Das Wetter in Japan ist schwer zu begreifen. Entweder regnet es in Strömen, was halb so schlimm ist, weil es dann nicht so warm ist. Oder es ist eben warm. So warm und schwül und feucht, dass ich manchmal nach dem Duschen schon wieder schwitze, bevor ich mir neue Klamotten angezogen habe.
Die Japaner hingegen sehen alle wie aus dem Ei gepellt aus, denn sie haben einige Tricks. Zum einen trägt jeder ein Schweißtuch mit sich herum, mit dessen Hilfe man zumindest im Gesichts- und Halsbereich einigermaßen Fassung bewahren kann. Dann tragen vor allem die Japanerinnen bei Sonne und bei Regen immer einen Schirm oder einen Fächer mit sich herum. Bei Sonne tragen viele sogar lange Handschuhe, damit ihre Haut nicht braun wird. Zudem ist wirklich fast jeder öffentliche Raum und jedes Verkehrsmittel klimatisiert und Getränkeautomaten gibt es in den Innenstädten ungefähr alle zehn Meter. Mein täglicher Jutebeutelinhalt besteht daher aus Adapter, Kompass (Das GPS auf meinem Samsung Galaxy funktioniert hier nämlich nicht), Reisezahnbürste, Zahnpasta, einem kleinen Deo, meinem Lonely Planet, sämtlichen zerfledderten Stadt- und U-Bahnplänen, einem Notizheft (u.a. für die Stempel, die man sich bei jeder Sehenswürdigkeit holen kann), einer kleinen Tube Sonnencreme, Mückenspray und einem Schweißtuch aus Frottee, das mir Vladymir geschenkt hat. Schweißtuch klingt ziemlich ekelig, ich leide aber wirklich sehr viel weniger unter der Hitze, seit ich es habe. Lilith und ich haben unser Domizil mit Fluss- und Schlossblick in Osaka jedenfalls verlassen und sind weiter nach Kyoto gefahren. Hier sind wir bei Shoji untergekommen. Er hat ein ganzes Haus in Ishidaoyama (U-Bahn-Station Ishida auf der Tōzai-Linie), also weit südöstlich der Kyotoer Innenstadt, in dem ungefähr 10 Couchsurfer in Futonbetten Platz finden. Zur Zeit schlafen hier außer mir nur Frauen, und zwar 2 Spanierinnen, 3 Französinnen, eine US-Amerikanerin, eine Polin und natürlich Lilith. Die Wände sind bemalt mit Grüßen von Couchsurfern aus allen möglichen Ländern, die schon mal irgendwann in Shojis Futonbettenburg gelegen haben. Den Kritzeleien nacht schätze ich, dass hier in den letzten sechs Jahren sicherlich 1500 Touristen umsonst eine Bleibe gefunden haben. Es ist zwar nicht ganz so privat wie bei Yuko in Osaka, dafür ist es auch mal schön, sich mit Leuten zu unterhalten, die selbst gerade durch Japan reisen. Die meisten sind zum Beispiel schon in Tokyo gewesen und von da aus nach Kyoto gekommen und können uns, die wir in Osaka gelandet sind, wertvolle Tipps geben. Es gibt bei Shoji kein W-LAN und auch bei den verschiedenen Combinis in Kyoto scheint man nicht einfach so das Netz benutzen zu können, wie in Osaka. Schnell fiel uns auf, dass in Kyoto wesentlich mehr westliche Touristen herumlaufen als in Osaka und Kobe. Das kann vor allem auch am Daimon-ji Gozan Okuburi liegen, das am Sonnabend stattfand. Dabei werden auf den 5 Bergen oberhalb der Stadt große Feuer in der Form von japanischen Zeichen entzündet. Wir standen ungefähr dort, wo die Flüsse Kama-gawa und Takano-gawa ineinander fließen, dank des schlechten Wetters (es war bis kurz vorher nicht klar, ob die Feuer überhaupt entzündet werden) und der drängelnden Menschenmassen war unser Daimon-ji allerdings eher ein mittelmäßiges Erlebnis. Mein inzwischen schon sehr lädierter Lonely Planet sagt, dass Kyoto kulturell genauso bedeutend ist wie London, Paris und Rom. Da ich in den drei anderen Städten noch nicht gewesen bin, kann ich schwer beurteilen, ob das stimmt, aber schon an unserem ersten Tag in Kyoto war ich ziemlich fasziniert von der Schönheit der Stadt. Lilith und ich haben uns gegen Mittag erstmal auf den Weg zu einer Bar am anderen Ende unserer Straße gemacht, die uns eine der Spanierinnen empfohlen hat, weil die Leute dort bereitwillig ihr W-LAN-Passwort rausrücken. Dann sind wir schließlich nach Higashiyama gefahren und dort zum Nanzen-ji-Tempel gelaufen, der uns ebenfalls von der Spanierin empfohlen wurde. Als ob das Gelände mit dem Tempel, all den Nebenschreinen und einem steinernen Aquädukt nicht schon eindrucksvoll genug gewesen wären, führte im Osten ein kleiner Waldweg den Berg Higashiyama hinauf. Durch all die kleinen Torii und Schreine, die an dem Weg herumstanden, wirkte der Wald ziemlich märchenhaft und unwirklich. In einem Wasserfall nahmen Lilith und ich spontan eine kalte Dusche, ohne zu wissen, ob wir damit nicht vielleicht gerade irgendwelche Shintō-Heiligtümer schändigen. Allerdings stehen vor sämtlichen Tempeln Bottiche mit hölzernen Suppenkellen herum und es scheint Ritual zu sein, sich mit dem Wasser Hände und Gesicht zu waschen, bevor man die Gebäude betritt. Eine Dusche in einem heiligen Wasserfall kann demnach nur im Sinne aller Shintō-Waldgeister sein. Der Ort heißt übrigens Nanzen-ji Oku-no-in Vom Nanzen-ji-Tempel aus gingen wir nach Norden über den Tesugaku-no-Michi (= Philosophenweg), der an einem Kanal entlangführt und tatsächlich eine ganz gute Strecke ist, um über Gott und die Welt und die Daheimgebliebenen in Deutschland nachzudenken. Wir hatten einen schönen Blick über die angrenzenden Stadtviertel und alle paar Meter begegneten uns irgendwelche Katzen, die in der Sonne rumhingen und von Touristen gestreichelt werden wollten. Vielleicht sind es aber auch einfach bloß sehr nachdenkliche Viecher. Am Abend besuchte uns Shoji in unserem Haus, wir hatten ihn bis dahin noch gar nicht getroffen. Ich finde es auf eine positive Art ziemlich verrückt, dass er hier tagein tagaus Touristen aus aller Welt beherbergt. Weil die 5 der 8 Frauen heute nach Nara weiter gereist sind, wohne ich nun alleine in dem Zimmer im Untergeschoss, während Lilith mit den beiden anderen in dem großen Raum oben schläft. Für die restliche Zeit in Kyoto habe ich nun also mein eigenes Privatgemach in einem alten japanischen Haus. Ziemlicher Luxus. Am Tag darauf fanden Lilith und ich mittags ein offenes W-LAN-Netzwerk in einem ganz hübschen Café, das zum Gojo Guesthouse gehört. Weil Hostels und Guesthouses generell immer W-LAN anbieten, saßen wir am selben Abend übrigens auch noch in der Sakebar des JAM Hostels am Rande vom Kyotoer Innenstadtteil Gion. Wir machten uns schließlich am frühen Nachmittag auf den Weg durch das südliche Higashiyama, indem wir erstmal über einen beeindruckenden, riesigen Friedhof liefen, der sich über den ganzen Berghang erstreckte. Der Friedhof lag zwar eher zufällig auf unserem Weg, war aber trotzdem mit der beeindruckendste Anblick in Kyoto. Schließlich gelangten wir zu den Tempelanlagen von Tainai-meguri, die ich vor allem schön fand, weil durch die umliegenden Straßen mit Souvenirshops, Süßigkeitenläden und Eisdielen bei mir fast ein bisschen Jahrmarktsgefühl aufkam. In der Chawan-zaka (= laut Lonelyplanet die „Teepottstraße“) haben wir uns einmal durch Probierauslagen der Süßigkeitenläden gefressen, bis uns etwas übel war vor lauter mochi (= mit süßer Bohnenpaste gefüllte Reiskugeln). Wir sind dann noch durch irgendwelche kleinen Straßen gelaufen, von denen behauptet wurde, sie seien eine der schönsten ganz Kyotos und natürlich standen da dann auch Geishas rum, denn was wäre das denn sonst für eine schönste Straße? Die westlichen Touristen (ja, wir auch) holten die langsam trippelnden, blassen Mädchen natürlich schnell ein und umzingelten sie schließlich so papparazziesk in irgendeiner historischen Straßenecke, dass sie mir sehr leid taten. Und obwohl sie gar nichts Spannendes taten außer etwas verlegen zu lächeln, fand ich sie auch sehr schön und faszinierend. Und im Grunde trifft das auch auf ganz Kyoto zu: pretty but boring. Das Problem an Kyoto ist nämlich die Kyotokratie. Kyoto bestimmt, was du während deines Aufenthaltes hier machst. Und Kyoto macht dir auch die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen mit seiner Schönheit, wenn du auch nur eine bildhübsche, historische Dachpfanne auslässt. Und konsequenterweise bietet Kyoto dann trotz seiner anderthalb Millionen Einwohner auch außer Kultur nur wenig Ablenkung. Es gibt in Kyoto, zumindest so weit ich das überblicken kann, verhältnismäßig wenig Cafés, Bars, Clubs, Einkaufsstraßen oder Shoppingmalls. Die Viertel Gion und Kawaramachi, die direkt an den Fluss grenzen, sind da vielleicht die einzigen Ausnahmen. Am Abend landete ich, inzwischen völlig übertempelt und kurz vor der Räucherstäbchenüberdosis, in einer Karaokebar namens Barcode, die die ganze Nacht über nur von den zwei philippinischen Freunden des ebenfalls philippinischen Barkeepers und einem uralten Japaner besucht wurde. Ich wäre sehr frustriert gewesen und hätte mich vermutlich spätestens nach dem fünften philippinischen Karaokesong freiwillig im Kanagawa ersoffen, wenn ein Moscow Mule nicht für unschlagbare ¥500 (= 3,67€) zu haben gewesen wäre. (Das vor allem importierte Flaschenbier kostete dagegen ¥700, also 5,13€. Als Repräsentant der deutschen Bierbrauzunft war übrigens Schöfferhöfer auf der Karte vertreten.) Am nächsten Mittag besichtigte ich erst alleine den Tōji-Tempel und die dazugehörige fünfstöckige Pagode, die die höchste von ganz Japan ist. Danach traf ich Lilith an der Haltestelle Inari, um mir mit ihr die dortigen Torii (= japanischen Schreintore) des Fushimi Inari-Taisha anzuschauen, der einem Fuchs gewidmet ist oder einem sehr coolen Gott, der aussieht wie ein Fuchs. Diese Torii sehen ziemlich lustig aus, weil sie als kilometerlanges, rotes Spalier den Berg hinaufführen und sind als Touristenselfiemotiv vermutlich eine ähnlich innovative Kulisse wie das Stelenfeld der Holocoust-Gedenkstätte in Berlin. Auf dem Weg nach oben lernte ich bei einer heimlichen Raucherpause (auf Tempelgeländen und allen heiligen Stätten ist Rauchen noch verbotener als überall sonst) den US-Amerikaner Ryan kennen, der eigentlich auf großer Südkoreareise war und dann aber doch irgendwie in Kyoto gelandet ist und sich freute, einen Qualmkomplizen gefunden zu haben. Wir sammelten auf halber Strecke Lilith ein, die sich wieder mal von irgendwelchen Katzen hat ablenken lassen, erklommen schließlich zu dritt den Berg, schwitzen wie drei Mastschweine und verirrten uns schließlich auf dem Weg zurück ins Tal. Und das soll uns erst mal einer nachmachen, wenn der Weg eigentlich ununterbrochen von roten Holztoren gesäumt ist. Ryan verloren wir jedenfalls irgendwo zwischen dort und Gion, wo Lilith und ich am Abend in einem sehr entzückendem Izakaya zu Abend aßen und unsere Gerichte nach dem Prinzip auswählten „Hab' ich noch nie gegessen und noch nicht mal darüber nachgedacht, ob man das überhaupt essen kann, aber wenn nicht jetzt, wann dann?“ So fanden an diesem Abend noch Quallen, Seeigel, ein ganzer Fisch mit Flossen und Schuppen, allerlei frittiertes Irgendwas und der Sake, den uns der Steuerberater Inui und der Rentner Gen spendierten, den Weg in unsere Mägen. Wir verpassten schließlich knapp die letzte U-Bahn, fuhren daher mit einer anderen Bahn in unsere grobe Richtung und stiegen schließlich in ein Taxi, das uns zu Shojis Haus brachte, das wir in der letzten Nacht komplett für uns alleine hatten. Kyoto erinnert mich übrigens irgendwie an Amsterdam. Alles ist verdammt bezaubernd und beeindruckend und genauso, wie man es sich in seinen besten Klischees nicht hätte vorstellen können. Aber ich mag halt Rotterdam lieber. Was wir gelernt haben: Die letzte U-Bahn fährt um 23:58. Nicht um Zwölfuhrirgendwas. Was wir hätten brauchen können: Bestimmt weitere zehn Tage, um auch nur ansatzweise alle Tempel und Schreine anschauen zu können. Wen ich grüße: Joana, die mir den Kompass zum Geburtstag geschenkt hat. Christina, die mich einen Tag vor meiner Abreise noch an Mückenspray erinnert hat. Und Silke, die mir ein hochwirksames Deo organisiert hat. Song des Tages: 99 Luftballons von Nena (weil mich die Philippiner in der Karaoke-Bar darum baten, ihnen zu erklären, worum es in dem Song geht. Als dann nach meiner Erklärung alle ultrabeeindruckt waren, war ich es irgendwie auch.)
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zeit~fliegt
Mai 2018
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