Die einzigen Möbelstücke in meinem Zimmer sind eine Luftmatratze und ein Trockner. Eine Heizung gibt es nicht, hin und wieder fällt das Wasser aus. Etwas blauäugig hatte ich vor einem Monat mein Auslandssemester im belgischen Antwerpen angetreten und dieses Zimmer bezogen. Genau einen Monat hielt ich es aus, bevor ich ernsthaft in Erwägung zog, zurück in die mir bekannten und geliebten Berliner Gefilde zu flüchten.
In einer ausländischen Stadt anzukommen und sich wohl zu fühlen ist ungleich schwerer als dasselbe Unterfangen innerhalb Deutschlands zu bestreiten. Es gilt, kulturelle Gepflogenheiten zu begreifen, sprachliche Hürden zu nehmen und sich in soziale Netzwerke einzugliedern. In meinem Fall klappte all das super, der einzige große Maluspunkt war meine katastrophale Wohnsituation. Das friesische Dorfkind in mir wollte einfach nur nach Hause, in seine gewohnte Umgebung und so lange weinen, bis alles wieder gut wäre. Der Wahlkreuzberger in mir jedoch dachte: „Wer den Berliner Bären bezwungen hat, braucht vor dem flämischen Löwen keine Angst mehr zu haben.“ Zwar hatte mein innerer Kreuzberger zweifellos Recht, jedoch wenig Lust sich wochenlang durch Ämter und Maklerbüros zu drängeln. So kam es, dass ich eines Nachts mit selbstgemalten Flugblättern durch die Antwerpener Innenstadt ging und sämtliche Häuserwände mit meiner Bitte um ein schöneres Leben tapezierte. „Ich bin Kreuzberg, du Muschi!“, sagte ich immer wieder leise, als ob Antwerpen mich hören könnte. Auf dem Flugblatt stand in Großbuchstaben „Schönes Leben gesucht“, fünf Zeilen Lebensgeschichte, die Antwerpener Herzen zum Schmelzen bringen sollten und meine Telefonnummer. Ich hatte kaum richtig schlafen können, da klingelte mein Telefon im Fünfminutentakt. Eine ältere Dame, die mich anrief, weil sie einen neuen Enkelsohn brauchte. Studenten, die mit mir etwas trinken gehen wollten. Ein Junge, der auf ein unverfängliches Tête-à-tête hoffte. Halb Antwerpen hatte Mitleid mit dem gestrandeten Deutschen und auf seine Art wollte jeder sein Leben etwas schöner machen. Ein Mann vom regionalen Fernsehsender fand meine Flugzettel einfach nur fucking awsome und drehte einen Beitrag für die 20-Uhr-Nachrichten. Ich wurde angekündigt als ein Symbol für die Anonymität in der Großstadt. Große Aufregung überall, dabei hatte ich bloß ein paar Flugblätter aufgehangen. Zwar hatte ich noch immer keine Wohnung, Antwerpen hatte nun aber seine eigene Amélie Poulain. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass im Durchschnitt jeder Mensch in seinem Leben fünfzehn Minuten berühmt ist. Durch Fernsehbeiträge und Zeitungsartikel hielt meine Popularität noch ein Weilchen an und anfangs profitierte ich auch ganz gut davon. Die Frau in der Universitätsbibliothek ließ mich mehr Bücher ausleihen als erlaubt war (Er hat ja sonst nichts!) und die Verkäuferin im Second-Hand-Laden gab mir fünfzig Prozent Rabatt auf meine Einkäufe (Ich war im Sommer in Berlin. Berlin ist ja so cool!). Auf Partys brauchte ich mich nicht mehr vorzustellen, meine Name war allseits bekannt. Meine ursprüngliche Absicht, einfach nur ein normales Leben in Antwerpen führen zu können, hatte sich ins absolute Gegenteil umgekehrt. Ich war besonderer und exotischer als je zuvor, ein Abziehbild, auf das jeder seine eigenen Unzulänglichkeiten projizieren konnte. Nicht so schlimm, wenn einen der eigene Job langweilte, der Deutsche hatte schließlich gar keinen. Die Weltreise, von der man immer geträumt hatte? Ganz gut, dass man sie nicht gemacht hat. Man sieht ja an dem Deutschen, was dabei raus kommt. Die eigene Einsamkeit wollte man mit dem Deutschen überbrücken, gut getarnt als Barmherzigkeit. Es war mein innerer Kreuzberger, den man wegen seiner Einfachheit tätschelte und belächelte, um es sich dann wieder in seiner bürgerlichen Spießigkeit gemütlich zu machen und lächelnd ein paar Sätze zu sagen, die mit „Die Jugend von heute...“ beginnen. Ein paar Monate spielte ich das Spielchen noch mit, erzählte meine Geschichte wieder und wieder, ließ mich anschauen wie ein Hundewelpe ohne Eltern und entschied mich schließlich ins fünfzig Kilometer entfernte Brüssel zu ziehen. Eine Großstadt, nein, Weltstadt sogar, Hort der Entwurzelten. Mehr als die Hälfte der Brüsseler sind keine Belgier, auf den Straßen herrscht ein babylonisches Sprachenwirrwarr. Die Häuserwände sind von oben bis unten beklebt mit bunten Plakaten, keiner würdigt sie auch nur eines Blickes. Ich fand ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft: ein hübscher Altbau in einem hochpreisigen Stadtviertel, drei sympathische Mitbewohner, geschmackvolle Einrichtung. Nur einen Trockner hatten wir nicht.
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Mai 2018
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