Weil der Fuji für Japan ungefähr das ist, was der Rhein für Deutschland ist, stand ein Ausflug zu Japans höchstem Berg (eigentlich Vulkan) auch für Lilith und mich ganz oben auf der Prioritätenliste. Es gibt tausende Abbildungen des Fuji und unzählige Gedichte, Geschichten und Legenden über den Fuji aus allen möglichen Epochen. In der Shintō-Religion gilt der Berg als heilig (= Fuji Shinkō ist die religiöse Veehrung des Berges) und fast jeder Japaner scheint den Fuji schon mal bestiegen zu haben. Die Yoshida-Route, die Lilith und ich uns ausgesucht hatten, ist auch ein Pilgerweg.
Lilith und ich sind am Donnerstagmorgen früh in Tokyo aufgestanden, um von Shinjuku aus den Bus zur Fünften Station der Subaru-Route zu nehmen (die sogenannten 5th stations der drei Wanderrouten sind ein beliebter Startpunkt, um den Gipfel zu erklimmen. Laut Lonely Planet fangen rund 90 Prozent aller Fuji-Bergsteiger bei einem dieser Punkte an, die auf 2305 Meter über Normalnull liegen und die Punkte 1-5, also den relativ flachen, aber langwierigen Aufstieg vom Fuß des Berges, aussparen.). Als wir die Bushaltestelle an dem recht unübersichtlichen Bahnhof Shinjuku schließlich gefunden haben, guckten wir aber erstmal ziemlich dumm aus der Wäsche: alle Tickets waren schon verkauft, die nächsten Tickets zur Fünften Station gäbe es erst wieder um 15 Uhr. Viel zu spät also, weil wir dann den Auf- und Abstieg auf keinen Fall an einem Tag würden schaffen können. Wir rannten also in den Bahnhof rein, informierten uns fix, wie wir am schnellsten mit dem Zug zu dem Bahnhof Kawaguchiko (Kawaguchi-See, einer der fünf Fuji-Seen, die nördlich des Berges liegen) gelangen und fuhren schließlich mit der Chūō-Linie über Takao und Ōtsuki bis an den Berg heran. Auf der Fahrt bekamen Lilith und ich uns in die Haare, schwiegen uns stundenlang an und beschlossen dann schließlich, von der Fünften Station an unterschiedliche Routen zu nehmen: Lilith wollte unbedingt den Gipfel besteigen und würde somit no matter what den Weg nach oben nehmen, hoffentlich noch am selben Abend wieder den Abstieg meistern und schließlich zurück nach Tokyo trampen. Mir war es hingegen nicht so wichtig, auf dem Berg zu stehen und ich beschloss daher, den nur von echten Pilgerern begangenen Yoshidaguchi-Weg zu nehmen, allerdings dann bergab. Ich würde für die 15 Kilometer lange Strecke etwa 5 Stunden brauchen und könnte so noch den letzten Zug in Yoshida bekommen, um zurück nach Tokyo zu fahren. Auf der Busfahrt von Kawaguchiko zur Fünften Station (die unerhörte ¥1540 kostete und sich zu den ¥1220 addierte, die man trotz aller Ermäßigungs- und Gruppenkarten in jedem Fall für den Sonderbummelzug zu den Fuji-Seen bezahlen musste. Die ganze Fahrt von Tokyo zum Fuji und zurück kostete mich ¥6080 = 43,40€) vertrugen Lilith und ich uns wieder – hauptsächlich weil wir alle anderen Touristen in dem Bus dann doch viel blöder fanden als einander – beließen es aber bei den getrennten Routen. Auf halber Höhe des Fuji schossen Lilith und ich noch ein paar Selfies, ich kaufte mir irgendwelchen Schnickschnack in den Souvenirläden und drei Dosen Bier und dann gingen wir getrennte Wege. Zuerst musste ich etwa einen Kilometer nach Westen gehen, um von der Subaru-Route auf die eigentliche Yoshida-Route zu kommen. Weil das auch für all die Touristen galt, die zum Gipfel gingen und von dort kamen, begegneten mir auf diesem Stück noch recht viele Leute. Alle waren mit Wanderklamotten ausgestattet, manche sogar mit richtigen Pilgerstöcken, was ich super albern fand. Ich hatte mir am Tag zuvor lediglich neue Sohlen für meine komplett abgelatschten adidas-Turnschuhe gekauft und war mir sicher, dass das komplett reichen würde. Alle Leute, die mir entgegen kamen, grüßten mich, was ich zwar seltsam, aber auch total nett fand, weil es mich an mein Heimatdorf erinnert, wo man auch jedem ein herzliches Moin zuruft, der einem begegnet. Daher, in ganz norddeutscher Bergsteigertradition: Moin, Fuji! Als ich schließlich die Abgabelung nach unten nahm, während alle anderen weiter Richtung Gipfel gingen, wurde es plötzlich sehr nebelig und einsam. Ich hing nun erstmal die nächsten paar Kilometer auf Wolkenhöhe ab, zudem war der Berg auf dieser Höhe im Gegensatz zum Gipfel auch noch sehr dicht bewaldet und, wie schon erwähnt, Menschen gab es hier auch eher keine. Erst fand ich es unglaublich großartig, ich rannte völlig allein durch diesen spooky Wald, der so aussah, als sei er seit einigen Jahrzehnten schon von niemandem mehr betreten worden. Ich war glücklich darüber, ganz allein zu sein, denn ich hatte mich ehrlich gesagt auch nicht sonderlich auf die Touristenmassen am Fuji gefreut. Ich öffnete mein erstes Bier und lief weiter durch den Wald. Nach etwa einer Stunde wurde es mir dann doch etwas unheimlich. Dass mir nun so überhaupt gar kein Mensch begegnete, machte mir etwas Angst. Außerdem waren all die Hütten, Brücken, Schreine und Torii, die so am Wegrand auftauchten unglaublich morsch und verfallen. Hier schien wirklich schon länger niemand mehr gewesen zu sein. Was ich erst später gelesen habe: das Waldgebiet, durch das ich gerade lief, heißt Aokigahara und ist vor allem dafür bekannt, dass Japaner dort gerne Selbstmord begehen. (Das tun sie übrigens generell sehr häufig. Mit mehr als 30000 Suizidtoten im Jahr, also einem alle 18 Minuten, hat Japan unter allen Industriestaaten die höchste Selbstmordrate.) Auch sonst ranken sich massenhaft Gruselgeschichten und urban myths um diesen Wald. Außerdem lag die Luftfeuchtigkeit bei gefühlten 350%, zumindest bildeten sich an meinen Wimpern und in meinen Haaren regelmäßig Wassertropfen und auch meine Kleidung war komplett durchgeweicht und klamm. Ich habe mich ja einigermaßen an Japans humiden Sommer gewöhnt, aber hier schwamm ich mehr, als dass ich lief. Zudem stimmte mich die Tatsache, dass es bereits gegen sechs Uhr dunkel werden würde, etwas mulmig, weil ich immer mal wieder in der Ferne irgendwelche undefinierbaren Tiere sehen und hören konnte. Dann schließlich, auf den letzten sechs oder sieben Kilometern, verließ ich die Wolken, der Weg wurde etwas begehbarer und auch der Wald wurde etwas lichter. Das ständige Bergab belastete zwar spürbar meine Gelenke und ich verstand so langsam, warum sich Leute extra Wanderschuhe besorgten, aber ich fand es schließlich unglaublich großartig, nach all dem Trubel in den Großstädten einfach nur durch die Einöde zu laufen. Der Hang wurde flacher und ich fing an, über alles mögliche nachzudenken: mein Leben in Berlin, meine berufliche und private Zukunft, meine Freunde, mein Glück und mein Unglück. Wäre ich ein etwas religiöserer Mensch, könnte man das Erkenntnis nennen. Mein Kopf war voll mit Gedanken und gleichzeitig leer und klar. Ich genoss die Wanderung. Etwa zwei Kilometer vor der Ortschaft Yoshida lief ich bereits eine Weile auf einer großen asphaltierten Straße, auf der immer mal wieder einzelne Autos vorbeifuhren. Ich wollte eigentlich noch Sengen-jinja besichtigen, den ersten Tempel am Fuße des Fuji, hätte aber bei meiner aktuellen Geschwindigkeit nicht mehr genügend Zeit dafür. Deshalb war es ein glücklicher Zufall, dass ein vorbeifahrender Japaner anhielt, mich in seinem Auto mitnahm und mich zu dem Tempel brachte. Ich, noch völlig mindblown von den hinter mir liegenden Kilometern, war sehr berührt davon, dass er mich quasi an die Hand nahm und mir die gesamte Betzeremonie erklärte (Linke Hand waschen, rechte Hand waschen, verbeugen, Münze werfen, verbeugen, Hände falten, klatschen). Die Sonne war bereits untergegangen und die Tempelanlage war menschenleer und spärlich beleuchtet. Dann brachte mich der Mann zum Bahnhof in Yoshida und ich stieg in den Zug zurück nach Tokyo, wo ich erstmal, ganz klassisch japanisch, einpennte. Lilith hat es unterdessen nicht geschafft, den Gipfel noch am selben Abend zu besteigen und musste in einer der unkomfortablen (Schlafsack auf dem nackten Boden) und völlig überteuerten Berghütten (¥5000 pro Nacht = 36€) übernachten. Sie ist früh am nächsten Morgen am Krater der Fuji angekommen, hat dort den Sonnenaufgang gesehen und sich dann auf den Weg nach unten gemacht. Erst irgendwann gegen 14 Uhr am Freitag kam sie schließlich in Tokyo an. Was ich gelernt habe: Wanderschuhe sind nicht nur sehr hässlich, sondern auch nicht zwingend notwendig. Wenn einem all seine Gelenke egal sind, kann man auch ohne Wanderschuhe wandern. Was ich hätte brauchen können: Wanderschuhe Wen ich grüße: Joppie, meinen Hund. Er hätte garantiert den Spaß seines Lebens gehabt auf dem Fuji und ich hätte mich nicht so einsam fühlen müssen. Song des Tages: Voyage, voyage von Soap & Skin („Sur les dunes du Sahara, des iles Fidji au Fujiyama“)
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weltr/eis/e
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zeit~fliegt
Mai 2018
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