דתי Tel Aviv und Jerusalem könnten unterschiedlicher kaum sein. Tel Aviv liegt am Meer, ist jung, liberal und neu, Jerusalem liegt in den Bergen, ist uralt, konservativ und traditionell. Das stimmt natürlich alles nur so halb. Jaffa, das heutzutage zu Tel Aviv gehört, ist zum Beispiel etwa 4000 Jahre alt. Und auch in Jerusalem gibt es Studenten, coole Bars und ein lebendiges Nachtleben. Wenn sich Tel Aviv und Jerusalem aber in einem Punkt massiv unterscheiden, dann ist es die Allgegenwärtigkeit beziehungsweise nahezu komplette Abwesenheit von Religion. Obwohl ich selbst kein gläubiger Mensch bin, hat mich Jerusalem sofort fasziniert. Ich habe in der Grabeskirche gläubige Christen gesehen, die minutenlang den Stein küssten, auf dem angeblich Jesus gestorben sein soll. Als ich mich mit Patrick zufällig in das jüdisch-orthodoxe Viertel Me'a She'arim verirrte, waren wir plötzlich die einzigen Menschen auf der Straße, die keine Hüte oder Perücken und lange, dunkle Kleidung trugen. Als ich mir den Felsendom auf dem Tempelberg anschauen wollte, wurde ich an sämtlichen Eingängen von israelischen Soldaten gefragt, ob ich Moslem sei - und nirgends hereingelassen, als ich verneinte. Nur ein paar Meter weiter beten gläubige Juden an der Klagemauer und wirken fast wie in Trance, wie sie alle mit ihren Köpfen hin- und herwippen. Kurzum: in Jerusalem steckt Religion in jeder verdammten Mauerritze. Dass sich all diese Religionen auch ordentlich um Jerusalem fetzen, kann ich nun etwas nachvollziehen. Auch wenn Bibel, Thora und Koran mir im Grunde genommen ziemlich egal sind, ist es doch ein besonderes Gefühl durch die Gassen und über die Plätze zu laufen, die gut 3,5 Milliarden Menschen weltweit eben doch etwas bedeuten. Außer für Juden, Christen und Muslime ist Israel auch für die Bahai das Heilige Land. Ziemlich viel Religion für dieses winzige Land. In Tel Aviv war ich an dem einzigen Schabbat meines Aufenthalts und ich dachte, es würde weißgottwas passieren oder eben nicht passieren. Während meines Auslandssemesters in Antwerpen wohnte ich im jüdischen Viertel der Stadt und konnte zum Schabbat in den Geschäften der Umgebung nicht einkaufen, sonntags dafür schon. In Tel Aviv sieht man das offensichtlich etwas lockerer als in den charedischen Gemeinden Antwerpens, denn die wenigsten Geschäfte schlossen und auch auf den Straßen waren kaum weniger Leute unterwegs als an allen anderen Tagen. Einige Restaurants öffneten sogar speziell für den Schabbat. Am Samstagmittag wartete ich im jemenitischen Viertel von Tel Aviv auf Sahar in der Buba Jahnun Bar, einem Straßenbistro in der Beit Yosef Street, und bekam dort Jachnun serviert - ein Gericht aus frittierten Teigfladen, einem gekochten Ei, einer Art Tomatenrelish und Skhug Yarok, einer scharfen, grünen Sauce. Meinen türkischen, also ungefilterten Kaffee konnte ich nur ohne Milch bestellen. Das Essen war nicht wirklich besonders, das Konzept des Bistros hingegen schon. Die Kellnerin erzählte mir, dass sich hier am Schabbat die jungen, säkularen Juden träfen, die nicht zum Schabbat-Essen zu ihren Familien fahren und dass dieses Straßenbistro eben nur an diesem einen Tag in der Woche nur ein einziges Gericht serviere. Ob das Konzept aus betriebswirtschaftlicher Sicht Sinn macht, weiß ich nicht. Als Ersatz-Synagoge, -Kirche oder -Moschee gefiel mir das Prinzip aber ganz gut. Auf der Geburtstagsparty von Patrick, die er in einer befreundeten WG ausrichtete, hatte drei Gäste Instrumente dabei: eine Geige, eine Querflöte und eine Gitarre. Irgendwann fingen sie dann einfach an zu jammen. War ziemlich cool. אשם Mir fällt es schwer, mich durch Israel zu bewegen und nicht darüber nachzudenken, dass die Geschichte der Welt und vor allem die des Staates Israel höchstwahrscheinlich anders verlaufen wäre, hätte die Verfolgung der Juden im Dritten Reich und die Shoa nicht stattgefunden. Nicht dass ich es ansonsten als einen besonders wichtigen Teil meiner Person empfinden würde, Bürger Deutschlands zu sein, aber in Israel denke ich mehr darüber nach. Auch wenn das Ende des Zweiten Weltkriegs nun schon 70 Jahre her ist und ich, logisch betrachtet, natürlich wenig bis gar nichts mit den Menschen von damals gemein habe, bestätigen mir meine israelischen Freunde die außergewöhnliche Obsession, die Israelis und Deutsche füreinander hegen. Meine Freundin Dorin erzählte mir, dass sie paradoxerweise auf Reisen am Ende doch immer mit den Deutschen rumhänge. Alle anderen reagieren entweder überschwänglich positiv oder überschwänglich negativ auf die Tatsache, dass sie Israelin und Jüdin ist. Keine Reaktion sei eher die Ausnahme, abgesehen von Deutschen. Dorin glaubt, dass die Deutschen vielleicht auch nicht zum hundertsten Mal über ihre kontroverse Geschichte und Politik, über Schuld und Sühne sprechen wollen. Sie hat zum Teil sicher recht mit ihrer Annahme. Jedenfalls antworte ich im Ausland auf die Frage, woher ich komme, auch nie (und erst recht nicht in Israel) „Deutschland“, was in meinen Ohren immer noch bedrohlich und böse klingt, sondern immer „Berlin“ - weil es jeder kennt und inzwischen auch jeder mag. Sowieso, Berlin. In Israel, und vor allem in Tel Aviv, ist irgendwie jeder verrückt nach Berlin. Berlin steht für Party, Müßiggang, Freiheit, Kreativität, Offenheit, Toleranz. Zumindest für fast jeden Israeli, der jung, säkular und vielleicht auch noch schwul ist. Die ganze Berlin-Hysterie fand ihren vorläufigen Höhepunkt in dem Milky, einem Sahne-Pudding aus dem Supermarkt, der in Berlin nur ein Drittel dessen kostet, was man in Israel dafür bezahlen würde. Auf diesen Pudding wurde ich in Israel mehrmals angesprochen. Er steht sinnbildlich für die hohen Lebenshaltungskosten in Israel und das sorgenfreie, vergleichsweise günstige Leben in Berlin. Unter dem Schlagwort Olim L'Berlin (Olim bezieht sich eigentlich auf das zionistische Konzept der Rückkehr aller Juden nach Israel, hier dann aber „Rückkehr nach Berlin“) postete ein junger Israeli diesen Pudding auf Facebook und entfachte eine riesige Debatte über die Lebenshaltungskosten und Gehälter junger Israelis. Dass tatsächlich rund 20.000 Israelis inzwischen in Berlin leben, führt zu einem brain drain in Israel. Dass ausgerechnet Berlin die Stadt der Sehnsucht junger Israelis ist, schmerzt Shoa-Überlebende und orthodoxe Juden besonders. Dass es auch eine andere Seite der Milky-Medaille gibt, hat kürzlich ein Artikel von Mirna Funk in der Zeit beleuchtet. Es gibt immer noch Antisemitismus in Deutschland – den alten, der nie weg war und einen neuen, der aus der muslimischen Bevölkerung Deutschlands kommt. Aber eben auch von Leuten, die sich selbst als links verstehen und ihren Antisemitismus scheinheilig als Israel-Kritik tarnen. Die Pegida-Demonstrationen in Dresden, wenn sie sich auch nicht gegen Juden richten, zeigen außerdem, dass von allgemeiner Toleranz in Deutschland kaum die Rede sein kann. Dafür schäme ich mich, wenn ich im Ausland bin. Darum kommt mir „Deutschland“ nicht leicht über die Lippen, wenn ich nach meiner Herkunft gefragt werde. In Jerusalem habe ich Yad Vashem besucht, die zentrale Gedenkstätte für die im Holocaust vernichteten Juden. Gleich am Eingang wurde ich von einer älteren Frau gefragt, woher ich komme, wohl nur, um zu erfahren, in welcher Sprache sie mich ansprechen könne. Seltsamerweise antwortete ich „close to Hamburg“, was ja stimmt, weil ich in Niedersachsen geboren und aufgewachsen bin. „Close to Hamburg“ ist in dem Zusammenhang natürlich auch keinen Deut besser oder schlechter als „Berlin“ oder „Germany“, aber es war das einzige Mal, dass ich in Israel nicht mit meinem Wohnort oder meiner Staatsangehörigkeit antwortete, sondern mit meinem ungefähren Geburtsort. Die Frau lächelte und antwortete mir auf deutsch: „So ein Zufall. Da komme ich auch her.“ und erklärte mir dann die Gedenkstätte. Auch in der Gedenkstätte selbst fühlte ich mich ungeheuer seltsam, weil ich all die menschenverachtenden Pamphlete, Wandschmierereien und Gesetze aus der Nazi-Zeit in der Original-Sprache lesen kann und nicht wie alle anderen Besucher auf die englischen oder hebräischen Übersetzungen angewiesen bin. Hätte ich vor 75 Jahren gelebt, hätten sich all diese Texte an mich gerichtet. Ich verbrachte mehrere Stunden in dem Museum und auf dem großen Areal, auf dem verschiedene Gedenkstätten eingerichtet sind. Auf Fernsehern laufen Zeitzeugenberichte (unter anderem von Marcel Reich-Ranicki über den Aufstand im Warschauer Ghetto) in Dauerschleife, einer erschütternder und trauriger als der andere. Im Tal der verschwundenen Völker lese ich die Namen von über 5000 teilweise oder vollständig ausgelöschten jüdischen Gemeinden in ganz Europa auf massiven Steinwänden. Es ist eindrucksvoll und ungeheuer bedrückend. Deutschland begegnet mir noch häufiger und zum Glück auch harmloser in Israel. Ebenfalls in Jerusalem laufe ich am selben Tag durch die Deutsche Kolonie, die tatsächlich aussieht wie ein nobler Vorort von Mainz oder Heidelberg, wenn man sich mal die Palmen wegdenkt. Als ich Ofir in einer Bar in Jerusalem treffe, bestellt er sich eine Flasche Weihenstephan, ein deutsches Bier, das ich häufiger sehe in Israel. „Biss“ und „Schluck“ sind die einzigen Worte, die ich auf Hebräisch verstehe – weil sie aus dem Deutschen entlehnt sind. „Mischpoke“, „Tacheles“ und „Chuzpe“ verstehen all meine israelischen Freunde. Und schließlich war ich mit Johann, einem Deutschen, den ich in Tel Aviv kennengelernt habe, auf der sogenannten Berlin-Party in der Tel Aviver Schwulenbar Apolo, von der uns alle Ortskundigen abgeraten haben. Abgesehen von uns beiden, waren die einzigen Gäste in der winzigen Kaschemme zwei charedische Juden. Mehr Normalität in den deutsch-israelischen Beziehungen kann man sich doch kaum wünschen. מאובטח Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich über Weihnachten und Silvester nach Israel reise, war ihre erste Reaktion: “Muss das denn sein? Da ist es doch so gefährlich.” Mehrere Freunde hatten dieselben Bedenken. Ich hatte, um ehrlich zu sein, keine Ahnung. Ich war noch nie irgendwo, wo es gefährlich ist. Ich kenne Krieg nur aus den Nachrichten.
Als ich in Tel Aviv ankam, führte ich direkt am ersten Abend mit Daniel ein Gespräch über die Anschläge auf Tel Aviv im letzten Sommer. Ich hatte ihn damals sofort auf Facebook gefragt, ob es ihm gut gehe. Er erzählte mir, wie es Bombenalarm gab, wie real und nah die Bedrohung durch die Raketen aus dem Gaza-Streifen war und wie viel Angst es ihm macht, dass man ihn töten will – weil er Jude ist. Dorin, meine Freundin in Jerusalem, erzählte mir eine ähnliche Begebenheit. Als vor kurzem ein Palästinenser mit einem Auto in eine Straßenbahnhaltestelle fuhr und dabei mehrere Menschen tötete und verletzte, war sie gerade im Bus zu ihrer Uni. Wegen des Attentats war die Straße gesperrt und der Bus konnte nicht weiterfahren, sie und eine Kommilitonin liefen schließlich zu Fuß durch ein muslimisches Ost-Jerusalemer Viertel. Und sie hatten Angst, dass noch etwas passieren könnte. Während ich also die ersten Tage durch Tel Aviv laufe und mir die Stadt anschaue, halte ich immer mal wieder kurz inne. Bemerkt man den Konflikt? Kann man den Krieg sehen? Ich sehe nichts, im Gegenteil. Paradoxerweise ist Tel Aviv für mich vor allem friedlich, ruhig und entspannend. Oberflächlich betrachtet leben hier Juden und Muslime, europäisch-, orientalisch- und afrikanischstämmige Israelis in relativem Frieden miteinander. Gerade dieses Gefühl in der Tel Aviver “Bubble” lässt sich der Staat Israel einiges kosten. Abgesehen von dem finanziellen Aufwand, der mit der großen israelischen Armee verbunden ist, steht der dreijährige Wehrdienst am Anfang des Lebens fast jedes jungen Israelis. Was es mit einer Gesellschaft macht, gerade in so jungen Jahren so hautnah mit dem Militär konfrontiert zu sein, kann ich als Wehrdienstverweigerer nur erahnen. Andererseits habe ich damals aber auch nicht grundlos den Dienst an der Waffe verweigert. Auch die Sicherheitskontrollen am Flughafen Ben Gurion sind beispiellos. Auf dem Hinflug bin ich mit einer türkischen Airline über Istanbul geflogen und wurde daher nur kurz bei der Einreise in Israel nach dem Grund meines Aufenthalts gefragt. Vor dem Rückflug mit El Al nach Berlin gab es allerdings ein ausgedehntes Prozedere, das sicherstellen sollte, dass... ja, was eigentlich? Ich saß am Abend vor meinem Abflug mit Patrick in einer Bar im Florentinerviertel und fuhr in der Nacht mit dem Taxi quasi direkt von der Bar zum Flughafen. Noch bevor ich mein Gepäck eingecheckt hatte, wurde ich ausgedehnt befragt. Es war eigentlich ziemlich witzig, weil ich so beschwipst war, dass ich auf jede Frage entweder peinlich ehrlich (“Ja, mein Koffer war den ganzen Tag unbeaufsichtigt am anderen Ende der Stadt, während ich in einer Bar saß”) oder unnötig ausschweifend (“Wissen Sie, wie ekelig das Wetter in Berlin gerade ist? Und überhaupt, wer braucht schon Weihnachten? Der ganze Weihnachtsstress und dann zu Silvester die lästige Suche nach der besten Party...”) antwortete. Diese ganze Befragung verlief von Seiten des Sicherheitsbeamten so provokativ unfreundlich (er redete absichtlich undeutlich oder schnell, fragte Dinge, die ich unmöglich wissen konnte, funkte zwischendurch Kollegen an und ließ mich unangekündigt allein im Raum stehen), dass das Konzept leicht zu durchschauen war. Erst danach wurde es wirklich seltsam. Von dem Moment an, in dem ich erzählte, dass ich Journalist sei, waren alle darauffolgenden Sicherheitskontrollen spürbar freundlicher. Während andere deutsche Fluggäste beim Sicherheitscheck zum Beispiel mit den Beinen in der Luft minutenlang auf einer Bank sitzen mussten (was natürlich völlig bekloppt aussah), wurde ich freundlich gefragt, ob man mir beim Wiedereinräumen meines Rucksacks behilflich sein könne. Auch bei der abschließenden Passkontrolle standen einige nochmal minutenlang am Schalter und diskutierten mit dem Grenzschutz, manche sichtlich genervt. Mich fragte der Sicherheitsbeamte nach einem Blick in meinen Pass lediglich auf deutsch, ob ich Russisch spräche. Ich habe keine Ahnung, wieso, denn keine meiner Reisepassinformationen deutet irgendwie auf Russischkenntnisse hin, und verneinte nur. Schließlich stand er in seinem kleinen Glashäuschen auf, reichte mir die Hand zum Handschlag und wünschte mir unerwartet kumpelig: “I hope you come back to Israel soon!” Klar, Buddy!, dachte ich nur. Aber jetzt lass mich erstmal pennen.
0 Kommentare
|
weltr/eis/e
Alle
zeit~fliegt
Mai 2018
|