Mit mindestens 371 Millionen Klicks ist „Wrecking Ball“ von Miley Cyrus das meistangesehene Video auf Youtube. Für die Popkritik ist das kein Grund, sie ernst zu nehmen. Es gibt wahrscheinlich Millionen Gründe, Miley Cyrus blöd zu finden. Sie prostituiere sich für die Musikindustrie, attestierte ihr beispielsweise kürzlich One-Hit-Wonder Sinéad O’Connor in einem offenen Brief – nicht ohne einen etwas neidvollen Unterton. Miley schaukelt nackt auf einer Abrissbirne, gibt einem Vorschlaghammer einen Blowjob und twerkt bei öffentlichen Auftritten gerne mal an den Lenden irgendwelcher Männer herum. In ihrem Video zu „We can’t stop“ verherrlicht sie den Konsum von MDMA und während der European Music Awards 2013 in Amsterdam zündet sie sich einen Joint an, als sie einen ihrer Preise entgegen nimmt. Und auch wenn man all die Skandale der jüngeren Vergangenheit beiseite schiebt, lassen sich auch musikalisch genügend Gründe finden, warum man Miley Cyrus auf keinen Fall ernst nehmen kann. Als Tochter des konsens-peinlichen Neunziger Jahre-Contrysängers Billy Ray Cyrus ist Miley die Uncoolness quasi schon per Geburt verliehen. Außerdem: ihre Musik ist zu durchproduziert, ohne erkennbaren künstlerischen Anspruch, die Message fehlt. Miley Cyrus sei der personifizierte peinliche Pornodialog, so der allgemeine Kanon. Lieber vorspulen.
Auf der anderen Seite stehen mindestens 371 Millionen Klicks bei Youtube, mit denen ihr Video zu „Wrecking Ball“ im Jahr 2013 zum meistgeklickten Video des Jahres wurde. Man kann sich zu den Klicks 371 Millionen ebenso wenig ernstzunehmende twerkende Teenager vorstellen und damit weiterhin Cyrus’ Relevanz wegdiskutieren, wie es einige Vertreter der Popkritik aktuell gerne tun. Man kann sich andersrum aber auch fragen, welche Relevanz eine Popkritik hat, die das Pop-Phänomen Miley Cyrus mit ihrem unstrittigen Erfolg als „Interessantismus“ abtut. Es sind gleich mehrere Gräben, die zwischen Miley Cyrus und den Feuilletonisten und Popkritikern der alten Schule verlaufen. Zuerst einmal das Medium: in einer Branche, die immer noch keine wirksame Medizin für den siechenden Printjournalismus gefunden hat, gelten Youtube-Klicks erstmal per se als unseriöse Größe. Der Erfolg im Internet steht immer noch in dem Ruf, ein impulsiver und damit unehrlicher zu sein. Ein Internethype ist nicht nur weitgehend unberechenbar und schwer messbar, sondern zudem auch – im Gegensatz zur verkauften Zeitung – für sich genommen erstmal kein Geld wert. Dazu kommen Geschlecht und Alter: während beinahe greise Musiker wie Bob Dylan, David Bowie oder Eric Clapton noch für jeden Ton gelobt werden, den sie auf Platte pressen, haben es junge und weibliche Musiker oft schwer, von der Popkritik ernst genommen zu werden. Das liegt nicht nur in der ganz offenen Skepsis gegenüber Castingshows und Youtube begründet, sondern auch in der Tatsache, dass Popkritiker und Feuilletonleser selbst überwiegend eher alt und männlich sind. Etwas überspitzt ausgedrückt bedeutet das: alte Männer schreiben für alte Männer über alte Männer. Dass Miley Cyrus in dieser Rechnung nur noch das verkorkste Porno-Pop-Sternchen bleibt, leuchtet ein. Die arrivierte Popkritik ist aber häufig ebenso geschmäcklerisch, uneindeutig und für den gemeinen Musikhörer schwer nachvollziehbar wie der spontane Hype auf Youtube. Außerdem hat das Internet die Popkritik inzwischen demokratisiert. In Youtube-Maßstäben ist der Klick jedes Feuilletonisten eben genauso viel wert wie der einer pubertierenden Nachwuchstwerkerin. Ein Mensch, eine Meinung, ein Like-Button. Ähnlich verhält es sich mit der Moralkeule, die Feuilletonisten im Bezug auf die erst 21-jährige Cyrus gerne schwingen: mal ehrlich, wie porno ist denn überhaupt eine nackte Miley auf einer Abrissbirne in Zeiten des Internets überhaupt? Fraglich ist auch, ob andere 21-jährige Frauen, die Aufregung um Cyrus’ Nacktheit teilen. Das, was Sinead O’Connor sofort als Prostitution und Fremdbestimmung erkannt haben will, haben jüngere Frauen – und im Übrigen auch Cyrus selbst – vielleicht eher als sexuelle Selbstbestimmung interpretiert. Und mal ehrlich: so bizarre Asexualitäten wie Vorschlaghammer und Abrissbirnen lassen tatsächlich mehr Spielraum für irgendwelche Interpretationen und Meta-Bedeutungen, als eine popowackelnde, halbnackte Beyoncé oder eine sich räkelnde, ironisch verkleidete Lady Gaga. Dass ein Popkritiker oder ein Feuilletonleser diese Interpretation nicht sehen, heißt im Internetzeitalter schließlich auch nicht, dass es sie nicht gibt. Ein Mensch, eine Meinung.
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Mai 2018
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