Mein Tagebuch 23., 24. und 25. November 2012 Lenzen (Elbe), Brandenburg Pevestorf, Niedersachsen Lüchow (Wendland), Niedersachsen Kussebode, Niedersachsen Hitzacker (Elbe), Niedersachsen
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Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier. Ich steige am Alexanderplatz in den RE1 nach Frankfurt (Oder) und habe zwei Bücher dabei. Das Erste hat mein Vater mir geschenkt, es heißt Berlin – New York und ist eine Kolumnensammlung von Alexander Osang. Das Zweite schenkte mir ein guter Freund mit einer ausgeprägten Osteuropaaffinität, trägt den Titel Berlin – Moskau und ist ein Reisebericht von Wolfgang Büscher. Berlin ist die Mitte der Welt, könnte man denken und zumindest im Zug nach Frankfurt (Oder) denkt das sicherlich jeder. Die Braut zwischen den Bräutigamen New York und Moskau. Es ist aber eher so: Berlin ist der Treffpunkt von West und Ost, da spricht die Geschichte für sich selbst. Die Buchtitel Berlin – Kapstadt und Berlin – Murmansk erscheinen mir dann auch gleich etwas weniger auf der Hand liegend.
Osangs Berlin – New York bekam ich unverhofft von meinem Vater aus der westdeutschen Provinz geschickt, aus der ich auch selbst stamme. Osang für seinen Teil ist ein Ossi, den es nach Westen zog. Bei Büscher ist es genau andersrum: er ist ein Wessi, der sich zu Fuß auf den Weg nach Osten macht. Über zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer sind Westen und Osten in meinem Alltag mehr als bloße Himmelsrichtungen und offensichtlich auch der Buchbranche die eine oder andere Publikation wert. Mein Lebenslauf ist durchweg Westen, sinniere ich. Die friesische Heimat: tiefster Westen. Meine Kreuzberger Wohnung: knapp Westen. Studium der Niederlandistik: wide, wild west. An der Freien Universität: mit der U3 raus Richtung Westen. Mein Zug fährt gerade in Berlin-Ostbahnhof ein. Die Millionenstädte Berlin und New York werden bei Osang als konträre Antonyme dargestellt: seine etwa dreiseitigen Erzählungen finden entweder in der einen oder in der anderen Stadt statt. Selten im Flugzeug dazwischen, hin und wieder ganz woanders. Er erläutert dann auch an einer Stelle selbst, dass der Buchtitel etwas irreführend ist. Der Clou an den Texten ist natürlich, dass der in der damaligen DDR geborene und sozialisierte Osang aus der inoffiziellen Hauptstadt der westlichen Welt berichtet. Er reist von Osten aus an und nur aus dieser Richtung, so scheint es, kann die Opposition zu New York funktionieren. New York, sonst oft stilisiert zu einem märchenhaften Über-Ort, Topos für Generationen von Träumen, erhaben von allen Zuordnungen, ist für Osang häufig doch einfach nur Amerika, der Westen oder schlicht Nicht-Berlin. Alexnder Osang ist der John Wayne der letzten Sätze und allein für diese letzten Sätze lohnt es sich, seinen teils wirren Gedankengängen zu folgen. Dass Büscher in Westdeutschland geboren und aufgewachsen ist, erschließt sich aus der Lektüre seines Reiseberichtes kaum. Im Gegenteil: die intensive Auseinandersetzung mit allerlei seltsamen polnischen, weißrussischen und russischen Figuren legt nahe, dass er zumindest einer slawischen Sprache mächtig ist. Seine Erzählung folgt chronologisch den Etappen seiner Reise, die Kapitel markieren die Grenzübergänge. Auch ich überquere gerade eine Landesgrenze, als mein Zug in das brandenburgischer Erkner einfährt. Über dieselbe Route verließ auch Büscher Berlin. Wortgewandt und geistreich beobachtet er Landschaft und Leute, macht die Geschichte zu Geschichten und hinterlässt den Leser einige Male mit dem Gefühl, dass seine Reise durch das osteuropäische Nibylandia so grotesk und sagenhaft wohl kaum wirklich vonstatten gegangen sein kann. Büscher blickt häufig zurück, nach Westen, nach Berlin, viel häufiger aber schaut er nach vorn, nach Osten, wo Moskau die gesamte Erzählung über still leuchtet wie ein schwer zugänglicher Stern. Berlin und Moskau sind in Büschers Erzählung dann auch eher graduelle Antonyme: mit jedem Schritt, den er sich von Berlin entfernt, wird es etwas moskauischer, mit jedem Schritt, den er sich Moskau nähert etwas weniger berlinerisch. Während wir Fürstenwalde erreichen, probiere ich ebenfalls nach vorn, nach Osten zu schauen. Studium an der Viadrina: klar, Osten. Meine Freunde: aus’m Osten, die meisten. Die Sommerurlaube meiner Kindheit: im Osten, kurz nach der Wende. Das Päckchen polnische Zigaretten in meiner Hosentasche: Ostenosten. Osten, das ist so ein Wort, das will man gern von sich wegschieben. Ich bin in einem Landstrich großgeworden, der geographisch zu Ostfriesland gehört, aber wenn mich jemand darauf anspricht, bestehe ich auf „Friesland“, obwohl das namensgebende Friesland weit westlicher, jenseits der niederländischen Grenze liegt. Und für die Niederländer sind wir sowieso alle Ossis. Ich habe mal gelesen, dass es ein keltisches Volk auf den Britischen Inseln gibt, das die Nordsee „Ostsee“ nennt, was ja nur logisch wäre. Die Abgrenzung nach Osten ist wichtig und Hauptsache, man gehört selbst nicht dazu. Westen ist zwar nicht per se gut, aber Osten ist irgendwie marode und rückständig, so viel steht fest. Auf Osten reimt sich „rosten“ und „Pfosten“, auf Westen reimt sich „Cowboy“. So erzählt man sich das. Dabei kann ja nicht alles Westen sein, eigentlich kann gar nichts Westen sein. Auch New York ist Osten, wenn man einen Texaner fragt. Das tut nur eben keiner. Büscher beschreibt das so: „Der Osten ist etwas, das keiner haben will. Das sich jeder von der Jacke schnippt wie Vogeldreck. Die Ostjacke verschenken alle gern, sie wird in östlicher Richtung weitergereicht. Hatte ich in Brandenburg gefragt, wo der Osten anfange, war die Antwort gewesen: drüben in Polen natürlich. Frage ich in Polen, hieß es: Der Osten fängt in Warschau an, na ja, im Grunde gehört Warschau schon dazu. Man versicherte mir, Westpolen und Ostpolen, das könne man nun wirklich nicht vergleichen, das sei doch etwas ganz anderes, ich werde schon sehen, wenn ich erst einmal östlich von Warschau sei. Eine andere Welt – provinzieller, ärmer, dreckiger. Östlich eben. Ostig, wie wir daheim sagen. Zonig. Östlich von Warschau stand die Antwort wiederum außer Zweifel: einfach die Landstraße nach Białystok hoch. Alles, was links von ihr liegt, westlich, ist katholisch, mithin gut polnisch. Was rechts von ihr liegt, ist weißrussisch-orthodox. Wo also beginnt der Osten? [...] Der Osten wurde weiter und weiter gereicht, von Berlin bis Moskau. Bis kurz vorher, um genau zu sein, denn Moskau, so viel sei vorweggenommen, Moskau ist wieder Westen.“ Mein Zug fährt in einen Vorort von Frankfurt ein, der Rosengarten heißt, und das finde ich hübsch. Ich sehe keine Rosen und eigentlich ist es hier genauso ostig wie in jedem Malchow und Wustrow, aber auch der Osten hat seine Zeit, denke ich. Irgendwann wird sich die Welt andersrum drehen, oder vielleicht tut sie das schon. Die ewige Frage nach Osten und Westen ist eine moderne Gralssuche: ein Ergebnis gibt es womöglich gar nicht, interessant ist lediglich, wer da so sucht und von welcher Lösung wir uns am liebsten einlullen lassen wollen. Alexander Osang ist gern bereit, auch mal andersrum zu rotieren: „Neulich hat mir ein Berliner Filmproduzent bei einem Abendessen im Himmel von Manhattan erzählt, ihn habe New York immer gelangweilt. Bis er begriffen habe, dass es hier wie im Osten sei. Er hat es etwas komplizierter ausgedrückt, aber das meinte er wohl. Ich war erst ein paar Stunden in der Stadt und habe es für Filmproduzentengerede gehalten. Ein schnelles Bild zwischen zwei Cocktails. Dresden ist das Köln der Nachkriegsjahre. Prag das Paris der Zukunft. Chicago ist das Moskau der Pokemongeneration. Jeder, der schlau wirken will, auch wenn ihm gerade nichts einfällt, greift zur Analogie. Aber, was soll ich sagen? Der Mann hat nicht unrecht.“ Es ist ein ständiges Zerren, nach Westen und nach Osten, nirgendwo spürt man das mehr als in Berlin. Wenn es einen Ost- und einen Westpol gäbe, sie lägen alle beide in Berlin, die Kompasse dieser Welt würden alle Menschen hier her führen und irgendwie tun sie das ja schon. Wie oft habe ich schon süffisant gelächelt, wenn mich jemand nach Friedrichshain eingeladen hat. Für mich klingt das, als solle ich auf einem Gaul ins exotische Morgenland reiten. Die Freundschaften zerbrachen und Friedrichshain wurde zu meinem Moskau, von dem ich immer einen gefühlten Tagesmarsch entfernt bleiben sollte. Der Zug fährt in Frankfurt ein und ich verstaue beide Bücher in meiner Tasche. Mein Seminar beginnt bald und ich laufe eilig Richtung Oder. Aus Słubice kommend beeilt sich eine polnische Kommilitonin, pünktlich zu demselben Seminar zu kommen. Des einen Moskau ist des anderen New York. Büscher, Wolfgang: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Hamburg: Rowohlt, 2003. Osang, Alexander: Berlin – New York. Alle Kolumnen aus der schönen neuen Welt. Frankfurt am Main: Fischer, 2006. |
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