Nächte im Berghain sind lang und exzessiv. Der Blogger Airen hat daraus einen erstaunlich gefühlvollen Roman gemacht. Das Berghain ist dreckig, verdrogt und dekadent. Immer mal wieder schleichen sich die Feuilletonisten verschiedener Blätter durch die schummrigen Gänge des Friedrichshainer Klubs, um wenig später der abendländischen Kultur den Tod durch Überdosis zu prognostizieren. Nicht nur, dass der damals siebzehnjährigen Helene Hegemann im Jahr 2010 von den strengen Türstehern der Einlass gewährt wurde, sondern dass sie auch noch die Seiten ihres Debütromans Axolotl Roadkill mit dem dort erlebten Exzess füllte, wurde dementsprechend kontrovers diskutiert. Als herauskam, dass die Textstellen beinahe unverändert aus dem Roman Strobo von dem Berliner Blogger Airen übernommen wurden, war sich die Kritikergarde überraschend einig: das für seinen authentischen Stil gelobte Wunderkind muss nun mit seinem Gesicht herhalten für einen pervertierten Berliner Kulturbetrieb. Die metaphorischen „eimerweise Scheiße“, die im Folgenden auf Hegemann niedergingen, galten somit indirekt auch dem Berghain und Airen, beide gesichtslos. Allen dreien tut man damit Unrecht, denn Airens Wochenenden im Berghain sind neben all dem Dreck, den Drogen und der Dekadenz nämlich vor allem eins: ziemlich deep. Deepes Glück fühlt man, wenn man mit dem Ich-Erzähler auf das Einsetzen der dröhnenden Techno-Beats wartet. Dieses absurde Gemeinschaftsgefühl, das nur eine Gruppe tanzender Samstagnachtgestalten fühlen kann. Die Stille dazwischen, in der der Protagonist kurz einen wildfremden Menschen anschaut und sie gemeinsam hoffen, dass der Moment nicht vorbeizieht. Wobei „vorbei“ eines der Wörter ist, das in Airens tagebuchartigen Aufzeichnungen äußerst selten vorkommt. Irgendwas kommt schließlich immer nach dem Ende. Und etwas anderes hinter dem Danach. Was sich anfangs noch als wilde Selbstzerstörung liest, fängt schnell an Spaß zu machen, weil es auf eine groteske Weise auch sehr lebensbejahend daher kommt: alles soll immer weiter gehen, immer schneller und plötzlich ist man mittendrin, in Airens Trip. Man will die Lektüre beschleunigen, findet die Leerzeichen vor den Wörtern plötzlich genauso unerträglich, wie der Protagonist die Ruhe vor dem Beat. Klar wird gefummelt und gefickt, geklaut und gekokst, aber das ist im Grunde nebensächlich. Es sind die großen Gefühle, die hängen bleiben: der Tag danach zum Beispiel, das quälende Depri-Kapitel nach dem grenzenlosen Exzess, die deeptraurigen Zeilen. Airen beschreibt die klaffende Leere am Montagmorgen so echt und existenziell, dass es einen friert. Wer bis hier hin gelesen hat, ohne selbst schon im Berghain gewesen zu sein, der wird jetzt auch nicht mehr hinwollen. Wunderbar abgefuckt sind auch die verschiedenen Figuren, die der Protagonist auf seinen Wegen durch das Berliner Nachtleben trifft. Seine romantische Begegnung mit einer namenlosen, rothaarigen Italienerin, die auf der Berghain-Toilette ihr Speed mit ihm teilt, wirkt tatsächlich auch auf den nüchternen Leser genauso rührend. Mit dem Netten Fucker, regelmäßig noch mehr zugedröhnt als Airen selbst, wäre man selbst fast gern befreundet, weil er, nunja, eben so ein verdammt netter Fucker ist. Wo Literatur sonst probiert, das gestern und morgen zu analysieren oder das heute zu dokumentieren, lebt Strobo vom Understatement: echt ist, was sich echt anfühlt. Airens Strobo blendet deeper als die Sonntagmittagssonne über der Panorama Bar und ist aufregend wie letzten Meter vor dem Türsteher. Mit diesem Roman hat Airen 250 Gramm pure Popliteratur geschaffen, von der man nur schwer lassen kann, wenn man sie einmal in die Hände bekommen hat. Das ist zwar zu wenig, um gleich die gesamte abendländische Kultur untergehen zu lassen. Aber genug, um sie auf einen echt guten Trip zu schicken.
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Mai 2018
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