„Vielleicht von short – weil es so eine kurze Strecke von dem einem zum anderen Ende des Dorfes ist“, schlug eine auswärtige Freundin vor, als Dorfnamendeuten unser neuester Dorfzeitvertreib war. Sie, als Stadtkind, war immer recht angetan von Nordseeluft und friesischer Natur.
Ich liebte Schortens nie. Laut offiziellen Quellen hat sich der Name Schortens aus einem Familiennamen entwickelt. Peinlich. Bei coolen Städten war das ja eigentlich andersrum. Sowieso war fast alles doof an Schortens: der 219er fuhr so blöde durch das Dorf, dass jede der Bushaltestellen einen mindestens fünfzehnminütigem Fußmarsch erforderte. Kein wirklich shorter Weg für einen Zwölfjährigen, der morgens um sieben an der Haltestelle stehen musste. Blöd waren auch die Straßennamen. Ich wohnte in der Appellandstraße im Inselviertel und fragte mich meine gesamte Kindheit über, ob die acht Einwohner der Hallig Gröde-Appelland wohl wissen, dass es in Schortens eine Straße gibt, die mehr Einwohner hat, als ihr winziges Eiland. Außerdem fragte ich mich, ob es uns die dreieinhalb Millionen Hauptstädter verzeihen, dass sie auf Schortenser Stadtplänen eine Berliner Straße nur in einem lausigen Vorort finden werden. Eine Lübecker Straße hingegen gibt es. In derselben Lübecker Straße gab es einen kleinen Spielplatz, zu dem ich immer fuhr, wenn ich mir am einzigen Kiosk des Ortes eine Bravo und Süßigkeiten holte. Der Spielplatz war selbst für Schortenser Verhältnisse jämmerlich, sodass ich keine anderen Kinder zu befürchten hatte. In meiner Erinnerung war dieser Spielplatz eines der wenigen Dinge, die ich nicht blöd fand an Schortens. In meiner Erinnerung war es auf diesem Spielplatz auch immer Sommer und ich quasi in geheimer Mission unterwegs, denn sowohl Bravo als auch Süßigkeiten waren zu Hause verboten. Ich aß also im Eiltempo die bunten Weingummifiguren auf und schaute mir nebenbei Penisse und Brüste auf den Dr. Sommer-Seiten an. Verwegener Schortenser Teenager, der ich war. Danach schmiss ich die Bravo ins Gebüsch, für die Popstars der ausklingenden Neunziger Jahre hatte ich nun wirklich keine Zeit mehr. Hätte auch nicht für möglich gehalten, dass ich darüber mal glücklich sein würde. Schortens war sogar schon blöd im Mittelalter. In Oestringfelde hatten die mal ein echt wichtiges Nonnenkloster, mit Pferdezucht und allen Extras. Riesending, echt viele Nonnen. Dann kam die Pest, alle Nonnen sind gestorben. Schortens als place to be blieb also ein kurzes Intermezzo. Es passierte dann auch die nächsten paar Jahrhunderte nicht viel, was natürlich auch blöd war. Ich liebte Schortens, wie gesagt, nie. Ich erinnere mich, dass ich an irgendeinem Sonntag mit dem Fahrrad zur Neuapostolischen Kirche am Kreuzweg fuhr. Am Sonntag davor hatte ich dort so enorm viele Leute hineinlaufen sehen. Ich war vielleicht neun Jahre alt, atheistisch, naiv und vor allem davon überzeugt, dass hier etwas spannendes passieren würde. An diesem Sonntag enttäuschte Schortens mich erneut und ich verstand, dass Religion auch keinen Ausweg aus der Einöde bietet. Ungefähr fünfzehn Jahre später hatte ich Friesland im speziellen und dem Landleben im allgemeinen abgeschworen und kehrte nur noch sporadisch zurück. Reicht auch: hie und da entstand gelegentlich ein neues Gewerbegebiet, sonst blieb alles wie eh und je. Wenn dann mal ein Supermarkt neu eröffnet oder eine der beiden Drogerieketten ihre Filiale verlegt, ist das schon Rock'n'Roll für Schortenser Verhältnisse. Es war weder Rock noch Roll, als ich mal wieder vorbeischaute, mal wieder durch die Straßen spazierte, mal wieder nichts passierte. Ich setzte mich in ein Café an der Menkestraße, dem trombotischen Hauptschlagäderchen des Dorfes. Hinter der Theke: Rita, hauptberuflich Hexe. Weiß gar nicht, ob das wirklich ihr Name ist, kann mir aber gut vorstellen, dass Hexen Rita heißen. Während meiner Teenagerjahre leistete Rita sich ein Ding nach dem anderen. Mal akzeptierte sie unsere wochenlang gesparten Groschen nicht als Bezahlung, dann ignorierte sie meine Freunde und mich einen ganzen Abend lang. Von ihrer weinerlichen Stimme und ihrer generellen Abneigung gegenüber positiven Gefühlsäußerungen jeglicher Art ganz zu schweigen. Sie ist der personifizierte Magenbitter, so fröhlich wie ein Kondolenzbuch, so grau wie ein Putzlappen, so spannend wie Mischbrot. Und sie ist unsterblich, das war uns auch schon damals klar. Keine Ueberraschung also, dass sie mich auch zehn Jahre später wieder anwimmerte. Was darf's sein? Mundwinkel Richtung Hölle. "Jever", mit F-Laut in der Mitte, wie man's nur in Friesland weiß. (Hatte in Restdeutschland schon häufig ein Hefe serviert bekommen, weil ich mich weigerte, Jewer zu bestellen.) Ich saß fast allein in dem Café, abgesehen von einem Männerstammtisch, von dem stereotype Stammtischgespräche rüberwehten. „Werder Bremen. Großes Kino letzten Sonnab'nd!“ [...] „Das kommt davon, wenn'ne Frau der erste Mann im Staat is!“ […] „Jou, jou. Jever is das einzige echte Bier. Alles andere is Weiberbier.“ So vorhersehbar. Ich wartete noch auf „Früher war alles besser“, war zum Glück schon sehr betrunken und bezahlte. Mit Kleingeld. Inzwischen war es draußen dunkel und im Dunkeln und betrunken war Schortens ganz gut zu ertragen. Ich spazierte durch das Flussviertel. Jadestraße. Rheinstraße. Weichselstraße links liegen lassen. Auf den Stufen vor dem Bürgerhaus setzte ich mich und schaute mich um. Spießige Vorgärten, perfekt getrimmter Rasen, hölzerne Miniaturwindmühlen als Blickfänger. Ueberdosis Dorfidylle. Ich liebte Schortens nie. Ich legte mich auf den Rücken, Blick nach oben. In meinem Bauch: yeah, Rock'n'Roll. Der Himmel, schwärzer als er in Berlin oder Hamburg je sein könnte, ich fühlte mich wie in einem kitschigen Gedicht von Gerhart Hauptmann. Die Sterne, gleißend, weißend, reißend. Irre viele. Als hätten sie alle abgesprochen, dass sie heute Nacht über Schortens rumhängen wollen. Place to be. Ich liebte Schortens nie, aber hin und wieder ist es doch ganz geil dort.
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Mai 2018
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