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_ Es war wohl ein hübscher Zufall oder das, was man gemeinhin Schicksal nennt, dass diese seltsame blonde Dame am letzten Donnerstag im Hamburger Ego vor mir stand. „Ich bin eine Prinzessin!“, sagte sie. „Trag mir das in meinen Kalender ein.“, sagte ich. Es ranken sich Legenden um die genaue Entstehungsgeschichte unserer Freundschaft, aber zumindest Kapitel II lässt sich an dieser Stelle wahrheitsgemäß wiedergeben.
Es war wieder ein Donnerstag – Schicksal? – und auf der kleinen Bühne der Hasenschaukel stand Donkey Princess, ihres Zeichens musikale Prinzessin des Hamburger Kiezes. Auch die seltsame Blonde von letzter Woche war anwesend. Donkey Princess verstand es vom ersten Moment ihres Konzerts an für andächtige Stille zu sorgen. Ein Glockenspiel, ein Keyboard und ein Metronom sind die Stargäste ihrer spektakulären One-Woman-Show. Etwas lillyallenesk kommt sie daher mit ihrem sloane-speak; die große Hornbrille rutscht ihr gelegentlich von der Nase und das Publikum liebt sie. Nicht bloß so als Floskel, sondern wirklich. Es sitzen Leute auf dem Boden, es ist stiller als bei Mutti unterm Weihnachtsbaum. St. Pauli hat sich versammelt, um zu hören, was Donkey Princess zu erzählen hat. Superheldin auf dem Schlachtfeld der Sehnsucht, sagt der Flyer. Keine Frage. Virtuos covert sie Culture Beat und Rihanna, liefert Selbstgeschriebenes das nach Großartigem klingt und irgendwie besinnlich stimmt. Was ist dieser Mr. Wrong eigentlich für ein Penner?, fragt man sich plötzlich, obwohl das eigentlich schon vor zwanzig Jahren auf der Hand lag. Donkey Princess erinnert mich an eine Grundschulfreundin, die mir früher ihre Marmeladenstullen gab, wenn meine Mutter mich mit Schwarzbrot mit Käse quälen wollte. Genauso ist Donkey Princess: sie gibt uns das süße Zeug, wenn eigentlich grad gar nichts zucker ist. Liebeskummer klingt bei ihr wie Disneyland und plötzlich will man doch probieren Freunde zu bleiben, mit all den Mr Wrongs und Mr. Vains, die einem mal begegnet sind. „Fast fröhlich.“, sagt sie selbst leise. Sie ist nicht nur Prinzessin der alten Schule, sondern auch eine Songwriterin von der man auch jenseits der Hansestadt noch hören wird. Findet die Blonde von letzter Woche übrigens auch. (Käuflich ist Donkey Princess übrigens auch.) _ Brandneu! Metaebene! Jeder hat einen fancy Blog, vielleicht sogar einen hyperfancy Blog. An Klickzahlen bemisst sich, wer lahm ist und wer krasst ist. Hashtag hier - für immer und ewig. Hyperlink da - bis dass der Tod euch scheidet. Krass! Ein 88-jähriger US-Amerikaner hält uns mit seinem Fashionblog auf Trab. Bitter! Der iranische Student hat seit Wochen nichts gepostet. Gewagt! Eine junge Aegypterin fotografiert ihren nackten Körper und sieht nicht ganz glücklich dabei aus. So ist ihre Scham letztlich politisches Statement geworden. Verrückt! Neu! Schön! Makellos! Für jedes Ausrufezeichen stirbt ein Kind in Ostafrika. Super! Mega! Hyper!
Elektronische Träume. Mitten in der Nacht wacht er auf. Berlin, zwei Uhr sechsundzwanzig. Er weiß, dass er nicht talentlos ist, aber diese vielen Gedanken jede Nacht. Legen sich in sein Hirn wie Watte, ziehen sich auseinander, verspinnen sich ins Endlose, verknüpfen und verknoten sich, es ist der Wahnsinn. Hirnfilz. Geniestreich. Weiß er nicht. Draußen fängt es an zu regnen. Er schaltet das Licht in Prenzlauer Berg wieder an und geht in die Küche. Mixer, Mikrowelle, Geschirrspüler, Kühlschrank. Elektronische Träume. Sie leuchten blau. Mit einem Schälchen Reis in der gewölbten Handfläche, die Gabel grad im Mund, läuft er durch seine Wohnung. Nicht zu laut sein, die hysterische Mitbewohnerin könnte wach werden. Hat kein Verständnis für nächtliche Streifzüge über den Dielenboden. Die Verknüpfungen und Verbindungen lassen ihn nicht los. Er und seine Mitbewohnerin. Er und die brünette Kanadieren von letzter Woche. Die brünette Kanadierin und ihr Freund, der auf die Europareise nicht mitkommen konnte. Er und Mina. Er und sein Freund, der kürzlich nach Hamburg gezogen ist. Etwas verbindet ihn mit jedem, trotzdem steht er immer knapp daneben. Er ist der Einzelgänger unter den Individualisten, der wahre Gentleman neben den Konformisten. Er schleicht ins Wohnzimmer und steckt eine willkürlich gewählte Kassette in den Videorekorder. Romantic Comedy aus einer Zeit, in der das Wort Romantic Comedy noch nicht erfunden war. Er nimmt Anlauf, macht einen großen Satz, macht ein Komma, macht einen Punkt. Alle staunen und träumen. Elektronische Träume. Das öde Video flimmert hektisch durch seine Wattewolken, er schaut nicht richtig hin. Fönfrisuren aus den Achtzigern, die die Fünfziger zitieren. Es ist eine virtuelle Ueberflutung. Die schönsten elektronischen Träume stellen sich zu zweit vor der Arche auf, der Rest ersäuft. Weltuntergang statt Badeurlaub. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, nimmt ein Blatt Papier und schreibt seinem Freund in Hamburg: „Ich halte Mina im Arm. Spaeter, nachdem ich einen dunkelhaarigen Grossen und eine Blonde mit Bob angemacht habe, tanze ich mit Mina im Schutz der anderen Gaeste, viele Körper entfernt von unseren Freunden. Ich beuge mich zu ihr herab, will ihr etwas zuflüstern. (Das ü ist der einzige Umlaut, den er mag.) Doch ich bringe nichts hervor und beisse (Er mag das ß nicht sonderlich. Es sieht aus wie ein großes B.) sie stattdessen sanft ins Ohrlaeppchen. Ihre Hand ist irgendwie auf meiner Brust. Dann küsse ich sie auf den Hals. Unsere Lieder sind vorüber, der Tanz ist sinnlos geworden, all meine Gefühle habe ich entlang den Liedzeilen hervorgewispert. Nun war ich leer und wollte gehen. Ich schloss die Augen. Nachbilder ihrer dunklen blitzenden Augen verfolgten mich überall hin.“ Er faltet das Blatt Papier, steckt es in ein Kouvert, befeuchtet den Rand mit der Zunge und schreibt die Adresse seines Freundes auf die Vorderseite. Auf die Rückseite malt er in Kapitälchen CONTAINS POP. _ »Frühmorgens können wir in der Ferne schon sehen, wer am Nachmittag zu Besuch kommt«, sagen die Friesen. »So flach ist die Gegend.«_
_ Mein Leben ist irre langweilig in letzter Zeit. Hat er sich ja selbst ausgesucht, würde der schlaue Analytiker jetzt sagen, mit dem mich anzufreunden ich bisher tunlichst vermieden habe. Ganz Unrecht hätte diese hypothetische Nervensäge allerdings nicht. Der Nebenjob an der Garderobe zweier angesagter Tanzhäuser des Hamburger Nachtlebens sorgt nicht, wie ursprünglich erwartet, dafür, dass ich der coole Szenetyp wurde, mit dem jeder befreundet sein will. Mit einem Euro begleichen die meisten Leute sogar ganz gerne die von mir aufgestellte Milchmädchenrechnung. Schlimmer noch: manche schmeißen ihre Garderobe sogar lieber direkt neben die klebrige Tanzfläche, um mir gar nicht erst begegnen zu müssen. So kam es also, dass ich, während all die hippen Kinder im Erdgeschoss feiern und brüllen und die beste Zeit ihres sowieso schon großartigen Lebens haben, mir im ersten Stock die Eier schaukel. Wer nun denkt, nach Feierabend ergäben sich zumindest noch Gelegenheiten, mit der – im Gegensatz zum Garderobenpersonal – gesellschaftlich wesentlich etablierteren Tresenbelegschaft die Tassen zu heben, irrt. Dank eines zotteligen Meerschweinchens, das bereits seit mehreren Wochen in meiner Wohnung die überzeugende Performance eines kurzbeinigen Hundes vollführt, bin ich auch nach Feierabend gezwungen, fluchtartig das Lokal und jene Kollegen, die einen Aufstieg in die Wochenendelite der Hansestadt bedeuten könnten, zu verlassen. Nach acht Stunden Einsamkeit verlangt das Tier, mit mir um die Häuser zu ziehen, irgendwo hinzuschiffen und die Schiffe derer, die ihm zuvorkamen, zu verköstigen oder sich darin zu suhlen. Bei einem dieser Ausflüge hat er sich irgendwas eingefangen, zumindest entdeckte ich seltsame Pusteln an seinen Hündchenkeulen. Tripper, Syphillis oder irgendwas anderes Rockstarmäßiges schlussfolgerte ich zunächst – bis ich mich sowohl an die Jungfräulichkeit als auch an die fehlende Geschlechtsreife meines Welpen erinnere. Underdog, der er ist, flirtet er nun mit seiner ersten Akne, während die coole Dogge aus dem Nachbarhaus sich wahrscheinlich gerade die fluffige Pudeldame klarmacht. Life is a dancefloor, hat mal irgendein DJ geneunmalklugt. Recht hat er, aber dazu gehören eben auch die pickligen Schwächlinge, die bloß am Rand stehen und zuschauen, wie andere rumschieben. Das sind übrigens auch dieselben, die dann ihre Garderobenmarke verlieren und im T-Shirt nach Hause gehen.
Da mich all meine wirren Tätigkeiten seit längerem nur noch erahnen lassen, was das Wort Biorhythmus bedeutet, bin ich selbst auch recht überrascht mich an einem Montagmorgen um acht Uhr ausgeschlafen in einem Linienbus wiederzufinden. Der Hund hat nach wie vor seine seltsame Hautflechte und ich komme nicht umhin, langsam recht angeekelt zu sein. Am Ende dieser halbstündigen Busfahrt wartet also eine Tierklinik, bei der sich der Hund Linderung seines Juckreizes und ich mir Linderung meines Ekels erhoffe. Die Tierärztin, die ich aufgrund ihres Haarschnitts (halblange, in der Mitte gescheitelte dunkle Haare mit rötlichen Highlights, die kurzen Haare im Nacken keck toupiert) sofort als Lesbe identifiziere, ist freundlich und inkompetent. Zumindest betreibt sie heiteres Krankheitsbilderraten, während ich in dem fehlenden Büstenhalter die Lesbenthese bestätigt sehe. Sie untersucht seine Lenden, verschreibt irgendeine Salbe und diagnostiziert „Pickelchen“. Toll, Sackakne, denke ich und frage mich, wie ich das möglichst imageschonend all den Menschen verklickern soll, die meinen Hund bis vor einigen Tagen noch zuckersüß fanden. Die soeben aufgetragene Salbe leckt er sich bereits auf der Rückfahrt wieder ab, um mir dann kurz vor unserer Haustür auf die Schuhe zu kotzen. Eine vorbeigehende junge Schanzenmutter (mit der einen Hand manövriert sie den Kinderwagen, dessen Inhalt vermutlich so einen wohlklingenden Namen wie Margarethe-Buttercup oder Jimmy Baptist trägt; in der anderen trägt sie einen Grande Chai Latte Low Fat Milk) lächelte mir verständnisvoll zu, als seien wir Komplizen. Vielleicht hat sie recht, denk ich mir. Auch ihr Jimmy Baptist wird mal eine astreine Akne sein Eigen nennen dürfen. Wenn er sich auch so postmodern verhält, wie es sein Name vermuten lässt, vielleicht sogar so eine ordentliche Sackakne wie mein Hund. Ich lächle also zurück und zerre den Hund nach drinnen. Dort überlasse ich ihn und seine Akne ihrem Schicksal. Das Schicksal heißt Flauschi und ist die blaue Decke, an der er sich nun reibt wie ein Spätzünder an seiner ersten Freundin. Er hat der Decke diesen blöden Namen gegeben, mir würde sowas gar nicht einfallen. Und jetzt? Wo bleibt die Pointe? Sag ich ja. Gibt keine. Schon bei dem Gedanken an Kirche fühlen sich die meisten Leute an krude Heiligabende erinnert, in denen fingerkuppengroße Popel noch die interessantesten Protagonisten einer stundenlangen Litanei formten. Ja, Kirche blöd zu finden ist so leicht. Kommt der Papst, backen wir Protestplätzchen. Und dass der Vatikan die letzte absolutistische Monarchie Europas ist, ist ein Fakt, den man bei jeder WG-Küchen-Diskussion unter Kopfschütteln aller Beteiligten loswerden kann. Missbrauchsskandale, Sexualmoral – das Christentum, vor allem die katholische Kirche, ist das Feindbild aufgeklärter Großstädter.
Es ist Sonntagmorgen, ungefähr neun Uhr, als ich über den Vorplatz der Petrikirche laufe, noch die Musik aus dem Klub im Ohr. Ich finde Kirche auch blöd, glaube ich. Eigentlich war ich noch gar nicht so oft da. Aber Kirche findet mich blöd, das liegt auf der Hand. Und wer mich blöd findet, den find ich blöd und die hat schließlich angefangen. Amen. Weil ich komplett übernächtigt bin und kleine Endorphine durch meine Blutbahnen marschieren wie unermüdliche nordkoreanische Arbeiter, kommt mir plözlich die Idee, so ein Gottesdienst sei bestimmt ein witziges Aftershow-Happening. Ich gehe noch kurz nach Hause, um mich umzuziehen, will schließlich nicht underdressed dort auftauchen. Keine Stunde später sitze ich auf einer Holzbank in der Petrikirche, vor mir ein Gesangbuch, hinter mir eine Gruppe Konfirmanden. Der Organist beginnt zu spielen, die Mucke hallt durch die Kirche. Halleluja! Die Bänke sind voll besetzt – war zu erwarten, Eintritt frei, Open Bar. Zugegeben, bisher kannte ich Kirche fast nur aus Erzählungen. Kein Wunder also, dass ich leicht überfordert war mit der traditionellen Choreographie: beim Gebet sitzen, beim Singen stehen, bei der Predigt wieder sitzen, wenn einer Amen sagt, auch Amen sagen. Ist für einen Sonntagmorgen vielleicht auch etwas viel verlangt. Der Pastor redet von Dämonen und Exorzismus. Dass es sein allwöchentliches exorizistisches Ritual ist, sieben Kilometer um die Alster zu joggen. Offensichtlich hat er dabei Bob Dylan auf seinem MP3-Player, denn der wird während der Predigt häufiger zitiert. Richtig Stimmung kommt allerdings nicht auf: die Sängerqualitäten des Pastors lassen stark zu wünschen übrig und die Weißgelockte neben mir knackt fast weg, ich ringe auch mit meiner Müdigkeit. Als ich gerade denke „Naja, man soll gehen, wenn's am Besten...“ weckt mich der Pastor unsanft: „Auch hier im Raum sind Dämonen!“ Ok. Er hat mich. Schweißperlen auf meiner ungetauften Stirn. Gleich werden sie sich alle umdrehen, mit den Fingern auf mich zeigen, im Chor „Ungläubiger!“ schreien und mich dann über die Mönckebergstraße jagen. Auch die Oma neben mir ist wieder hellwach. Angespannte Stille. „Gier, Macht und Krieg. Das sind die Dämonen unserer Zeit.“, konkludiert der Pastor. In den Gesichtern der Gemeindemitglieder lässt sich die Tragödie förmlich lesen. Ich schaue mich um, kann die Dämonen nirgends ausmachen und bin froh, vorerst nicht in seiner Aufzählung vorgekommen zu sein. Charmant leitet er über zum Abendmahl, (bei Heiden heißt das 'Frühschoppen') die durstige Gemeinde versammelt sich vor dem Weinkelch. Schon etwas frech, den Ausschank so lange hinauszuzögern. Zu allem Uebel verlässt der Gastgeber direkt danach die Party. Ein Wink mit dem Zaunpfahl. Die Mitglieder der Kirchegemeinde, einige etwas beschwipst, kamen grad erst richtig auf Touren. Jetzt sehe ich den Gierdämon auch. Der Kelch ist leer und macht auch keine Anstalten sich nochmal nachfüllen zu lassen. Ich gehe raus, hab jetzt auch genug. Der Organist spielt noch einen letzten Song und dann wird’s still. „Vielleicht von short – weil es so eine kurze Strecke von dem einem zum anderen Ende des Dorfes ist“, schlug eine auswärtige Freundin vor, als Dorfnamendeuten unser neuester Dorfzeitvertreib war. Sie, als Stadtkind, war immer recht angetan von Nordseeluft und friesischer Natur.
Ich liebte Schortens nie. Laut offiziellen Quellen hat sich der Name Schortens aus einem Familiennamen entwickelt. Peinlich. Bei coolen Städten war das ja eigentlich andersrum. Sowieso war fast alles doof an Schortens: der 219er fuhr so blöde durch das Dorf, dass jede der Bushaltestellen einen mindestens fünfzehnminütigem Fußmarsch erforderte. Kein wirklich shorter Weg für einen Zwölfjährigen, der morgens um sieben an der Haltestelle stehen musste. Blöd waren auch die Straßennamen. Ich wohnte in der Appellandstraße im Inselviertel und fragte mich meine gesamte Kindheit über, ob die acht Einwohner der Hallig Gröde-Appelland wohl wissen, dass es in Schortens eine Straße gibt, die mehr Einwohner hat, als ihr winziges Eiland. Außerdem fragte ich mich, ob es uns die dreieinhalb Millionen Hauptstädter verzeihen, dass sie auf Schortenser Stadtplänen eine Berliner Straße nur in einem lausigen Vorort finden werden. Eine Lübecker Straße hingegen gibt es. In derselben Lübecker Straße gab es einen kleinen Spielplatz, zu dem ich immer fuhr, wenn ich mir am einzigen Kiosk des Ortes eine Bravo und Süßigkeiten holte. Der Spielplatz war selbst für Schortenser Verhältnisse jämmerlich, sodass ich keine anderen Kinder zu befürchten hatte. In meiner Erinnerung war dieser Spielplatz eines der wenigen Dinge, die ich nicht blöd fand an Schortens. In meiner Erinnerung war es auf diesem Spielplatz auch immer Sommer und ich quasi in geheimer Mission unterwegs, denn sowohl Bravo als auch Süßigkeiten waren zu Hause verboten. Ich aß also im Eiltempo die bunten Weingummifiguren auf und schaute mir nebenbei Penisse und Brüste auf den Dr. Sommer-Seiten an. Verwegener Schortenser Teenager, der ich war. Danach schmiss ich die Bravo ins Gebüsch, für die Popstars der ausklingenden Neunziger Jahre hatte ich nun wirklich keine Zeit mehr. Hätte auch nicht für möglich gehalten, dass ich darüber mal glücklich sein würde. Schortens war sogar schon blöd im Mittelalter. In Oestringfelde hatten die mal ein echt wichtiges Nonnenkloster, mit Pferdezucht und allen Extras. Riesending, echt viele Nonnen. Dann kam die Pest, alle Nonnen sind gestorben. Schortens als place to be blieb also ein kurzes Intermezzo. Es passierte dann auch die nächsten paar Jahrhunderte nicht viel, was natürlich auch blöd war. Ich liebte Schortens, wie gesagt, nie. Ich erinnere mich, dass ich an irgendeinem Sonntag mit dem Fahrrad zur Neuapostolischen Kirche am Kreuzweg fuhr. Am Sonntag davor hatte ich dort so enorm viele Leute hineinlaufen sehen. Ich war vielleicht neun Jahre alt, atheistisch, naiv und vor allem davon überzeugt, dass hier etwas spannendes passieren würde. An diesem Sonntag enttäuschte Schortens mich erneut und ich verstand, dass Religion auch keinen Ausweg aus der Einöde bietet. Ungefähr fünfzehn Jahre später hatte ich Friesland im speziellen und dem Landleben im allgemeinen abgeschworen und kehrte nur noch sporadisch zurück. Reicht auch: hie und da entstand gelegentlich ein neues Gewerbegebiet, sonst blieb alles wie eh und je. Wenn dann mal ein Supermarkt neu eröffnet oder eine der beiden Drogerieketten ihre Filiale verlegt, ist das schon Rock'n'Roll für Schortenser Verhältnisse. Es war weder Rock noch Roll, als ich mal wieder vorbeischaute, mal wieder durch die Straßen spazierte, mal wieder nichts passierte. Ich setzte mich in ein Café an der Menkestraße, dem trombotischen Hauptschlagäderchen des Dorfes. Hinter der Theke: Rita, hauptberuflich Hexe. Weiß gar nicht, ob das wirklich ihr Name ist, kann mir aber gut vorstellen, dass Hexen Rita heißen. Während meiner Teenagerjahre leistete Rita sich ein Ding nach dem anderen. Mal akzeptierte sie unsere wochenlang gesparten Groschen nicht als Bezahlung, dann ignorierte sie meine Freunde und mich einen ganzen Abend lang. Von ihrer weinerlichen Stimme und ihrer generellen Abneigung gegenüber positiven Gefühlsäußerungen jeglicher Art ganz zu schweigen. Sie ist der personifizierte Magenbitter, so fröhlich wie ein Kondolenzbuch, so grau wie ein Putzlappen, so spannend wie Mischbrot. Und sie ist unsterblich, das war uns auch schon damals klar. Keine Ueberraschung also, dass sie mich auch zehn Jahre später wieder anwimmerte. Was darf's sein? Mundwinkel Richtung Hölle. "Jever", mit F-Laut in der Mitte, wie man's nur in Friesland weiß. (Hatte in Restdeutschland schon häufig ein Hefe serviert bekommen, weil ich mich weigerte, Jewer zu bestellen.) Ich saß fast allein in dem Café, abgesehen von einem Männerstammtisch, von dem stereotype Stammtischgespräche rüberwehten. „Werder Bremen. Großes Kino letzten Sonnab'nd!“ [...] „Das kommt davon, wenn'ne Frau der erste Mann im Staat is!“ […] „Jou, jou. Jever is das einzige echte Bier. Alles andere is Weiberbier.“ So vorhersehbar. Ich wartete noch auf „Früher war alles besser“, war zum Glück schon sehr betrunken und bezahlte. Mit Kleingeld. Inzwischen war es draußen dunkel und im Dunkeln und betrunken war Schortens ganz gut zu ertragen. Ich spazierte durch das Flussviertel. Jadestraße. Rheinstraße. Weichselstraße links liegen lassen. Auf den Stufen vor dem Bürgerhaus setzte ich mich und schaute mich um. Spießige Vorgärten, perfekt getrimmter Rasen, hölzerne Miniaturwindmühlen als Blickfänger. Ueberdosis Dorfidylle. Ich liebte Schortens nie. Ich legte mich auf den Rücken, Blick nach oben. In meinem Bauch: yeah, Rock'n'Roll. Der Himmel, schwärzer als er in Berlin oder Hamburg je sein könnte, ich fühlte mich wie in einem kitschigen Gedicht von Gerhart Hauptmann. Die Sterne, gleißend, weißend, reißend. Irre viele. Als hätten sie alle abgesprochen, dass sie heute Nacht über Schortens rumhängen wollen. Place to be. Ich liebte Schortens nie, aber hin und wieder ist es doch ganz geil dort. Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden. Und Zeugen weltenvernichtender Wut, Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut. Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten, Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten. Trutz, Blanke Hans. [aus: Detlev von Liliencron Ausgewählte Werke, S. 209. Hamburg: Holsten-Verlag, 1883] Heute
Das Zimmer ist karg möbliert. In der einen Ecke eine Matratze, mit dem Kopfende zur Heizung. Hier liege ich und atme Staub. Es ist Herbst. Auf dem Dielenboden daneben, meine Kaffeetasse. Ich nehme den letzten Schluck, dünn und bitter. Einen Schreibtisch habe ich vor zwei Wochen aus den zur Nutzlosigkeit verdammten Restbeständen meines Jugendzimmers gerettet. Seit einer Woche steht er unter dem einzigen Fenster des Raumes. Trotzdem sieht er traurig aus. Unter ihm kauert mein Hündchen, die kurzen Hinterbeine wie Schwimmflossen von sich gestreckt, und piselt. „Nein“, krächze ich, richte mich auf und begrüße meinen Kater. Mein Atem riecht nach Wodka. „Nein, nein, böser Hund.“ Er schaut in die andere Richtung und piselt weiter. So richtig kaufe ich mir das ja auch nicht ab. Ich stehe auf, nehme die Kaffeetasse in die rechte Hand, fülle sie zu einem Drittel mit löslichem Kaffee. Ich habe nur diese eine Tasse. Am Boden hat sich bereits eine trockene, braune Kruste gebildet. Während auf dem Herd das Wasser kocht, wische ich mit einem alten Lappen die Pfütze unter dem Schreibtisch weg. Zu keinem höheren Gedanken in der Lage, überlege ich, warum fast alle geläufigen Wörter für „Wasser lassen“ mit P beginnen. PISELN. PULLERN. PINKELN. PISSEN. Dieser Gedanke piselt mir förmlich in meine Hirnwindungen. P ist sowieso ein echt blöder Buchstabe. PROSTATA, fällt mir noch ein und ich muss etwas lachen. Mein Hündchen wedelt mit dem Schwanz und tanzt um mich herum. „Böse, böse“, fluche ich leise und meine damit eigentlich die Uhr, die dreiviertel zwei anzeigt. Gestern Mein Hündchen wedelt mit dem Schwanz, als ich ihn um kurz vor Mitternacht verlasse. Es ist erst zehn Wochen alt und kann sich nicht vorstellen, dass es die nächsten Stunden ohne mich wird überstehen müssen. Eigentlich kann es sich nicht mal vorstellen, dass es die dreißig Sekunden, die ich auf Toilette verbringe, ohne mich verbringen muss. Aus Verlustangst oder aus Loyalität piselt es vor die Badezimmertür und ringt mir so noch fünf Minuten meiner Gesellschaft ab. Ich trage ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte (trés chic!) und wische Hundepisse auf (trashig.). Hündchen schaut mir dabei zu, ich schimpfe nicht. Versteht es ja doch nicht. Einen jungen Hund soll man noch nicht lange allein lassen, rät jeder Welpenratgeber. Hündchen hat noch nie einen Welpenratgeber gelesen und weiß davon nichts. Es legt sich in den Schmutzwäschekorb und weint. Keine zwei Minuten später bermerkt es, dass ihm nun niemand mehr verbieten kann, im Bett zu liegen und hört auf zu weinen. PUTSCH, denkt es jagt auf meinem Kopfkissen seinen eigenen Schwanz, wie es Hunden mit unerfülltem Spieltrieb gefällt. Für Menschen mit unerfülltem Spieltrieb hat man Kreisverkehre erfunden, davon weiß Hündchen jedoch nichts. Die alte Frau Drewes aus der Wohnung unten drunter hatte mal einen Hund, der hieß Flocki. Flocki sah ungefähr so aus wie das Hündchen und weil es das weiß, bellt es nachts hin und wieder – Frau Drewes wird sich darüber freuen. Auch das Hündchen freut sich, aber weil Frau Drewes nicht zurückbellt, verliert es nach einiger Zeit die Lust an seiner freundlichen Geste. Es vergehen Stunden, in denen das Hündchen schläft, hie und da piselt, sich ausführlich Pfoten und Weichteile leckt, sämtlicher Schmutz vom Boden den Weg in seinen Verdauungstrakt gefunden hat. POPEL, denkt es und schluckt, als sich schließlich ein Geräusch an der Wohnungstür ausmachen lässt. Große Freude, das Hündchen springt durch den Raum, traut sich noch nicht zu bellen – es könnte die alte Frau Drewes sein und die wollte es nach ihrer nächtlichen Schweigsamkeit erstmal etwas zappeln lassen, bevor es ihr mit Freudenküssen verzeiht – aber naja, es freut sich halt so, sieht die leere Kaffeetasse neben dem Bett, piselt vor Freude rein. Es will nun, beinahe von seiner Einsamkeit erlöst, schließlich nicht so gemein sein und nochmal den nackten Dielenboden beschmutzen. Außerdem weiß es schon selbst kaum noch, wohin es treten soll. PFUeTZE. PFUeTZE. Ueberall. Egal, ich betrete den Raum, schimpfe doch nicht, bin ja auch viel zu betrunken. Hündchen springt und hüpft, PURZELBAUM, quiekt, hat selbst schon nicht mehr geglaubt, dass ich zurückkomme. Hat schon verzweifelt probiert, seine Urinstinkte zu reaktivieren, als wilder Wolf in der Großstadt zu überleben, musste selbst ein bisschen lachen. Dafür erstmal das lächerliche rote Halstuch zerbeißen, mit der Glaubwürdigkeit fängt's nämlich an. Ich trage das Hündchen auf dem Arm die Treppen runter und gehe nochmal mit ihm vor die Tür. Natürlich piselt es. Es piselt und freut sich, als ich es ausschweifend lobe. „Fein! Fein!“, hauche ich ihm zu und mein Atem erzählt Kneipengeschichten. Punkt sieben Uhr, zurück in der Wohnung. Ich lege mich komplett bekleidet auf die Matratze, stelle die Kaffeetasse etwas zur Seite. Warme PLOeRRE, flüstere ich, als das Hündchen schon schläft. nachtluft hat einen seltsamen geschmack | raum, um zu atmen | zeit, um zu genießen | bis der morgen mich wütend macht |
Iip weeter | Auf dem Wasser
wait uurs en win. | weht ein anderer Wind. Stel lait deät Lun | Still liegt die Insel uun siin iaarem. | in seinen Armen. Deät djef fel oarten, | Es gibt viele Arten, de swoorkraf tu beluurn. | der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen. [aus: Reimer Eilers Schleswig-Holstein im Gedicht. Husum: 1995.] Neunundfünfzig Minuten. Neunundfünfzig Sekunden. Die Zeitanzeige blinkt rot auf, die Trommel setzt sich in Bewegung. Langsam drehen sich die Farben hinter dem runden Glas. Meine Waschmaschine heißt Erna und wir kennen uns schon eine Weile. Erna ist eine waschechte Kreuzbergerin und walzt in ihrer behäbigen Schweigsamkeit unaufhörlich meine Kleidungsstücke durch. Sie verdaut sie. Dreiundfünfzig Minuten. Achtzehn Sekunden.
Durch die großen Fenster schaue ich in die Kreuzberger Nacht. Es ist Frühjahr. Ein Mann in einem speckigen, braunen Mantel läuft die Ohlauer Straße entlang. Der Mantel ist ihm zu groß. Bestimmt hat der Mantel einmal einem dicken Mann gehört. Er läuft auf die Spree zu. YOU ARE LEAVING THE AMERICAN SECTOR. ВЫ ВЫЕЗЖАЕТЕ ИЗ АМЕРИКАНСКОГО СЕКТОРА. Ich sehe ihn kaum, das Halogenlicht des Waschsalons schluckt das Düster. Ein steriler Raum aus weißen Fliesen, es riecht nach Aprilfrisch oder Lavendeltraum. Eine groteske Fliegerstaffel aus Motten greift die Fensterscheiben an. Ein verlorener Kampf in schlecht sitzenden Uniformen. Der Mann breitet die Arme aus und ist mehr Tier als Mensch. Kriegerleid. Einsamkeit. Dunkelheit. Ein kurzer Blick, den ich mehr ahne als sehe, und er ist verschwunden. Es ist kurz vor elf, als du den Waschsalon betrittst. Deine Augen sind etwas geschlossen, als seist du müde. Du trägst einen gelben Pullover aus Wolle, der am linken Aermel leicht aufgeribbelt ist und ich weiß, dass wir nun zusammen gehören. Ich bin mir sicher, du weißt es auch. Du siehst mich auf meinem Stuhl sitzen, eine Zeitschrift in der Hand. Desinteresse vorgetäuscht, den Hut in die Stirn gezogen, meine Augen haften an dir. Du siehst meine Wäsche und du siehst Erna. Sie dreht sich. drehtsich. dehrstich. dhrestcih. rhdestchi. Ich trage roten Lippenstift und schäme mich nun etwas dafür. Zweiundvierzig Minuten. Null Sekunden. Akribisch füllst du deine Maschine Stück für Stück mit deinen Kleidungsstücken. Sie heißt Clara. Rosenblüte. Einkaufstüte. Damenhüte. Es wirkt banal, wie ich dich so sitzen sehe: groß, dunkelhaarig, ruhig, keine fünf Meter von mir entfernt. Ich stelle mir vor, wie es ist dich zu berühren. Wie zwei dicke Opernsängerinnen füllen Erna und Clara die Szenerie, in der wir nur Hintergrund sind. Mir kommt in den Sinn, dass es unmöglich ist, nur saubere Wäsche zu haben. Während ich hier mit dir sitze, du mich anschaust und ich dich nicht, fühle ich mich schmutzig. Die vulgären Geräusche der Waschmaschine, das etwas zu frivole Rot meines Lippenstifts und mein lächerlicher Hut – all das verschmutzt diesen Moment, den ich mir zuvor etliche Male jungfräulich und weiß vorgestellt habe, allerdings nicht fliesenweiß, halogenlichtweiß oder waschmittelweiß. Schmutzig, grell und profan kommt mir dieser Moment plötzlich vor und mir wird klar, dass es tatsächlich unmöglich ist. Um schmutzige Wäsche zu waschen, trägt man besser nicht seine weißeste Weste. Ungesehen landet etwas Staub auf meinem Äermel. Sechsunddreißig Minuten. Zwölf Sekunden. Später erzählst du mir, dass sie dir unangenehm waren. Die Blicke, die ich dir nicht schickte. Tagträume. Lavendelschäume. Freizeiträume. Es ist genau elf Uhr, als sich die Tür des Waschsalons automatisch schließt und die Dunkelheit draußen einsperrt. Wir erschrecken beide und lächeln einander zu. Deine Zähne sind faszinierend weiß, unter den Augen hast du dunkle Ringe. Es ist ein paar Sekunden nach elf Uhr, als ich mich nicht mehr frage, ob das nun der Moment sei, den ich mir vorgestellt habe, ob ich nun bereit dafür sei und ob er sich verschieben lasse. Momente haben die seltsame Eigenschaft einfach zu passieren. Plötzlich ist er da, unangekündigt und achtlos in mein Leben geworfen. Vorsichtig fasse ich ihn an und er ribbelt auf. r i b b e l t a u f. r r b b b l t t a u f f f. r r r b b b b t t t t f f f f. Fünfunddreißig Minuten. Neununddreißig Sekunden. Während Clara noch verdaut, Säfte mischt, sich aufbläht und rumort, verlässt Erna die Bühne und lässt mich in unangenehmer Schweigsamkeit zurück. Scheinwerfer an! Aus der hintersten Ecke des Waschsalons kämpfe ich mich ins Rampenlicht und räume Socken und Slips in meine Tüte. Es ist die Rolle meines Lebens und du bist mein Publikum. Du bist mein Szenenapplaus, meine lobenden Kritiken. Du bist der Heulkrampf während der Generalprobe. 'Wir' ist geboren. Wir sind geboren. Lampenfieber. Nichts tät' ich lieber. Ich seh' dich wieder. ~~~ Ein Sommer an Seen, Tage vergehen. Eng verwoben. Nicht Unten. Nicht Oben. Beinahe ein Kuss. Zerbrochen. Schluss. ~~~ Es ist Herbst, ich trage ein Jackett mit bunten Aufnähern. Es ist kurz vor elf, als du die Lobby des Hotels am Kurfürstendamm betrittst. Deine Augen sind etwas geschlossen, als seist du müde. Du trägst den gelben Pullover aus Wolle, der am linken Aermel leicht aufgeribbelt ist und ich weiß, dass wir nicht mehr zusammen gehören. Ich bin mir sicher, du weißt es auch. Auf dem Boden liegt roter Teppich, die cremefarbenen Wände sind mit Gold verziert. Ich denke an Marie Antoinette und ihre Guillotine und bekomme Kopfschmerzen. Zweiundzwanzig Minuten. Siebenundfünfzig Sekunden. Kürzlich erzähltest du mir, dass du auf der Volkshochschule Französisch lernen möchtest. Rien ne va plus. Tout est perdu. Salut. Zwischen uns tanzen ein paar Dutzend Menschen zu elektronischer Musik. Ich weiß nicht, ob du mich schon gesehen hast. Für dich habe ich den roten Lippenstift aufgelegt, der dir so gefällt. Du tanzt auch, unbeholfen und fast unsichtbar. Jede deiner Bewegung wirkt so, als hätte sie einen Moment vorher passieren müssen. Ich will dir nicht sagen, wie schön unser Sommer war. Ich verschweige, wie hübsch du bist, wenn du schläfst. Auch deine tiefe Stimme lasse ich unerwähnt. un. erwähnt. Verdammt. Ich kann dich nicht gehen lassen. Der Moment entweicht mir. Tanz weiter! Tanz für mich. Achtzehn Minuten. Eine Sekunde. In der Ferne leuchtet etwas rot. Mein Lippenstift ist verschmiert. Ich sitze in einer Ecke, ziehe an meiner Zigarette und warte auf unsere Wiedergeburt. Am anderen Ende des Raumes sehe ich dich und tanze heimlich mit dir. Ich hoffe, du magst es. In deinem gelben Pullover bewegst du dich arhythmisch zu der Musik, die nun etwas traurig wirkt. Mit deinen Händen formst du Luftschlösser. Es scheint dunkler geworden zu sein, denn ich kann dein Gesicht nicht mehr erkennen. Neben mir sitzt ein schwules Pärchen, das sich gerade erst kennengelernt hat. Sie küssen sich wild, öffnen die Augen kaum. Es ist ihr Moment und keiner probiert ihn zu fassen. Unbeachtet von der Menge findet er statt, dieser Moment, am Rande der Tanzfläche. Ich werfe meine abgebrannte Zigarette direkt daneben. Fünfzehn Minuten. Vierundzwanzig Sekunden. Beide Jungen denken darüber nach, ob sie sich morgen wiedersehen. Sie hatten noch gar keine Zeit, sich einzurichten in ihrer Zuneigung. Meistens finde ich es unangenehm, wenn alles nur provisorisch ist. Ein penetrantes Zwicken an der Stelle auf dem Rücken, die man so schwer kratzen kann. Wir sind schon lange nicht mehr provisorisch. Perfekt ausgeleuchtet stehen wir in einer Vitrine, von Staub befreit, bewegungslos wie die geschmacklosen Zinnsoldaten meines Großvaters. Luftdicht. Blitzlicht. Atme nicht! Fertig, um bestaunt zu werden. Bauch rein und stillgestanden! Du hast mir mal erzählt, dass du früher mit Schulfreunden gewettet hast, wer am längsten die Luft anhalten kann. Hast du gewonnen? Elf Minuten. Dreiundfünfzig Sekunden. Ich zünde mir noch eine Zigarette an, der Rauch brennt in meinen Augen. Inzwischen hast du mich gesehen, wir sprechen mit Blicken. Die dumpfen Bässe liefern die Untertitel. Netzhaut. Umlaut. Weggeschaut. Seltsam, denke ich, dass sich nachts verschiedene Leute in einem schlecht beleuchteten Raum treffen, um sich zu Geräuschen zu bewegen. Was ist Tanzen eigentlich für eine komische Beschäftigung? Einem Mädchen läuft der Schweiß über die Stirn und eine Träne über die Wange. Ihr ganzes Gesicht regnet. Sie probiert zu lachen, ihr Lippenstift ist völlig verschmiert. Der lächerliche Hut, den sie trägt, gibt der Tragik ihre Perfektion. Sie merkt es nicht. Ihre Zigarette ist halb abgebrannt und ständig schaut sie auf die Uhr. Sieben Minuten. Vierundvierzig Sekunden. Es ist die Nacht, um verwirrt zu sein. Die Nacht, um die Wahrheit zu beschleunigen. Vier Hände haben einen Schwur geleistet, der seit heute Nacht nicht mehr gilt. Aus den Boxen brüllt eine Frauenstimme die tanzende Menge an, die antwortet mit berauschter Glückseligkeit. Das Mädchen schließt die Augen, das Mädchen bin ich. Du kommst auf mich zu, stehst vor mir, berührst mich nicht. Zwei Minuten. Fünfundfünfzig Sekunden. Das Stroboskoplicht wirft Blitze durch den Raum, die Musik dröhnt in meinen Ohren, alle tanzen. Ich tanze mit, wild und hemmungslos, es ist der letzte Moment vor dem Vergängnis. Eine Minute. Dreizehn Sekunden. Dein Mund bewegt sich, ich weiß, was du sagst, aber ich höre es nicht. Null Minuten. Vierundfünfzig Sekunden. Du schießt auf mich mit Blicken, einer streift mich am Arm. Null Minuten. Dreiunddreißig Sekunden. Ich glaube, ich bin verletzt. Null Minuten. Siebenundzwanzig Sekunden. Geh ohne mich weiter, rette dein eigenes Leben! Null Minuten. Zwanzig Sekunden. Du hältst meinen Kopf fest und dein Mund ist ganz nah an meinem Ohr. Null Minuten. Sechzehn Sekunden. Ich spüre deinen Atem. Null Minuten. Zwölf Sekunden. Ich will dich umarmen, aber ich traue mich nicht. Null Minuten. Neun Sekunden. Noch eine Träne. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Null Minuten. Sechs Sekunden. Eine Indianerin auch nicht. Null Minuten. Vier Sekunden. Du öffnest deinen Mund und ich höre, was du sagst. Null Minuten. Zwei Sekunden. „Es ist vorbei.“ Null Minuten. Null Sekunden. „Der Schwielow ist gutmütig, so sagten wir; aber wie alle gutmütigen Naturen kann er heftig werden, plötzlich, beinahe unmotiviert, und dann ist er unberechenbar. Eben noch lachend, beginnt ein Kräuseln und Drehen, nun ein Wirbel, ein Aufstäuben, ein Gewölk – es ist, als führe eine Hand aus dem Trichter, und was über ihm ist, muß hinab in die Tiefe. Es gibt ganze Linien, wo die gescheiterten Schiffe liegen.“ aus Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg.
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Mai 2018
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