. Ich liebte Schortens nie, aber hin und wieder ist es doch ganz geil dort. Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden. Und Zeugen weltenvernichtender Wut, Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut. Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten, Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten. Trutz, Blanke Hans. [aus: Detlev von Liliencron Ausgewählte Werke, S. 209. Hamburg: Holsten-Verlag, 1883] Eine kleine Lampe beleuchtete ihr Gesicht unvorteilhaft von der Seite. Sie konnte nicht schlafen, weil sie unaufhörlich denken musste. Um nicht denken zu müssen, las sie. Josefine war keine junge Frau mehr. In ihrem Gesicht aber konnte man noch lesen, wie schön sie einstmals gewesen war. (Ein fremder Mann hatte ihr einmal versprochen, wegen ihr noch viele Sprachen zu lernen. Seine Muttersprache habe nicht genügend Worte, um zu beschreiben, wie bezaubernd Josefine war.) Mehr als fünf Jahrzehnte brauchte das Leben, um ihre Augen mit waagerechten Falten zu schraffieren. Im schummrigen Licht der Lampe warfen sie kleine Schatten. Ihr Haar trug sie inzwischen kurz. Lange Haare, fand sie, schickten sich nicht für eine Frau in ihrem Alter.
Das Zimmer war gerade groß genug für ein Sofa, einen Tisch und ein Regal. Josefine lag auf dem Rücken und horchte in ihr Inneres. Sie hörte die Geräusche in ihrem Magen, die sich anhörten wie Meer, aber Rotwein waren, konnte darüber hinaus aber nichts Beunruhigendes ausmachen. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Josefine lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde keiner es bemerken. In dem Fenster sah Josefine ihr Spiegelbild. Es stand mit trauriger Miene im nächtlichen Dunkel und blickte seinen diesseitigen Zwilling vorwurfsvoll an. „Wo bist du nun gelandet?“, schien es zu fragen. „Hätte man das nicht vermeiden können?“ Josefine wusste keine Antwort. Sie war der Meinung, dass ein bisschen Tragik unvermeidbar sei. Glücklichsein müsse man sich verdienen. Die jenseitige Josefine schien das nicht richtig glauben zu wollen. Ratlosigkeit in beiden Gesichtern. Josefine war siebzehn und hatte langes dunkelbraunes Haar, als sie ihrem zukünftigen Mann begegnete. Im Licht des Tanzlokals wirkte das Haar leicht rötlich, zwei dünne Strähnen von den Schläfen hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden. Er verliebte sich sofort in sie. Sie bemerkte das und fühlte sich geschmeichelt. Ein greiser Mann, von dem man im Dorf munkelte, er habe seit mehr als zwanzig Jahren kein Wort mehr gesprochen, pustete unaufhörlich Zigarettenrauch in die tanzende Menge. Es war warm und stickig in dem kleinen Raum, die Luft roch süß. Josefines Herz schlug im Takt der Musik, als ein Junge aus der nahe gelegenen Stadt sich auf sie zu bewegte. Sie trug eine Bluse, die ihrer älteren Schwester nicht mehr passte. Auf den blauen Stoff war ein weißes Blumenmuster gestickt. In ihrer weiten Hose sah man glücklicherweise nicht, wie ihr die Knie zitterten. Als er sie ansprach, wandte sie ihren Kopf leicht nach unten und lächelte verlegen. Sie gab sich Mühe, mit ihrem Blick einen Punkt am Boden zu fixieren, andernfalls hätten ihre Augenlider vor Aufregung unbändig zu zittern angefangen. (Das taten sie in solchen Momenten.) Das durchdringende Lächeln, das Josefine eigen war, sicherte ihr die sehnsuchtsvollen Blicke aller Jungen im Dorf. Er war allerdings der Erste, der sich traute, sie anzusprechen. Die jungen Verliebten trafen sich heimlich wieder, die Eltern durften von nichts wissen. Die Zeiten waren andere. Doch war es Liebe. Beständige Zweisamkeit. Vor zwei Monaten war Josefine aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen. Was ihr anfangs geschmeichelt hatte, nahm ihr nun die Luft zum Atmen. Die Zweisamkeit war ihr zum Korsett geworden. Und ein Korsett, fand Josefine, schickte sich erst recht nicht für eine Frau ihres Alters. Dass sie ausziehen musste war das Ergebnis einer Rechnung, die Josefine schon häufig aufgestellt hatte. An jenem Tag hatte sie in ihrem Horoskop gelesen, dass alte Rechnungen endlich beglichen werden müssen. Josefine war nicht abergläubisch, aber dass ihr Ehemann zusätzlich noch zwei Tage geschäftlich auf Reisen blieb, war ihr himmlischer Fingerzeig genug. Hals über Kopf, heimlich, still und leise, ohne Glanz und Gloria. Josefine benutzte gerne elliptische Redewendungen, um von ihrem Auszug zu berichten. Bewegungslos saß sie da, auf dem Sofa, das sie nachts zu ihrem Bett umfunktionierte. Es war blau. Tags diente der Raum als Wohnzimmer, nachts als Schlafzimmer. Weil es Josefine wichtig war, in einem separaten Raum Besuch zu empfangen, verzichtete sie auf einen eigenen Raum. Oder soll man seinen Besuch etwa zu Kaffee und Gebäck ins Schlafzimmer führen? Bei dem Gedanken musste Josefine lachen. Eigentlich wollte sie gar nicht, dass Besuch kam. Da war sie nun. Sie saß. Sie verweilte. Sie lebte und atmete. Es fehlte an nichts in der Wohnung, die sie vor zwei Wochen im Übermut des Moments bezogen hatte. Diese Wohnung, die so dunkel war und eigentlich auch etwas zu klein, am Rande der Stadt. Diese paar Quadratmeter hatte sie im Tausch für ihr Korsett bekommen. Hatte sie die Enge vor einigen Wochen kaum benennen können, konnte sie sie nun sehen in den vier Wänden, die ihr so beängstigend nahe kamen. Diese Wände, die eigentlich ihre Freiheit sein sollten, waren ihr nun zuwider. Es war, als habe sie sich selbst in einen Umzugskarton gesteckt. Konserviert von der Welt, ihre Gedanken und Erinnerungen verschnürt und platzsparend aufeinandergestapelt. Verstaut in einer Ecke, damit niemand darüber stolpert. Das entsprach ihrem Naturell: nicht im Weg stehen, niemandem zur Last fallen. Josefine war verzweifelt. Es war nicht die Verzweiflung, bei der man an einer Wegzweigung im Leben ankommt und alle weiteren Wege die falschen wären. Solch eine Situation hätte vielleicht in Panik gemündet, man hätte unter Umständen all die falschen Wege ausprobieren wollen. Nein, Josefines Verzweiflung war von ganz passiver Natur. Sie sah keine Wege vor sich, und so blieb ihr nichts übrig, als in tragischer Pose zu verharren. Auch während ihrer Ehe liebte sie es, abends zu lesen. Traurige Liebesgeschichten. Große Gefühle, dramatische Wendungen, Höhepunkt, irgendwer stirbt. Und Schluss. Lange hatte sie nicht bemerkt, dass sie bloß neben sich hätte schauen müssen, um eine traurige Geschichte zu sehen. Nicht wortwörtlich neben sich, man hatte schon länger getrennte Schlafzimmer. Josefine beanspruchte das Ehebett. Einzelbetten erinnerten sie an Jugendherberge. Und ein Jugendherbergsbett, das schickte sich nicht, fand Josefine. Sie war schließlich keine siebzehn mehr. Sie erinnerte sich noch gut an die Jugendherberge in England, in der sie mit ihrem späteren Mann übernachtet hatte. Josefine war damals zweiundzwanzig, er war ein paar Jahre älter und studierte in einer mittelgroßen Stadt. Josefine war ihm gefolgt und hatte sich eine Stelle in einem Büro gesucht. Viel lieber wäre sie Erzieherin oder Lehrerin geworden. Fürsorglich sein, das lag ihr. Sie mochte die Menschen, die Menschen mochten sie. Doch für solche Träume wollte man in ihrer Familie kein Geld entbehren. Josefine wusste das. Aus diesem Grunde war es von vornherein aussichtslos, ihren Vater danach zu fragen. Sowieso traute sie sich kaum, mit ihm zu sprechen. Dieser Mann duldete keine Sentimentalitäten. Er war griesgrämig und alt und konnte es sich selbst nicht verzeihen, ausschließlich Töchter gezeugt zu haben. Seine Töchter hatten ihn schon mit ihrer Geburt enttäuscht. Wenn er sprach, blickte Josefine ihn mit großen Augen an. Sie hielt ihren Blick gespannt auf ihn gerichtet, genauso wie es Hasen tun, wenn sich ein Jagdhund nähert. Manchmal war es deshalb zu spät, um wegzulaufen. In völliger Ruhe verharrte Josefine, bis der Vater befand, dass es genug der Züchtigung sei. Manchmal weinte Josefine - nicht wegen der Schmerzen. Ihr schossen die Tränen in die Augen, weil sie ihrem Vater so zur Last fiel. Und das war mit Sicherheit nicht ihre Absicht gewesen. Mit seiner Grobheit versuchte der Vater, den Mangel an Männlichkeit in seinem Haushalt auszugleichen. Er war vielleicht zwanzig Jahre älter als seine Ehefrau, so genau wusste Josefine das nicht. Sie hatte ihn nie gefragt. Was für eine dumme Frage das sei, hätte er gerufen. Vor Entrüstung hätten sich die Worte in seinem Mund überschlagen, und ein Tropfen Speichel hätte sich in seinem Schnauzbart verfangen. Jener Schnauzbart - von dem der Vater fand, dass er ihm ähnlich kaiserlich zu Gesicht stand wie einst Bismarck - erinnerte Josefine an ein kleines Nagetier, das nur so dahingaloppierte und sich mit Speichel besudelte, sobald der Vater böse wurde. Als er seine Kinder einmal mit Ratten verglich, die nur darauf aus seien, ihm die Haare vom Kopf zu fressen, hatte Josefine laut lachen müssen. Es amüsierte sie, dass sich eine Ratte darüber echauffieren könne, nur Rattenkinder zu haben. So begab es sich, das Josefine und ihre zwei Schwestern unter den strengen Augen ihres Vaters aufwuchsen. In den Momenten, in denen er außer Haus war, hatte die Mutter Gelegenheit, ihren Kindern ihre warme, mütterliche Liebe zu schenken. Sie liebte sie alle gleichermaßen, Josefine vielleicht ein bisschen mehr. Sie hatte die honigfarbenen Augen und die dunklen Haare ihrer Mutter, während die Geschwister aschblond und blauäugig waren wie der Vater. Als Josefine noch ein Kind war, kam die Mutter gelegentlich in das Zimmer der beiden jüngeren Mädchen, um ihnen vorzulesen aus dem einzigen Kinderbuch, an das sie sich erinnerte. Es war ihr rotes Märchenbuch, und Josefine mochte die Geschichte von dem Mädchen mit den Zündhölzern am liebsten. Seite siebenundsiebzig, das wusste sie heute noch. Manchmal brachte die Mutter für jedes Kind ein Stückchen Schokolade mit. In einem Stofftaschentuch hatte sie das kostbare Gut durch die Wohnung befördert. Während Josefine die Süßigkeit auspackte, begann sie heftig mit den Augen zu zwinkern, als ob sie mit jedem Augenschlag die Zeit hätte festhalten können. Sie erinnerte sich noch heute lebhaft, wie sehr sie ihre Mutter in diesen Momenten liebte. (Um dieses Gefühl zu beschreiben, hätte auch Josefine noch einige Fremdsprachen lernen müssen.) Selten las die Mutter die Geschichte zu Ende. Da sie Angst hatte, dass der Vater aufwachen könnte und böse würde über diese geheime Zusammenkunft, ging sie meist früher wieder zurück in das elterliche Schlafzimmer. Josefine aber wusste, wie die Geschichte ausging: am Ende sahen Mutter und Tochter sich wieder. Der Vater war der Grund, warum Josefine nicht zögerte, zu ihrem Freund in die Stadt zu ziehen, sobald sie volljährig war. Sie wohnten zusammen, sie schliefen zusammen, sie liebten einander. Keine Frage, dass sie auch gemeinsam nach England fuhren. Es war Sommer, sie saßen auf einer Wiese und rauchten. Das tat Josefine normalerweise nicht, aber sie fand, nun wäre der richtige Moment, es auszuprobieren. Als sie fühlte, wie sich ihre Lungen mit Rauch füllten, erschrak sie ein bisschen und begann zu husten. „Es war so beengend. Ich dachte, ich müsste ersticken“, sagte sie und wurde etwas rot vor Scham. (Eigentlich fühlte es sich an, als hätte sie Wolken eingeatmet, und sie mochte die Vorstellung, ein Stück Himmel zu verschlucken.) Beide lachten, und er nahm sie tröstend in die Arme. Wenn auf der Welt alle Menschen wie er lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde viel gedacht und wenig gesprochen werden auf dieser Welt. Es wurde Abend an Englands Küste. Die Luft war klar, und man hörte die Grillen. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich im Wasser, und Josefine befand, dass ihr Leben nach Zuckerwatte schmeckte. (Heimlich liebte Josefine den romantischen Kitsch, den Jahrmärkte ausströmen.) Er nannte sie liebevoll Effi und sprach meistens leise. Sie hatte es gern, wenn er das tat. Seine Stimme war dunkel, und er sprach mit Besonnenheit. Als ob er jeden Satz vorher in seinem Kopf formulierte, abwägte, ob er gut genug sei für Josefines Ohren, und ihn erst dann aussprach. Josefine konnte sich nicht erinnern, ob sie sich jemals wohler gefühlt hatte. Solch eine Erinnerung legt man nicht achtlos zu den anderen. Erinnerungen dieser Art bewahrt man an einem besonderen Platz auf. So kann man sie immer wieder hervorholen, wenn man sie braucht. Dass Josefine ihre schönen Erinnerungen noch häufig brauchen würde, wusste sie damals noch nicht. Der Frohsinn war ihr abhandengekommen. Man hätte die erste Träne sehen können, die über ihre linke Wange floss. Oder die zweite, die sich rechtsseitig dem Kinn näherte. Aber niemand sah sie weinen, Josefine war allein. Es gab also auch keinen Grund, die Tränen anmutig wegzuwischen und die Fassung mit einem letzten Schluchzen wiederzuerlangen. Sie hatte nicht weinen müssen, als sie die Möbel aus dem Haus getragen hatte. Ebenso wenig, als sie ihre neue Wohnung strich und einrichtete. Sie hatte nicht weinen müssen, als sie bei einem Glas Rotwein alleine einen Liebesfilm im Fernsehen schaute. Bei Liebesfilmen zu weinen, fand sie pathetisch und übertrieben. Erst jetzt, zwei Wochen später, überfiel es sie in der nächtlichen Stille. Ihr Schluchzen hallte durch das offene Fenster hinaus, entfernt hörte sie die Sirenen eines Rettungswagens. Ihre Augen blickten starr an die Wand. Als ihr Vater starb, war Josefine zufällig zugegen. Sie vermisste ihre Mutter sehr, und es schmerzte sie, sie mit ihrem Vater alleine gelassen zu haben. Um ihre Schuldgefühle zu tilgen, stieg Josefine einmal monatlich in den Zug und fuhr in ihr Heimatdorf. Das Zugticket bezahlte sie von ihrem kleinen Gehalt. Wenn der Vater es erlaubte, wurde Josefine von ihrer Mutter am Bahnhof abgeholt. An jenem Tage war der Vater seltsam ruhig und machte der Mutter keine der üblichen Vorhaltungen. Auf dem Rückweg vom Bahnhof gingen Josefine und ihre Mutter langsamer als gewöhnlich. Sie wollten die Zeit, die sie ohne den Vater hatten, in die Länge ziehen. (Sie strapazierten die Zeit und die Nerven des Vaters wie den Gummizug einer Jogginghose. Beide wussten, dass das schmerzhaft enden konnte.) In dem Dorf roch Josefine noch den Staub der Fünfzigerjahre, obwohl die Zeit schon um anderthalb Jahrzehnte fortgeschritten war. Durch das Land wehte ein neuer Wind, auf dem unbefestigten Weg zu ihrem Elternhaus bewegte sich kein Blatt. Meistens war Josefine diejenige, die redete. Sie erzählte von ihrem Freund, den sie inzwischen geheiratet hatte. Dass sie in eine größere Wohnung gezogen waren, nun, wo er arbeitete und gut verdiente. Hin und wieder sei er eifersüchtig, sagte sie. Er sorge sich, sie könne ihn betrügen. „So sind sie, die Männer“, lachte die Mutter. „Wir Frauen sind die Ruhigeren, aber im Grunde sind sie diejenigen, die ängstlich sind.“ Aus dem Augenwinkel sah Josefine ihre Mutter nachdenklich lächeln und erkannte darin tiefe Zuneigung. Die Mutter legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. Mit diesem Bild endet Josefines Erinnerung. Zwei Minuten später hatten die beiden Frauen die Wohnungstür aufgeschlossen und den Vater tot in seinem Sessel vorgefunden. Josefines Gedanken daran sind verschwommen. Wie ein Gemälde, das sie selbst nie gesehen hat, von dem ihr aber etliche Male berichtet wurde. Keine Krankheit und kein Leiden hatten ihn gequält. Er war ruhig eingeschlafen, ohne eine Miene zu verziehen. Ebenso wenig taten dies Mutter und Tochter. Ein Vierteljahrhundert später saß Josefine auf ihrem blauen Sofa und ließ Revue passieren, wie man einen Rettungswagen gerufen hatte und sich den Tod hatte bestätigen lassen. Es wurden verschiedene Leute angerufen, das Telefon hatte man erst vor kurzem angeschafft. Josefine erinnerte sich, dass die Mutter all diese Aufgaben ohne Fehl und Tadel erledigte. Sie zeigte keine Schwäche, vielleicht weil es keine gab. Wenn auf der Welt alle Menschen wie die Mutter lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würden sich die Menschen aneinander klammern und vor zu viel Zuneigung erlahmen. Josefine wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich wieder auf ihr Sofa. Sie erschrak, als ihr Roman vom Nachttisch fiel. In der Dunkelheit hatte sie das Geräusch nicht erwartet. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag für diese Jahreszeit. Der Himmel schien ebenso wenig eine Träne für diesen Mann vergießen zu wollen wie dessen Angehörige. Außer jenen vier Frauen war lediglich der Pastor anwesend, der sich nicht mal Mühe gab, dem Anlass eine traurige Feierlichkeit zu verleihen. Erst jetzt bemerkte Josefine, dass ihr Vater keine Freunde gehabt hatte. Nicht nur in seiner Familie war er ein einsamer Mann auf weiter Flur gewesen, auch im restlichen Dorf konnte man ihn nicht so recht leiden. Wenn auf der Welt alle Menschen wie der Vater lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch hätte keiner eine Ahnung, was den anderen bewegte. Es war ein außerordentlich trauriges Begräbnis. Vor allem, weil niemand traurig war. Mehrere Male stand Josefine in dem Wohnzimmer des gemeinsamen Hauses und blickte ihrem Mann ins Gesicht. Er sprach ruhig und langsam, wie er es immer tat, und die Tränen, die sie nun auf keinen Fall weinen wollte, trübten ihren Blick. Nun ja, wenn du das für das Beste hältst. Das tue ich. (Tat sie das?) Josefine probierte, sich die gemeinsamen schönen Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen und sich an ihnen festzuhalten. In ihrem Gedächtnis waren sie so ausgeblichen wie die dazugehörigen Fotos in dem dicken Album mit dem roten Ledereinband. England ´73. Schließlich packte sie jenes Album und ihr übriges Hab und Gut zusammen und zog aus. Der Roman lag noch immer auf dem Boden, als Josefine langsam in Schlaf sank. Sie träumte nicht häufig, zumindest konnte sie sich selten an ihre Träume erinnern. In dieser Nacht sah sie deutlich vor ihrem inneren Auge, wie eine Gruppe Menschen – es waren sicher achtzig oder hundert, und alle waren in Schwarz gekleidet – durch einen Wald lief. Sie sah die Gruppe von oben, als flöge sie über ihr. Unter ihnen erkannte sie ihre Schwestern, die mit den Händen ihre Gesichter verdeckten. Die Ältere trug einen schwarzen Schleier, der eigentlich genau diese Aufgabe hätte erfüllen sollen. Etwas weiter hinten in der Kolonne lief ihr früherer Mann, gefasst und still, wie es seiner Art entsprach. Josefine merkte schnell, dass dies ihr eigener Traum war. Ihr war klar, dass sich all die Menschen eingefunden hatten, um sie beizusetzen. Es war ein grotesker Blick in die Zukunft, der Josefine da zuteilwurde. Grotesker fand sie nur den weißen Sarg, in dem offenbar ihr eigener Körper lag. Weiße Särge fand Josefine geschmacklos. Reinheit und Unbeflecktheit - so eine Lüge. Ein ganzes Leben hatte sie gelebt, sie hatte kleine Schrammen und tiefe Wunden einstecken müssen. Die Höhen und Tiefen, von denen alle redeten – ja, die gab es auch in ihrem Leben. Weiß war also völlig unangebracht, fand Josefine, erst recht für eine Frau ihres Alters. Sie ließ ihren Blick weiter über die Menge streifen. Am Ende des Zuges liefen ehemalige Arbeitskollegen. Josefine war erstaunt, wie traurig sie waren - hatte sie diese Menschen doch nun schon Jahrzehnte nicht mehr getroffen. Wunderlich außerdem, weil sie die Arbeit in dem Büro damals doch zwar gewissenhaft, aber nicht mit Herzblut getan hatte. Weiter vorne liefen ihre Freundinnen, mit denen sie einmal jährlich an die Ostsee reiste. Langsamen Schrittes bewegte sich die Gruppe zu dem Baum, unter dem die geliebte Freundin beigesetzt werden sollte. Josefine fand es eine schöne Idee, in einem Wald bestattet zu werden. Bäume. Leben. Ruhe. Neubeginn. Auferstehung. (Vielleicht wird genau auf ihrer Grabstätte ein neues Bäumchen wachsen.) Die Assoziationen purzelten unkontrolliert durch den Teil ihres Hirns, der für Glückseligkeit verantwortlich war. Friedhöfe hingegen, das waren die Plattenbauten der Toten. Und unter keinen Umständen wollte Josefine je in einem Plattenbau wohnen, nicht einmal im Jenseits. Während ihre jüngere Schwester eine rührende Rede zu ihrem Gedenken hielt, fielen Josefine die zwei Menschen auf, die allen Trauernden vorangegangen waren. Es waren ihre Zwillinge: Junis, ihr Sohn, und Jona, die das Nesthäkchen der Familie war. Jona, die zwar nicht die dunklen Haare, aber dafür eindeutig ihre Schönheit und Anmut von Josefine geerbt hatte, konnte auch während der Rede ihre Tränen nicht unterdrücken. Sie schluchzte so laut und herzergreifend, dass eine dicke Großtante herbeikam und das zierliche Mädchen an ihren stattlichen Busen drückte. Junis, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, ließ sich ebenfalls von einem Mann stützen, der seit jeher ein enger Freund der Familie war. Junis hatte die nachdenkliche Art des Vaters, während Jona normalerweise quirlig war, wie es Josefine einst gern gewesen wäre. In erster Reihe standen die beiden – eigentlich junge Erwachsene. Für Josefine blieben es immer Kinder. Josefine, obschon sie schlief und sich sehr wohl bewusst war, dass sie dies bloß träumte, wäre gerne zu ihnen gegangen, um mit ihnen zu weinen. Auf ihrer eigenen Beerdigung hätte sie die beiden in den Arm genommen und ihnen versichert, wie sehr sie sie liebte. Sie hätte die beiden getröstet, gesagt, dass das Leben auch ohne sie weiterginge. Es war deutlich, dass das selbst im Traum jegliche Logik durcheinandergebracht hätte. Vermutlich ist es nur menschlich, sich seine eigene Beerdigung vorzustellen. Jeder tut es, aber niemand erzählt es. (Niemand?) Man meint die Gedanken nicht ernst, deswegen will man auch niemanden mit dieser traurigen Vorstellung erschrecken. Auf Josefine wirkte die Szenerie jedoch alles andere als traurig. Sie ist eine Mutter. Das war in dem Strom ihrer Erinnerungen völlig untergegangen. Und für eine Mutter, fand Josefine, schickte sich Einsamkeit ganz und gar nicht. Es war keine Vorstellung, sondern die Wirklichkeit, die Junis und Jona erschreckte. Es war den beiden nicht entgangen, dass Josefine Nacht für Nacht wach lag, hin und wieder in die Küche ging, meistens aber einfach nur dasaß und weinte. Die Zwillinge waren fünfzehn Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter aus dem Haus ihrer Eltern auszogen. Instinktiv merkten sie, dass für die üblichen Problemchen eines Jugendlichen nun kein Platz war, und verschoben ihre Pubertät somit auf die Zeit, wenn alles wieder gut werden würde. In ihrer Welt hatte sich merklich nicht viel verändert. Ihr Schulweg war nun ein anderer, und die Zimmer waren kleiner, ansonsten blieb für sie äußerlich alles beim Alten. Jona hatte häufig abends auf der Treppe gesessen und gelauscht, wenn die Eltern stritten. Sie war immer ein sensibles Mädchen gewesen. Als Jüngste der Familie genoss sie stets die Sympathien aller Familienmitglieder. Josefine liebte ihre Tochter so innig, wie sie von ihrer eigenen Mutter geliebt worden war. Junis, der sich trotz der Gleichaltrigkeit als ihr älterer Bruder fühlte, mimte an Jonas Seite den Beschützer. Für den Vater war Jona der kleine Engel, dessen zauberhaftem Gesicht man keinen Wunsch abschlagen konnte. Umso mehr schmerzte es Jona, als sie ihre Familie zerbrechen sah. Junis, der von dem leisen Weinen seiner Schwester aufgewacht war, brachte sie zurück ins Bett. Ganz rational erklärte er ihr, wie die Dinge lagen. Dass Menschen sich nicht ewig lieben könnten, und dass das Leben schon weiterginge. Dieselben Psalmen betete er auch sich selbst vor, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als keinerlei Gefühle betreffend der elterlichen Trennung zu haben. (In demselben Wortlaut beantwortete er auch Fragen nach seinem aktuellen Gemütszustand.) Junis war ein guter Schüler und ein wissbegieriges Kind. Während seine Schwester es liebte, sich draußen mit Freunden zu treffen, blieb Junis in seinem Zimmer und las. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Junis lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde keiner dem Glück trauen und Gründe finden, sich zu streiten. Junis liebte die hauseigene Bibliothek seines Vaters und konnte dort stundenlang stöbern, während der Vater am Schreibtisch saß und arbeitete. Fast jeden Abend war Junis dort, mit seinem Vater sprach er jedoch selten. (Sprechen war nicht ihre Stärke.) Als Josefine ihre Sachen packte, zogen Junis und Jona mit. Es war nicht die Frage danach, wen sie mehr und wen sie weniger liebten, sondern schlichtweg auf wessen Seite sie das Recht sahen. Dass ihre Mutter dieses Recht mit Unglück bezahlte, schmerzte die beiden. Sie verstanden nicht genau, was vorgefallen war, und wussten auch nicht, wie sie sich verhalten sollten. Und weil sie auch nicht viel hätten verändern können, einigten sich die Zwillinge darauf, dass sie sich vorerst aufeinander verlassen könnten. Es war eine Zeit des Alleinseins für alle Beteiligten. Junis und Jona hatten das Glück, diese zu zweit meistern zu dürfen. Junis holte seine Schwester mit dem Fahrrad von Freunden ab, wenn sie bei Dunkelheit nicht mehr alleine fahren sollte. Jona half im Haushalt und setzte sich gelegentlich zu Josefine ins Wohnzimmer, um mit ihr zu schweigen. Gemeinsam regelten die Zwillinge die Kommunikation zwischen Vater und Mutter (Richte liebe Grüße aus. Oder nein, nur Grüße), brachten die Zeitung, die man gemeinsam abonniert hatte, erledigten Botengänge und anfallende Korrespondenz. Jona kam zurück von Freundinnen, als sie probierte, mit ihrem Mobiltelefon ihren Bruder zu erreichen. Er sollte sie vom Bahnhof abholen, es war schon weit nach Mitternacht. Sie war mit ihren Freundinnen in der Stadt gewesen, hatte über Jungs geredet und die Zeit vergessen. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Jona lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde viel geweint werden auf dieser Welt. Draußen war es dunkel, und die Einöde am Stadtrand gruselte sie. Der Weg in die mütterliche Wohnung führte über eine wenig befahrene und unbeleuchtete Straße, und sie traute sich nicht, ihn allein zurückzulegen. Der Bruder antwortete nicht auf ihre Anrufe, und als Jona schließlich das Bahnhofsgebäude verließ, stand sie allein auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie hätte ihn am liebsten verflucht – nein – sie tat es auch. Idiot, flüsterte sie in die nächtliche Stille. Idiot. Idiot. Idiot. Gerade wollte sie einen der Angestellten am Bahnhof bitten, ihr ein Taxi zu rufen, da näherte sich von weitem eine Frau. Sie war recht klein und wippte mit den Hüften, während sie auf Jona zuging. Jona erkannte sie sofort an ihren dunklen Haaren mit dem eigentümlichen roten Schimmer und rannte ihr entgegen. Seit Monaten hatte sich Josefine nicht mehr außerhalb der eigenen Wohnung gezeigt, nun war sie gekommen, um ihre Tochter abzuholen. Als Jona vor ihr stand, lächelte Josefine und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. Vor Freude zwinkerten ihre Augen wie wild. (Das taten sie in solchen Momenten.) Die Segel für die Flucht aus Schortens waren gesetzt und die Winde schienen günstig. Bereits nach fünf Minuten Warten wurden wir nach Oldenburg gebracht. Unser Fahrer machte irgendwas mit Computern, wir beide heuchelten Interesse. Das Gespräch nahm eine ungeahnte Wendung und endete schließlich bei der Russendisko, die er unbedingt mal besuchen wolle. Ein kurzer Moment, in dem mir auffiel, dass uns tatsächlich noch keine Frau mitgenommen hat – trotz vermeintlichem Pärchen-Bonus. Mit dem Bus in die Oldenburger Innenstadt fuhren wir diesmal schwarz, um unsere Weg-Kosten-Rechnung nicht unnötig zu ruinieren. Während wir uns in der Innenstadt mit Freunden trafen, probierten Anne-Marie und ich, eine Schlafmöglichkeit für die Nacht zu organisieren. Außer einem Platz auf nacktem Boden wurde uns jedoch nichts angeboten und wir beschlossen, dass wir auch auf unserem weiteren Weg etwas Aequivalentes finden könnten. Hätten wir bloß da schon gewusst, wie Recht wir damit haben sollten.
Während wir also zwei geschlagene Stunden an der Autobahnauffahrt auf eine adäquate Mitfahrgelegenheit warteten, fielen uns plötzlich eine Menge Dinge ein, die unbedingt noch erledigt werden mussten. Anne-Marie musste beispielsweise dringend Zigarettendrehen lernen (Filterzigaretten wirken zu bourgeois, um zu trampen. Kann in Holland auch sonst von Vorteil sein.), ich hingegen dachte mir aus, wofür einige Kfz-Abkürzungen wirklich stehen. (WTM - Wir töten Menschen, CLP - Christliches Lumpenpack) Nach den oben erwähnten zwei Stunden erlöste uns schließlich Ludwig von der Schmach, unseren Negativ-Warterekord zu brechen und fuhr mit uns nach Leer. Ludwig kam aus Leer, hatte uns bereits vor zwei Stunden mal gesehen und nun Mitleid bekommen. Ludwig sprach mit solch einem starken ostfriesischen Dialekt, dass Anne-Marie sich völlig aus dem Gespräch ausschaltete und ich umso mehr selbigen adaptierte. Wir redeten über Leer und Berlin, probierten Gemeinsamkeiten zu finden und verwarfen diesen Versuch sofort wieder. Ludwig war sympathisch und ich hätte ihn trotz seiner 38 Jahre gerne als Großvater adoptiert. Auch weil ich der Grund war, warum er angehalten hat. „Ich bin nicht schwul, aber nur eine Frau – da hätte ich nicht angehalten. Wer weiß, was die einem dann später anhängt.“ Aus Ludwig schien das Leben zu sprechen und da diese Sympathie offensichtlich beiderseitig aufkeimte, fuhr er uns sogar bis zum Leeraner Bahnhof, an dem er die größten Chancen auf Weiterfahrt vemutete. Außer einer Gruppe Spanier, die versehentlich nicht in den Zug zum Bremer Flughafen eingestiegen sind, und einem Taxifahrer, der das große Geschäft witterte, war weit und breit niemand zu sehen. Hin und wieder fuhren ein paar Jugendliche in ihren tiefergelegten Autos vorbei, um fünf Runden in dem Kreisverkehr zu drehen. Eine junge Frau bot sich außerdem an, uns in die Jugendherberge zu bringen – oder auch früh um 6 Uhr zur niederländischen Grenze. Letzteres nahmen wir an und tauschten Handynummern mit Eyla. Weil auch sonst keiner nach Holland wollte, beschlossen Anne-Marie und ich, die Leeraner Innenstadt zu erkunden. Unsere Müdigkeit hielt uns nicht davon ab, den erstbesten (und vermutlich einzigen) Laden zu betreten. Es war das Jameson's Pub am Mühlenplatz und man kann guten Gewissens sagen, hier brummte der Bär. Die Bandbreite an Menschen war kaum zu übertreffen. Da wäre zum einen Petra, die Dame hinter der Bar, die förmlich darauf wartete, dass endlich jemand ihre groß angekündigten Sommercocktails bestellte. Noch bevor wir einen Schluck nehmen konnten, plauderte sie schon das Rezept aus. An der Bar saß ein Mann, der mit seiner wasserstoffblonden Lockenmähne einer norwegischen Version des frühen Jon Bon Jovi glich; neben ihm Willygo, der zu späterer Stunde noch das Gespräch mit Anne-Marie suchte. „Das ist'ne tolle Locke“, lallte er und meinte ihre Frisur. „Und schöne Augen hast du auch.“ Bevor er noch weitere Körperteile lobhudeln konnte, stand allerdings schon das Taxi bereit, das Petra ihm gerufen hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass, wenn man schon an einem Donnerstagabend in irgendeiner deutschen Kleinstadt stranden musste, es doch wenigstens Leer sein musste. Um kurz vor 3 verließ uns schließlich der Partyesprit und wir schlugen mangels Alternativen in der Bankfiliale gegenüber unsere Zelte auf. Es war unbequem auf dem Fliesenfußboden und angesichts der drohenden Erniedrigung hier vorgefunden zu werden, konnten wir kaum ein Auge zu tun. Ich fragte mich, was meine Mutter nun wohl von dieser Situation finden würde und ob das nicht etwas zu viel des Abenteuers sei. Ich stellte mir vor, wie wir doch einschliefen und am nächsten Tag von der ersten Bankangestellten überrascht werden würden. Ich überlegte außerdem, wie viel ein Taxi von Leer nach Berlin wohl kosten mag. Aber alles half nichts, auch die schlimmste Nacht unserer bisherigen Reise ging vorüber und wir standen um 6 Uhr frisch wie Zahnpasta auf dem Bahnhofsvorplatz, um Eyla zu treffen. Eyla hätte Ludwigs Tochter sein können. Sie war genauso witzig, ohne irgendwelche Pointen betonen zu müssen, der gleiche ostfriesische Singsang. Eyla war viel gereist, immer per Anhalter. „Irgendwann wollte ich eine Woche abschalten in Dänemark. Ich hab dort so viel gekifft, dass ich am nächsten Tag in Paris aufwachte und nicht wusste warum.“ Anne-Marie und ich schauten uns verwundert an ob dieser unerklärlichen Magie. Kurz vor Rhede an der Ems schubste Eyla uns in die Morgendämmerung und empfahl uns das Frühstück „bei Rudi“. Rudi empfahl uns nach dem Frühstück eine geeignete Stelle zum Trampen. Klappte anfänglich eher nicht so gut, aber schließlich nahm ein junger Niederländer uns über die Grenze mit und setzte uns in Winschoten wieder aus. Dort gaben wir unser Bestes, um schnell weiter zu kommen. Die Niederländer schienen anfangs auch tatsächlich freundlicher als die Deutschen; sie winkten, lächelten uns zu und hupten – aber keiner hielt an. Nach einer Stunde erbarmte sich ein Familienvater und fuhr uns nach Groningen. Auch er hatte uns schon auf dem Hinweg gesehen und auf dem Rückweg Mitleid bekommen. Kosten/Strecke: 0€/217km Was wir gelernt haben: Plattdeutsch, von Ludwig Was wir hätten brauchen können: Freunde in Leer Der Besuch bei meiner Mutter verlief wie erwartet. Die anfängliche Freude über das Wiedersehen wurde schnell überlagert von der Oednis, die meinem Heimatdorf eigen ist. Ich zeigte Anne-Marie die gesamte Ortschaft und leitete dann schnell über zu Jever, was wesentlich älter, hübscher und repräsentativer ist. Weil wir das Auto meiner Mutter benutzten, hatte ich die Gelegenheit, meine eingeschlafenen Fahrkünste wieder zu erwecken. In Jever schlenderten wir über die Hauptflaniermeile, kauften Postkarten und suchten Zerstreuung in einem der charmanten Kleinstadtcafés, deren Getränkekarten zwar keine Bionade kennen, dafür aber ausgezeichneten Milchcafé. Wir aßen Labskaus und Matjesfilets zu Mittag, begrüßten jeden mit 'Moin' (Ja. Auch nachmittags.) und fühlten uns wunderbar norddeutsch. Am späten Nachmittag besuchten wir das Schloss Jever, das inzwischen ein Museum beherbergt. Ich hatte die Ausstellung in meiner Jugend zwar bereits gefühlte zwanzig mal gesehen, konnte meiner Heimat aber nun (aus touristischer Distanz betrachtet) wesentlich mehr abgewinnen als damals. Der Besuch an der Nordsee, der der eigentliche Grund für unseren Urlaub gewesen war, wurde wegen schlechten Wetters auf den Abend verlegt. Statt zu schwimmen und uns in der Sonne zu lümmeln, liefen wir bei Dämmerung dick eingekleidet am Strand von Hooksiel entlang. Von weitem hörten wir ein adipöses Kind, das seinen Eltern fortdauernd berichtete, welche Schalentiere es gefunden hatte.
Kosten/Strecke: 0€/47km Was wir gelernt haben: so ziemlich alles über Fräulein Maria von Jever Was wir hätten brauchen können: ein Teleskop für den atemberaubenden Nachthimmel auf dem Land |
weltr/eis/e
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zeit~fliegt
Mai 2018
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