Es schien sich unter unseren Fahrern eingebürgert zu haben, uns noch etwas auf den Weg mitgeben zu wollen. Während es bei Ludwig noch ein kühler, aber ostfriesischer Handschlag war, gab uns in Rhede ein LKW-Fahrer sogar eine Tüte Karamellbonbons und wünschte uns viel Glück. Der Familienvater, der uns nach Groningen fuhr, schenkte uns zwei Ausgaben des Kartenspiels, das sein 11-jähriger Sohn erfunden hatte und wir versprachen, es in Berlin auch mal zu spielen. (Die Spielanleitung hatten wir bereits im Auto ausführlich besprochen.) Das Trampen schien in den Niederlanden generell besser zu funktionieren: in größeren Städten sind hier sogenannte 'Lifthaltes' eingerichtet, spezielle verkehrsgünstige Plätze, die öffentlich zum Trampen ausgeschrieben sind. An solch eine Lifthalte stellten wir uns, nachdem wir den sonnigen Tag in Groningen verbracht hatten. Die Müdigkeit steckte uns noch immer in den Knochen und wir wären beide lieber in einen Zug gestiegen, aber wir malten wieder unser Schildchen und stellten uns in der Nähe vom Groninger Hauptbahnhof auf. Gerade als unweit von uns ein Motorradfahrer einen kleinen Unfall hatte und wir vom Trampen abgelenkt waren, hielt jemand an, um uns ein Stückchen die Autobahn entlang mitzunehmen. Die Freude über das Weiterkommen überlagerte unsere Sorge um den Motorradfahrer und wir überließen ihn seinem Schicksal. Unser Fahrer sprach einen unglaublich breiten Groninger Dialekt, sodass Anne-Marie trotz hervorragender Niederländischkenntnisse häufig Mühe hatte, ihm zu folgen. Wir hatten inzwischen eine Regelung gefunden, wer auf dem Beifahrersitz Platz nehmen sollte: immer der, der gerade mehr dazu in der Verfassung war, viel zu sprechen. Langsam etablierte sich bei uns ein Smalltalkschema, das wir mit der Zeit perfektionierten. Wir warfen uns verbal den Ball zu, verfeinerten einige charmante Anekdoten und wurden so zu kurzweiligen Entertainern. Wir legten uns bereits Floskeln zurecht, die am Ende der Fahrt unsere unendliche Dankbarkeit zeigen sollten (Vielen Dank, dass du uns auf unserer Reise ein Stückchen weitergebracht hast!) und stimmten kleine Jubelgesänge an, sobald wir uns dem Ziel näherten. (Wow, das ist echt so toll!) Jeder Fahrer wurde von uns mit dem Gefühl entlohnt, etwas Gutes getan zu haben.
Zwischen den Rastplätzen Hoogeveen und Amersfort, beide irgendwo im niederländischen Nirgendwo, kamen erstmals politische Themen auf. Es bot sich an, denn unser Fahrer war sehr gebildet und wollte uns daran teilhaben lassen. Dass wir von den meisten Dingen während unseres Niederlandistikstudiums schon gehört hatten, verschwiegen wir. Er hatte eine ruhige Stimme, redete langsam und freute sich immer, wenn er irgendeine Information in die Freiheit unserer Köpfe entließ. Die letzte Etappe auf unserem Weg in die niederländische Hauptstadt sollte zugleich auch die seltsamste werden. Nachdem wir bereits anderthalb Stunden auf dem Rastplatz vertrödelt hatten, fiel uns ein junger Mann auf, der alleine in seinem nicht sehr teuren Auto fuhr – unserer Erfahrung nach eine 10 auf der Fahrer-Skala. Tatsächlich schien er auch recht unkompliziert, sah auch in dem Fahrrad auf seiner Rückbank kein wirkliches Hindernis uns mitzunehmen und so waren wir zehn Minuten später auf dem Weg nach Amsterdam. Anne-Marie kam schnell mit ihm ins Gespräch, während er bei geschlossenen Fenstern eine Zigarette rauchte. Keiner weiß mehr genau, an welcher Abzweigung in der Konversation wir falsch abgebogen waren, jedenfalls bot er Anne-Marie relativ zielstrebig Pillen an, die er offensichtlich im Ueberfluss zu besitzen schien. Anne-Marie, Gemütszustand schockiert bis amüsiert, lehnte dieses Geschenk dankend ab. Unser Fahrer ließ sich nicht beirren und erzählte von dem Electrofestival, das er am Wochenende besuchen würde, während er weitere fünf Zigaretten genüsslich hintereinander wegzog. Ich, zusammengepfercht auf der Rückbank, erlebte leichte Erstickungszustände. Schließlich kamen wir in irgendeinem gottverlassenen Vorort von Amsterdam an, nahmen einen Bus Richtung Zentrum und quartierten uns bei Fleur, einer niederländischen Freundin aus Berlin, ein. Kosten/Strecke: 2,60€/263km Was wir gelernt haben: Wie man – theoretisch – drei Tage am Stück wach bleiben kann Was wir hätten brauchen können: Sauerstoffzufuhr
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