Konnichiwa! Eine Transe, die in den ersten Sekunden ihres Auftritts ihre Perücke ins Publikum schmiss, liefert auf der Shangri-La im Ageha eine ziemlich witzige Show. Lilith ist am Montag weiter nach Norden gereist und für mich brach die letzte Woche in Tōkyō an. Ich hatte ursprünglich geplant, am Sonntag in ein kapuseru hoteru (= Kapsel Hotel) in Shinjuku zu ziehen und hatte deshalb nach meinem Partywochenende meinen Krempel aus dem Spind am Bahnhof geholt und zum Green Plaza Shinjuku Capsule Hotel geschleppt. Dort fragte mich der Herr an der Rezeption dann, ob ich Tättowierungen habe. Obwohl ich inzwischen eigentlich längst hätte wissen sollen, worauf die Frage abzielte, antwortete ich ehrlicherweise, dass ich tättowiert sei. Das Gesicht meines Gegenübers verzog sich und nahm diesen Gesichtsausdruck an, den ich in den letzten Wochen häufiger mal gesehen habe: „Warum bringt mich dieser ungehobelte Europäer nun in die missliche Situation, unglaublich unhöflich sein zu müssen?“ Dann bildete er mit den Händen ein Kreuz (= die japanische Geste für „Kannste knicken, Kollege!“) und wiederholte immer wieder „Cancel, cancel“. Die ewige Prophezeiung meiner Mutter war eingetreten: dank meiner Tättowierungen war ich zum Obdachlosen geworden. Dazu noch ein sehr müder Obdachloser, ich hatte wegen all der Feierei kaum geschlafen in der Nacht zuvor.
Ich suchte den nächsten Family Mart, denn da funktionierte das W-LAN am verlässlichsten und kontaktierte Naoki, den ich eine Woche zuvor vorm Advocates Café kennengelernt hatte, auf Facebook. Er hatte mir damals angeboten in seiner Wohnung zu crashen und ich hoffte, das Angebot wäre noch aktuell. Eine halbe Stunde später stand ich in Jingūmae in Naokis Wohnung, die der exakte Gegenentwurf zu meiner Kapsel war. Naoki hatte eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung mitten in Tōkyōs hippester Gegend, die auch nach Berliner Standards als riesig bezeichnet werden müsste. Ich glaube, selbst meine Mutter wohnt in meinem norddeutschen Heimatdorf in einer kleineren Wohnung. Ich staunte nicht schlecht. In dem eigentlichen Gästezimmer wohnte zurzeit Akiro, ein japanisch-französischer Freund von Naoki, der gerade seine Masterarbeit in Japan schrieb und deshalb bekam ich das Wohnzimmer und Naokis volle Gastfreundschaft. Ich fühlte mich sofort verdammt wohl – ziemlich verständlich, wenn man bedenkt, dass innerhalb einer Stunde mein Wohnort von Bordsteinrinne zu Palast upgegradet wurde. Tōkyō meinte es sehr gut mit mir. Ich nahm eine lange Dusche in einem Bad, das unsinnigerweise zwei Eingänge hatte und trank Whiskey mit Naoki. Einfach so, weil Sonntag war. Am Abend kam noch Yuya vorbei, ein weiterer Freund von Naoki und Akiro und wir saßen auf der Terrasse, rauchten und tranken Wein. Ich verstand schnell, dass Naokis Wohnung ein Treffpunkt ist für alle in Tōkyō gestrandeten Homosexuellen, denn in den nächsten Tagen sollten noch Dirk, ein flämischer Flugbegleiter, seine beiden britischen Kollegen und Sea, eine mit Akiro befreundete chinesische Lesbe irgendwo in den unzähligen Winkeln von Naokis Wohnung nächtigen. Ich habe selten jemanden kennengelernt, der mit jeder Faser seines Wesens ein so gutmütiger und warmherziger Mensch ist wie Naoki. In meiner letzten Woche in Tōkyō verlagerten sich meine Aktivitäten zunehmend Richtung Abend, weil ich meinen eigenen Schlüssel zu Naokis Wohnung hatte und mich niemand mehr daran hinderte, nach meinem eigenen Rhythmus zu ticken. Ich besuchte an einem Nachmittag das Ukiyo-e Ota Memorial Museum of Art in Harajuku, in dem es aktuell eine Ausstellung zu Gespenstern, Geistern und Zauberern im traditionellen Ukiyo-e gab, die mir ziemlich gut gefallen hat. Ukiyo-e ist ein Genre traditioneller japanischer Kunst, das hauptsächlich durch die große Welle vor Kanagawa von Katsushika Hokusai in Europa bekannt ist. Mit Holzschnitttechniken werden in verschiedenen Stufen Farben auf das Papier gedruckt, so dass zum Schluss ein mehrfarbiges, graphisches Motiv zu erkennen ist. Von diesen sehr alten japanischen Farbholzschnitten sind nicht nur spätere westliche Stile wie der Impressionismus inspiriert, aus dieser Tradition sind auch die heutigen japanischen Manga hervorgegangen. Auch ich fand es beeindruckend, wie modern die ausgestellten Bilder auf mich wirkten, obwohl sie alle im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Alex, eine US-Amerikanerin, bei der Lilith und ich eigentlich in Tōkyō couchsurfen sollten, traf ich an einem Abend in Kōenji, einer Gegend westlich von Shinjuku. Wir tranken klare Schnäpse und verstanden uns auf Anhieb großartig miteinander. Zwischen Alex und mir war es gleich so, als wären wir schon ewig miteinander befreundet, denn wir übersprangen das übliche Kennenlerngeplänkel und widmeten uns direkt den wichtigen Themen, die uns beschäftigten. Alex denkt nach anderthalb Jahren, die sie nun in Japan gelebt hat, darüber nach, wo sie als nächstes wohnen möchte und zieht Berlin in Erwägung. Zurzeit arbeitet sie in Tōkyō an einer Schule für bildene Künste. Alex und ich trafen uns noch einmal am Freitagabend in Ebisu, südlich von Roppongi, wieder. Ein schweizerischer Freund von Alex hatte in den letzten Monaten ein Praktikum bei Grey gemacht, einer großen Werbeagentur, und feierte nun mit den Praktikantenkollegen und Chefs seinen Abschied im America Bashi, einem Irish Pub, das wohl schon Quentin Tarantino während der Dreharbeiten zu Kill Bill 2 zu seiner Lieblingsbar kürte. Ich fand Quentin Tarantino ja noch nie wirklich toll, aber wenn er in einer Stadt wie Tōkyō tatsächlich diese unspektakuläre Saufhalle zu seiner Lieblingsbar erklärt, darf ich ihn wohl von nun an guten Gewissens scheiße finden. Der Abend mit den Werbern war trotzdem ganz lustig, auch wenn ich mich hauptsächlich mit Alex unterhielt, die ich nach wie vor großartig finde. Irgendwie kamen wir, wahrscheinlich schon relativ betrunken, zum Ende des Abends auf die spontane Idee am nächsten Tag zum Ringo Musikfestival nach Matsumoto zu fahren (genauer: mit dem Zug schwarz nach Matsumoto fahren und dann in das Ringo Musik Festival einbrechen), haben diesen Plan aber glücklicherweise am nächsten Tag wieder verworfen. Ich zog mal wieder weiter nach Nichōme, denn Naoki hing dort rum und ich wollte noch Zeit mit ihm verbringen, weil er am nächsten Tag zum Labyrinth Festival fuhr, das irgendwo in der Präfektur Niigata stattfand. (Jetzt weiß ich auch wieder, wie Alex und ich auf die Ringo-Idee kamen.) Außerdem waren an dem Abend gerade die drei schwulen Flugbegleiter da, die ich kurz vorher schon in Naokis Wohnung kennengelernt hatte und ziemlich unterhaltsam fand. (Zumindest den Belgier. Die Briten waren eher... nunja, britisch.) Zu fünft zogen wir also mal wieder durch die allseits bekannten Lokale, tranken Gin Tonic, als ob es kein Morgen gäbe und landeten schließlich im Dragon, wo ich von Akihiro angesprochen wurde, einem wirklich niedlichen japanischen Hipster, der dort mit seinem besten Freund (offiziell hetero, baggerte aber wie blöde an mir rum) und seiner besten Freundin seinen 23. Geburtstag feierte. Akihiro wurde irgendwann in seiner Jugend mal drei Jahre lang auf eine internationale Schule in Schweden geschickt, sprach dafür aber ein überraschend holpriges Englisch. Trotzdem verbrachten wir das Wochenende miteinander und verließen Shinjuku eigentlich nur zum Klamottenwechseln. Am Samstagabend machte ich Akihiros Dreierclique in einer japanischen Karaokebar ausfindig, in der sie nochmal Geburtstag feierten, ging aber nach einer halben Stunde wieder. Zum einen, weil mir sein bester Freund in jedem unbeobachteten Moment auf die Pelle rückte, zum anderen weil Akiro, Georgi (Naokis bulgarischer Ex-Freund) und Kiri (eine sarkastische und irre witzige Lesbe aus Kalifornien, die Lilith unabhängig von mir schon vor einer Woche betrunken kennengelernt hat) die deutlich witzigere Abendbegleitung waren. Wir gingen erst zum Thailänder was essen und verloren dann Kiri auf dem Weg ins New Sazae (Tōkyōs älteste Gay Bar, die seit 1966 durchgehend geöffnet ist.) Angeblich hat der Besitzer, der unseren ersten Drink aufnahm und mindestens 70 Jahre alt war, an jedem einzelnen Abend seit der Eröffnung dort gearbeitet. Mir wurde außerdem von Akiro und Georgi erzählt, dass dort hin und wieder wohl auch eine mindestens genauso alte DJane auflegt, leider nicht an diesem Abend. Stattdessen liefen auf einem Fernseher alte Soul Train- Folgen und wir tanzten zu irre witziger Retro-Musik. Spätestens jetzt war es klar: ich liebe Tōkyō. Je suis un Tokyo boy. Akihiro ließ sich an dem Abend zwar nicht mehr blicken, schickte mir aber am Tag darauf reumütig geraspeltes Süßholz auf's Handy, das fast noch niedlicher dadurch klang, dass es wohl per Google Translator übersetzt worden war. Wir trafen uns schließlich am Sonnabend nach seiner Arbeit in Harajuku, aßen kurz was und liefen dann schweigend durch die Straßen. Mir fiel auf, dass sich die Tatsache, dass wir eigentlich keine gemeinsame Kommunikationssprache haben, nüchtern ziemlich schlecht ignorieren lässt. Ich notierte auf meinem geistigen Merkzettel, dass ich mich dringend für den Japanisch A.1.2.-Kurs anmelden sollte. Dann schließlich begann meine letzte Nacht in Japan, zu der ich eigentlich erst gar nicht erscheinen wollte, weil ich höllisch verkatert und mies gelaunt war. Glücklicherweise hatte aber jeder schwule Mann, der mir in den letzten Wochen in Tōkyō begegnet ist von der Shangri-La erzählt, die an diesem Abend im Ageha am Hafen stattfinden sollte, sodass selbst meine stark alkoholgetränkten Gehirnsynapsen noch den sozialen Zwang begriffen, dem ich ausgesetzt war. Letzte Nacht in Tōkyō, letzte Nacht in Japan, immer noch ein paar lausige Yen in der Tasche, riesige Schwulenparty mit Meerblick – ich konnte nicht nicht gehen. Und tatsächlich: Ageha was amazing! Ich sah so ziemlich jeden schwulen Mann wieder, den ich den letzten Wochen kennengelernt habe. Akiro, Georgi, Yuya, Kiri, Ricky (Wills bester Freund) und der hübsche Norweger (der bizarrerweise dunkelhäutig, aber gleichzeitig blond und grünäugig war) waren da. Jamie, der australischen Tänzer, mit dem ich am Wochenende zuvor noch feiern war, trat auf der Bühne an dem Pool auf, vor und nach ihm noch einige japanische Transen-Girlgroups und muskulöse, japanische Oben-Ohne-Tänzer mehr. Der riesige Außenbereich erinnerte mich ein bisschen an die Berliner Klubs an der Spree, außer dass es hier so viel schöner war. Shangri-La war eine riesige, glitzernde, unglaublich großartige Party. Ich (inzwischen topless) tanzte mit einem witzigen Briten (ebenfalls topless), dessen britischer Freundin (trug immerhin noch ihren BH) und einem japanischen Bekannten (ratet mal) auf einer Großraumdiskothekentanzfläche und schaute mir schließlich mit Yuichi – so hieß Letzterer – (dann wieder komplett bekleidet) den Sonnenaufgang am Hafen an. Ich habe Sonnenaufgängen in meinem bisherigen Leben nicht viel Bedeutung beigemessen. Das war ein Fehler. Ab jetzt mag ich Sonnenaufgänge. Schließlich verließ ich zusammen mit Akiro und Sea früh am Morgen die Party. Wir aßen zusammen noch nebenan jeder eine Nudelsuppe, in der Sea beinahe eingeschlafen wäre, verloren uns im U-Bahnnetz von Tōkyō und fanden uns schließlich alle drei vor Naokis Haustür wieder. Meine letzte Nacht in Tōkyō war also der würdige Abschluss einer großartigen Reise. Am Sonntag, meinem letzten Tag, traf ich Tom, einen flämischen Freund, der inzwischen in Bangkok wohnt. Für seinen Geburtstag war er zusammen mit Art, seinem thailändischen Freund, über's Wochenende nach Tōkyō gereist. Wir trafen uns in Harajuku und liefen zusammen zum Yoyogi-kōen, einem Park der gerade japanweit dafür bekannt war, dass Forscher hier kürzlich Mücken gefunden haben, die Denge-Fieber übertragen. Denge-Fieber gab es in Japan eigentlich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, deswegen panicten alle ziemlich und badeten förmlich in Mückenspray und auch wir wurden gebeten, uns intensiv einzusprühen, bevor wir uns dem Teich und dem Azalea-Garten näherten. Der Tag mit Tom und Art war nochmal sehr schön, vor allem weil es sonnig und ruhig war. Tom hatte ich nicht mehr wiedergesehen, seit ich mein Auslandssemester in Belgien beendet habe, denn er war kurze Zeit später nach Thailand gezogen. Am Abend packte ich meine Klamotten und all die Mitbringsel und Souvenirs, die ich über 5 Wochen in Japan angesammelt hatte, in meinen Seesack und machte mich todtraurig auf den Weg zum Flughafen. Ich hinterließ Naoki noch eine Nachricht und einen Jägermeister, mein letztes omiyage, das ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Am Flughafen belastete ich mein Gemüt noch mit stundenlanger Wartezeit und tausenden schönen Erinnerungen an Japan und meine Kreditkarte mit einigen Einkäufen im Duty Free Shop und stieg schließlich um 23:45 Uhr in den Flieger nach Dubai. Damit war diese einmalige Reise vorbei. Was ich gelernt habe: Mit freiem Oberkörper auf einer Tanzfläche tanzen. Ist tatsächlich, äh, sehr frei. Was ich hätte brauchen können: mehr Platz in meinem Seesack. Ich hätte mindestens noch 3 Kilo Matcha-Tee, zwanzig Packungen japanische Süßigkeiten, getrockneten Tintenfisch und getrocknete Shrimps mitnehmen wollen. Wen ich grüße: Lilith. Ich habe sie wirklich vermisst in meiner letzten Woche und noch mehr, als ich wieder in Deutschland ankam. Und entgegen aller Prophezeiungen (Die Wetten lagen, glaube ich, irgendwo zwischen 3 und 5 Tagen) haben wir es einige Wochen lang miteinander ausgehalten und, besser noch, eine unvergessliche Zeit zusammen gehabt. Song des Tages: Grotesque von Ken Hirai & Namie Amuro. Denn Tōkyō ist höchst grotesk. Und hart großartig.
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Ich muss zugeben, dass ich mich nicht so sehr auf Tōkyō gefreut habe, wie man vielleicht vermuten könnte. Lilith und ich haben den typischen Japanurlaub in umgekehrter Richtung absolviert (also von Kansai nach Kantō) und deshalb sind uns einige Leute begegnet, die schon in Tōkyō waren und uns davon erzählten. Die zwei Niederländer, die ich in Osaka kennengelernt habe, haben sich beispielsweise geärgert, nicht mehr Zeit für Osaka und stattdessen weniger Zeit für Tōkyō eingeplant zu haben. Die Französinnen in Kyoto wiederum fanden die Tokioter verschlossen, hektisch und – abgesehen von der allgemeinen Höflichkeit – auch nicht besonders freundlich. Und auch ohne Tōkyō zu kennen, konnte ich das Gefühl nachvollziehen: die Leute in Kansai waren einfach verdammt nett und locker. Zudem ist Kansai nicht ganz so von Touristen überrannt wie Kyoto, der Fuji oder Tōkyō und deshalb genießt man doch noch etwas mehr den gaijin-Bonus, erst recht, wenn man sich einigermaßen benimmt und sich etwas um das Japanische bemüht.
Ich kam an dem schon im vorherigen Eintrag erwähnten Sonnabend in Tōkyō an, nachdem ich 6 Stunden vorher in Nagoya in den Zug gestiegen war. Ich peilte direkt das Schwulenviertel Shinjuku 2-chōme an, denn irgendwo muss man ja anfangen in so einer riesigen Stadt. Im Advocates Café quatschte ich gezielt die Gruppe an, die auf mich am sympathischsten wirkte. Und tatsächlich sollte ich aus dieser Gruppe Allan am darauffolgenden Wochenende in Yokohama wiedertreffen und in dem Wohnzimmer von Naoki, der von allen nur Nick genannt wird, meine letzte Woche in Japan verbringen. Man kann schon erahnen, dass das Klischee von dem unfreundlichen und verschlossenem Tokioter bereits hier stark bröckelte. Die Clique um Allan und Naoki verließ mich an diesem Abend recht früh, eigentlich kurz nachdem die Bier Happy Hour im Advocates Café vorbei war. Bier Happy Hours gibt es, weil Bier in Japan regelmäßig teurer ist als die meisten Mischgetränke. Das heißt, wer billig durch den Abend kommen will, trinkt Gin Tonic für im Schnitt ¥600 = 4,30€. Bier ist ansonsten eher was für diejenigen, die nicht auf's Geld achten müssen oder wollen. (etwa ¥800 = 5,70€) Weil ich Gin Tonic eh lieber mag, trank ich also die ganze Nacht Longdrinks, als ob sie Bier wären und hatte dementsprechend schnell alle Lampen an. Ich lernte dann im Arty Farty eine Horde deutsche Flugbegleiter der Lufthansa kennen, die ich trotz Trunkenheit unglaublich langweilig fand und dann vorm Annex einen schwulen Schweden mit seiner Gaby, die ich erst spannend und dann so langweilig fand, dass ich einen polnischen Abgang machte. Im Annex lernte ich ein australisches Pärchen kennen, von denen der eine irre betrunken und witzig und der andere Diplomat war. Und schließlich quatschte ich Will an, einen 25-jährigen Brasilojapaner, den ich toll fand, weil er von oben bis unten tättowiert war und honigfarbene Augen hatten. (Die Tattoos waren echt, die Augen stellten sich bei Tageslicht als gefärbte Kontaktlinsen heraus, was hier in Japan ziemlich en vogue ist, weil jeder kleine, braune Augen hat, aber lieber große, helle Augen haben möchte. Ich werde auch ständig auf meine an sich unspektakulären grünblaugrauen Glubscher angesprochen.) Mit Will verbrachte ich dann nicht nur die Nacht in einem Zimmer, dass er mietete, sondern auch die nächsten Tage. Wir gingen am Sonntagmittag mit Freunden von ihm frühstücken und dann Karaoke singen, pennten abends in seiner mikrokleinen Einzimmerwohnung in Itabashi und schauten dort mit seinem brasilojapanischem Mitbewohner und dessen japanischem Liebhaber einen grauenhaft schlechten Horrorfilm. Lilith kam am Montag aus Kyūshū wieder und eigentlich wollten wir uns am Abend in Togoshi treffen, um gemeinsam zu unserem neuen Couchsurfinghost Ichiro zu gehen. Allerdings regnete es den ganzen Montag über so stark, dass ich komplett durchnässt war und wegen der trotzdem hohen Temperaturen auch müffelte wie ein Jugendherbergsbett. Meine Tasche war noch bei Will, mein Akku leer und ich hatte den ganzen Tag nichts von Lilith gehört, so dass ich beschloss, nicht im strömenden Regen in einem mir fremden Tokioter Außenbezirk auf Ichiro, Lilith oder Godot zu warten. Ich schlief noch eine weitere Nacht bei Will, traf Lilith am nächsten Tag in Shibuya und lud sie als Entschädigung für den vorigen Abend zum Essen ein. An einem anderen Tag waren Lilith und ich in Akihabara, dem Elektronikviertel auf der „Ostseite“ der Stadt. Dort haben war an einem Tag quasi all die Klischees erlebt, die man normalerweise als Eruopäer von Tōkyō im Kopf hat. Wir waren in einem Maid Café, in dem uns ein als niedliche Haushälterin angezogenes japanisches Mädchen (Yuuyu) bediente und uns mit Karamellsoße niedliche Katzen und Hunde in den Milchschaum malte. Zum Schluss musste ich mir auf einer Bühne noch ein niedliches Accessoire aussuchen (weiße Hasenohren), zusammen mit Yuuyu eine niedliche Pfötchenpose einnehmen und dann ein ungeheuer niedliches Foto mit ihr schießen. Alles war sehr niedlich. Und mit niedlich meine ich creepy und unangenehm. Wir haben schließlich noch Purikura-Fotos gemacht, diese typisch japanischen Automatenfotos, auf denen man plötzlich total ebenmäßige Haut, riesige Augen und drei Trilliarden Herzchen im Hintergrund hat. Wir haben einen AKB48-Merchandize-Store besucht, der sich ausschließlich der 48-köpfigen Girlgroup widmet, die gerade so das Pop-Phänomen überhaupt in Japan ist. Das AKB im Bandnamen steht wiederum auch für Akihabara, dem Viertel in dem all die Cat Cafés, Maid Cafés, Atari, Sega, Nintendo, Videospielhallen und Mangashops beheimatet sind. Shinjuku, Harajuku und Shibuya sind wiederum die drei hippen Viertel im Westen Tōkyōs. Shinjuku ist mir persönlich am liebsten, weil es neben dem Schwulenviertel Nichōme auch noch die ebenfalls sehr lustigen heterosexuelle Ausgehviertel Sanchōme (= Shinjuku 3-chōme), Kabukichō und das Gassenviertel Golden Gai beherbergt. Harajuku finde ich auch sehr cool, es liegt südlich von Shinjuku und ist für mein Gefühl das typische Hipsterviertel. Hier sieht man die ganzen jungen, schönen Tokioter, wie sie shoppen, einen Green Tea Latte to go trinken, irgendwelche Projekte in Cafés besprechen oder einfach nur rumhängen und ganz bezaubernd individuell aussehen. Neben den großen Einkaufsstraßen in Harajuku, sind vor allem die Takeshita-dōri und die kleine namenlose Gasse, die parallel zur Meiji-dōri durch Jingūmae 3-chōme nach Norden verläuft, meine Lieblingsstraßen zum Leute gucken und Krimskrams kaufen. Shibuya wiederum ist der wahrgewordene Popkommerz. Die bekannte Kreuzung ist nur halb so groß und eindrucksvoll, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich würde sogar behaupten, dass es in Berlin ähnlich geschäftige Kreuzungen gibt, vielleicht mit dem Unterschied, dass sich die Berliner dort vielleicht tatsächlich anrempeln, auf die Füße treten oder sonstwie unzivilisiert verhalten. Noch weiter südlich von Shibuya liegt Roppongi, dass üblicherweise auch irgendwie zu den drei vorher genannten gezählt wird. Ich hatte Roppongi allerdings gar nicht auf der Karte und bin in meiner gesamten Zeit in Tōkyō auch nicht einmal da gewesen. Wenn man Lilith glauben darf, die mit unseren israelischen Couchsurffreunden Dorin und Roy eine Nacht in Roppongi ausgegangen ist, habe ich wohl auch nichts verpasst, außer ein eher unangenehmes und geschmackloses Touristenpartymekka. Bei unserem Couchsurfinghost Ichiro verbrachten Lilith und ich die ganze Woche. Mit uns waren noch die eben genannten Israelis da, mit denen wir uns großartig verstanden und Sheila und Marlene, zwei Argentinierinnen, die coolerweise auch Hebräisch sprechen konnten und auch sonst ganz cool auf mich wirkten, mit denen ich aber sonst wenig zu tun hatte, weil die beiden ihren Jetlag nicht überwinden konnten. Mit Ichiro, Dorin und Roy besuchten Lilith und ich am ersten Abend das Tōkyō Metropolitan Governmental Building, von dem aus man einen großartigen Blick über die ganze Stadt hatte. Ich deckte mich mit sinnlosen Souvenirs ein (ein 5-Yen-Stück, auf das ein Fuji-Motiv gepresst wurde und das Titelblatt einer japanischen Zeitung von dem Tag, an dem ich geboren wurde), hatte aber durchaus Spaß dabei. Generell war die Woche bei Ichiro an sich keine schlechte, auch wenn mir das Prinzip Couchsurfing als solches anfing, auf die Nerven zu gehen. Morgens mussten wir immer früh aufstehen und mit Ichiro das Haus verlassen (Korrektur: mussten wir eigentlich nicht, wir haben nur nie nachgefragt, ob wir ausschlafen könnten), entsprechend abends zurück sein, wenn Ichiro von der Arbeit kam, denn zu den Pflichten eines guten Couchsurfers gehört es eben auch, sich blicken zu lassen oder besser noch eine richtig gute Zeit mit dem Host zu verbringen. Das ist gerade in kleineren Städten oder in Gegenden, die noch nicht von allen möglichen Reiseführern abgedeckt sind, eine total schöne Idee und ja auch Sinn und Zweck der Sache, aber in Tōkyō wollte ich wirklich lieber mein eigenes Ding machen. Nur für einen kostenlosen Schlafplatz wollte ich nicht auf Tōkyōs Nachtleben verzichten müssen. Dafür ist die Stadt wirklich einfach zu groß, zu aufregend, zu verrückt, zu geil. Am Freitagmorgen besuchte ich zusammen mit Dorin und Roy das Kubikaza Theater in Ginza, in dem man auch Einakter-Tickets für ansonsten mehraktige und -stündige Kabuki-Aufführungen kaufen kann (Kabuki ist die traditionelle japanische Theatertradition, die aber im Gegensatz zum Nō-Theater für europäische Zuschauer noch relativ zugänglich ist. Auffällig sind vor allem die pathetische Spielweise, die langsamen Bewegungen, die musikalische Untermalung, ein farbenfrohes Bühnenbild und Kostüm und die Besetzung weiblicher Rollen mit männlichen Schauspielern). Das Stück Kiichi Hogen Sanryaku no Maki handelte von den drei Yoshioka Brüdern, von denen zwei Brüder mit dem in einem Clankrieg unterlegenen Genji Clan sympathisieren, und der dritte Bruder das zukünftige Oberhaupt des siegreichen Heike-Clans ist. In den Heike-Hof haben sich die anderen beiden nun als Diener eingeschlichen, um den abtrünnigen Bruder auszuspionieren und so ihren Clan zu rächen. Dummerweise verliebt sich einer der beiden in die Tochter des verlorenen Bruders also in seine Nichte. Ebendiese Nichte wiederum ist ziemlich clever, denn sie ist die einzige, die die ganze Brüderintrige durchblickt. Dorin, Roy und ich sind hingegen ungefähr bei der Hälfte ausgestiegen und das obwohl wir jeweils einen englischen Guide auf einem Ohr zugeschaltet hatten, der uns haarklein erklärte, was da auf der Bühne so passierte. Erwähnenswert ist vielleicht noch die Begründung des Guides, warum die Frauenrollen von Männern gespielt werden: Frauen können eben nicht so grazil und elegant Frauen verkörpern, wie Männer es können. Das ist doch Musik in den Ohren jeder Drag Queen. Dorin und Roy haben Tōkyō für mich ultra aufgewertet. Weil sie zusammen bereits durch China und Myanmar gereist sind, haben sie quasi gerade endlos Erzählstoff, der die daheimgebliebenen israelischen Freunde wahrscheinlich eh nicht interessiert, mich aber brennend. (Bei meinen Freunden in Deutschland ist das nicht anders, daher müssen sich die wenigen Doch-Interessierten hier auch meine endlosen Blog-Einträge durchlesen, bevor ich von meinen eigenen Storys gelangweilt bin.) Andererseits sind Dorin und Roy ja gerade erst in Japan angekommen und viele japanische Seltsamkeiten habe ich nach 4 Wochen einfach schon geblickt und kann es ihnen weitergeben. Nach dem Theater in Ginza blieben wir auf der „Ostseite“ der Stadt und fuhren nach Asakusa. einem (oder vielleicht sogar dem einzigen?) älteren Tokioter Stadtviertel. Zu dritt haben wir dort den Sensō-ji-Tempel, den Chingo-dō-Tempel, Krimskramsläden und vor allem die japanischen Rikscha-Jungs besichtigt und hatten wirklich einen sehr großartigen Tag zusammen. Vielleicht sogar meinen besten in Tōkyō bis dato. Am späten Nachmittag haben wir uns auf die Terrasse eines Tako-Yaki-Lokal gesetzt, weil es eine Bier-Happy-Hour gab. Das gute an Bier-Happy-Hours in Japan ist, dass sich die faulen Säcke, die eh „schon“ um 18 Uhr Feierabend haben (oder eben Urlaub haben), auch noch billig betrinken können. Das noch bessere an Bier-Happy-Hours in Japan ist, dass all die lustigen japanischen Besuffis ankommen wie die Fliegen. Unserer kam etwa zeitgleich mit unserem ersten Bier, hatte eine feuchte und auch ansonsten unverständliche Aussprache und war 60 Jahre alt. Die zweite Runde ging auf ihn und erzählte uns auf Japanisch allen pausenlos irgendwelche Storys, die wir nicht verstanden. Ich konnte immer mal wieder random einzelne Wörter übersetzen (minna = alle, kouko = hier, ingirisu = England), irgendwann fingen wir drei aber einfach an, einfach absichtlich irgendwelche englischen Wörter in seiner Erzählung zu verstehen und uns unsere eigene Geschichte auszudenken, die er uns erzählt haben könnte. Das fasste unser neuer Freund wiederum als ziemlich adäquate Antwort auf und erzählte umso enthusiastischer. Nach unserer Version hat er einen holländischen Freund, der im IKEA um die Ecke wohnt und dort auf uns wartet, um unseren Aufnahmeritus in die japanische Mafia durchzuführen (Narbe ins Gesicht ritzen). Wir bekämen dann aber kostenlose Schönheitschirurgie, die wegen unserer sowieso schon absurd großen Nasen eh notwendig wäre. Es war jedenfalls tatsächlich eine ziemlich happy hour, in der uns der ältere Mann auf eine weitere Runde Bier und sehr eigenartige japanische Snacks einlud und ich schließlich ebenfalls betrunken genug war, um seine Sake-Schüssel als Aschenbecher zu missinterpretieren. Neben Bier-Happy-Hours (Ich bin mir durchaus bewusst, wie asozial das klingt) gibt es übrigens noch eine weitere Sache, die ich in Japan mache, aber in Deutschland nicht mache, obwohl ich es könnte: Döner essen. Döner in Deutschland ist so eine Sache. Eine Zeit lang war es in Berlin mal erstrebenswert, den billigsten Döner der Stadt zu verkaufen, bis dann die urban myths aufkamen, in denen Maden oder irgendwelche Käfer ebenjene Billigdöner bewohnen. Ich hörte ungefähr dann auf, beim Türken essen zu gehen, wenn ich es nicht schon vorher vielleicht gar nicht gemacht habe. In Japan ist das anders. Die Japaner sind so picky mit allem, was mit essen zu tun hat, dass es sich hier faktisch kein Restaurantbetreiber leisten kann, auch nur minimal den allgemeinen Qualitätsstandard zu unterbieten. Zum anderen ist der Döner etwas japanisiert, also eigentlich auch nicht identisch mit dem Zeug, das in Berlin verkauft wird. Mal wird Döner mit Reis in einer Schale serviert, mal im Reisbrötchen, auf Wunsch mit japanischer Barbecuesauce und generell wird man nie so einen dicken Brotlappen bekommen, den man sich in Deutschland förmlich zwischen die Kiefer pressen muss. Ich traf Dorin und Roy noch ein weiteres Mal am Montagabend, wo wir uns in Shinjuku trafen, um Abschied zu feiern. Erst zeigte ich ihnen das Schwulenviertel, dann gingen wir gemeinsam in das enge Gassenviertel Golden Gai, wo sich eine mikroskopisch kleine Bar an die andere reiht. Ich fand das ziemlich witzig, auch wenn mir schon klar war, dass jede dieser Bars eine gesalzene Sitting Fee verlangen wird. Die Faustregel ist nämlich so ungefähr: je kleiner und japanischer die Bar, desto wahrscheinlicher und höher ist die Sitting Fee, also meistens einen guten Tausender, den man nur dafür abdrückt, dass man in der Bar saß. Manche dieser Bars heißen Snackbars und rechtfertigen die Sitting Fee dann mit den Reiscrackern, die man serviert bekommt. Die soll man als Ausländer gerüchteweise sogar ablehnen können und muss dann die Sitting Fee nicht bezahlen. Ausprobiert habe ich's nicht. In unserer Fünf-Mann-Bar zahlten wir am Ende jedenfalls auch ¥1600 (= 11€) für jeweils einen Gin Tonic in ziemlich beschissener Gesellschaft. Während an unserem Tisch ein Typ mit Dorin und Roy gerne über Holocaust und über „Frauen-sind-ja-so-und-Männer-sind-ja-so“ redete und mir damit auf die Nerven ging, unterhielt ich mich mit einem Gehörlosen, was vor allem so aussah, dass wir nacheinander englische Sätze in sein Handy hackten. Zwar fand ich unser Gespräch inhaltlich nicht uninteressant, aber motorisch und koordinatorisch doch irgendwie schwierig. Ich hörte ja die ganze Zeit alle anderen reden, war deshalb permanent abgelenkt und konnte betrunken auf seinem Smartphone auch nicht wirklich schnell tippen. Außerdem war mein Gesprächspartner großer Lufthansa-Fan und da hatte ich echt gar keine Meinung zu. Also zu der Fluggesellschaft. Das Fan-Sein finde ich natürlich ultra freaky, habe das aber für mich behalten. Das Wochenende zwischen diesen beiden sehr netten Tagen mit meinem neuen Lieblingsheteropärchen war übrigens eine ungefähre Blaupause von dem Wochenende davor. Ich hatte wieder meine schwere Tasche in einen Spind geschlossen und verbrachte die Nächte wieder in Nichōme im Advocates Café, dem Dragon, dem Arty Farty und dem Annex, lernte diesmal nur andere Leute kennen. Erwähnenswert sind ein namenloser (eher: vergessener) brasilojapanischer Modedesigner, der absurderweise fließend Schweizerdeutsch sprechen konnte, der Australier Jamie, der als Tänzer im Tokioter Disneyresort arbeitet und ungefähr der tuntigste, aber auch witzigste Mann ist, der mir seit längerem begegnet ist und Jay, der US-Amerikaner, mit dem Jamie und ich am Sonntag bis nachmittags wach blieben und Karaoke sangen. Achtung, Spoiler: auch das dritte und letzte Wochenende in Tōkyō wird sich nur insofern unterscheiden, als dass ich nicht mehr ganz so obdachlos bin. Was ich gelernt habe: mich anstellen, in Warteschlangen ausharren und mich nicht vordrängeln. Vor allem: geduldig sein. Gerade in Tōkyō ist es eine japanische Tugend, geordnet, gleichmäßig und effizient in der Gegend herumzustehen oder herumzugehen. Was ich hätte brauchen können: zwischendurch mal ein Glas Wasser. Wen ich grüße: Claudia, die ich zwar gar nicht kenne, deren sehr schönen und ausführlichen Japan-Blog ich aber zur Vorbereitung auf meine Reise benutzt habe. Song des Tages: Matatabistep von Passepied. Bessere japanische Popmusik klingt halt so. An meinem ersten Abend in Tokyo, einem Sonnabend, war ich ziemlich lost. Ich hatte meinen schweren Rucksack am Bahnhof Shinjuku in eine Spind gepackt und bin geradewegs ins Schwulenviertel Nichōme (= Shinjuku 2-chōme) gepilgert, denn bekanntlich trifft man in Schwulenvierteln die offensten und nettesten Menschen. Vor dem Advocates Café, das mir als ausländerfreundliche Vorglühkneipe empfohlen wurde, traf ich dann auch direkt eine Handvoll nette Leute, mit denen ich die nächsten zwei Stunden verbrachte. Ich unterhielt mich vor allem mit Allan, den ich sympathisch fand, weil er ganz offen seinen Job hasste und mir in Japan bisher wenig offener Unmut über irgendwas begegnet war und mit Naoki, den alle Nick nannten, und mit dem ich mich gleich in drei Sprachen (Englisch, Deutsch und Niederländisch) fließend unterhalten konnte, was mir so in Japan bisher auch noch nicht passiert ist.
Allan jedenfalls lud mich nach Yokohama ein, wo er wohnt und arbeitet und weil ich Yokohama sowieso besuchen wollte, nahm ich dankend an und verabredete mich für den folgenden Samstag mit ihm. Eine Woche später war ich in Tokyo bereits einigermaßen angekommen und hatte den Freitag ebenfalls feiernd in Nichōme verbracht, so dass ich schwer verkatert war, als ich in den Zug nach Yokohama stieg. Von Yokohama konnte ich mir im Vorhinein nicht so richtig eine Vorstellung machen. Einerseits liegt die Stadt so nah an Tokyo, dass sie gemäß dem Potsdamschen Gesetz zwangsläufig im Schatten der Hauptstadt ein Dasein in gähnender Tristesse fristen müsste. Andererseits ist Yokohama die zweitgrößte Stadt Japans und mit 3,7 Millionen Einwohnern so groß wie Berlin. Bei der Größe ist es eigentlich ziemlich schwer, scheiße zu sein. Von Shinjuku aus brauchte ich jedenfalls eine gute halbe Stunde zum Bahnhof Sakuragichō, wo ich eine Weile nach Allan suchen musste, denn ich hatte mal wieder weder Strom noch W-LAN. In Yokohama fiel mir sofort auf, wie gelassen und relaxed alles zugeht im Vergleich zu Tokyo. Die Straßen sind breit und überall gibt es Wasser- und Grünflächen. Zwischendrin stehen einige Gebäude, die ungefähr so aussehen, wie man sich in den Achtzigern die Zukunft vorgestellt haben muss. (Diesen Retrofuturismus, vielleicht sogar eher noch etwas älter, gibt es übrigens ganz ähnlich auch in Osaka und Kobe. Finde ich nicht schlecht eigentlich.) Als erstes liefen wir gemeinsam zum Hafen, der neben mir unglaublich gut gefiel. Während die Hafenkulisse in Kobe ziemlich bilderbuchartig wirkte, schien mir der Hafen in Yokohama irgendwie echter, was vielleicht daran liegen kann, dass Yokohama (ab Ende 19. Jahrhundert) neben Nagasaki (ab 17. Jahrhundert) im Süden Japans Tor zur westlichen Welt war und daher vielleicht etwas mehr meinem europäischen Klischee eines Hafens entsprach. Wir liefen an der Hafenpromenade entlang, wo junge japanische Familien mit ihren Kindern entlang flanierten (und die Väter wirklich auffallend süß an ihrem freien Tag mit ihren Kindern spielten), kauften uns in einem Combini das erste Bier des Tages und schauten uns die alten Warenhäuser Akarenga Sōkō an, die mich entfernt an die Speicherstadt in Hamburg erinnerten. Der Vergleich mit Hamburg ist vielleicht eh viel passender als der mit Potsdam. Yokohama muss man sich vorstellen wie Hamburg, wenn es direkt neben Berlin liegen würde. Allan, der als Sohn japanisch-chinesischer Eltern in der Mandschurei im Norden Chinas geboren, aber in Nagoya in Japan aufgewachsen ist, führte mich dann zum Chinatown von Yokohama, den ich ebenfalls irre cool fand, vor allem auch, weil Allan eben mit allen Leuten auf Mandarin sprechen konnte und ich mich zwischen allen Touristen deshalb nicht mehr ganz so touristisch fühlte. Wir schauten uns den taoistischen Tempel Kantei-byō an und beobachteten in einer benachbarten chinesischen Schule Schüler dabei, wie sie eine Aufführung für das chinesische Mondfest vorbereiteten, das am darauffolgenden Montag stattfinden würde. Später am Abend aß ich mit Allan noch Mondkuchen, ein mit süßer Bohnenpaste gefüllter Kuchen, den man traditionell in China zum Mondfest isst und den er von einem Arbeitskollegen aus Taiwan geschickt bekommen hatte. Überhaupt fand ich China, bevor ich nach Japan gereist bin, ein eher unsympathisches Land – aus ähnlichen Gründen, aus denen ich auch die USA eher unsympathisch finde: in ihrer jeweiligen Region sind sie so groß und übermächtig, dass ihnen alles drumherum egal ist. Seit ich aber in Japan einige Chinesen (und Taiwanesen) kennengelernt habe, häufiger mal wirklich chinesisch essen war und mir der immense Einfluss der chinesischen Kultur auf die umliegenden Nationen klargeworden ist, finde ich China doch auch zunehmend spannender. Zumal viele Chinesen, die mir hier in Japan begegnen, ausgezeichnet Englisch sprechen und zwischen all den im Durchschnitt recht verschlossenen Japanern, ziemlich weltoffen und zugänglich wirken. Natürlich sind die Chinesen in Japan aber wiederum auch nicht repräsentativ für ihre anderthalb Milliarden Landsleute. Yokohama gefiel mir jedenfalls ausgesprochen gut, nicht nur, weil es ganz eindeutig komplett anders ist als Tokyo. Yokohama wirkte auf mich viel weltoffener, entspannter und kosmopoliter als alle Städte in Japan, die ich bisher gesehen habe, und zwar nicht nur des Hafens wegen. Alle Leute, die mir in Yokohama begegneten, sprachen beispielsweise überdurchschnittlich gut Englisch und benutzten es auch ohne, dass ich sie erst mit meinem unterirdischen Japanisch förmlich dazu nötigen musste. Auf all den offenen öffentlichen Plätzen gab es Tanzeinlagen, Jongleure, Clowns und alle möglichen Show-Einlagen, die ich – verkatert wie ich war – unheimlich geil fand. Gegen frühen Abend machten Allan und ich uns auf den Weg nach Shin-Yokohama, wo er wohnte, verbrachten auf dem Weg dahin noch eine Stunde in einem Elektrogeschäft, in dem Allan heruntergesetzte Lautsprecher kaufen wollte, die man ihm aber nicht verkaufte, weil die Bedienungsanleitung fehlte. Irgendwie auch typisch für die japanische Servicekultur – wenn eine Ware nicht perfekt ist, schmeißt man sie lieber weg, als sie mit Mangel zu verkaufen, auch wenn es sich nur eine fehlende Bedienungsanleitung handelt. Niemand will sich hier nachsagen lassen, schlechte Ware zu verkaufen. Wir kauften uns dann schließlich im Supermarkt Bentō-Boxen (fertige kleine Gerichte, die kurz vorher frisch zubereitet wurden und meistens als Pausenbrot mit zur Schule oder zur Arbeit mitgenommen werden) und aßen sie bei Allan zuhause. Abgesehen von all dem guten Essen, das ich in japanischen Restaurants gegessen habe, werde ich gerade den ganzen billigen, aber hochwertigen Kram aus den Supermärkten und Combinis in Deutschland total vermissen. Allan lud noch Cole zu sich ein, einen 22-jährigen US-Amerikaner, der gerade einen einjährigen Japanischkurs in Yokohama begonnen hat und bereits unglaublich gut Japanisch sprach und gemeinsam gingen wir in die Schwulenbar im neunten Stock des Nachbarhauses, die von Kenji, einem weiteren wunderschönen Brasilojapaner, und seiner ebenfalls wunderschönen Schwester betrieben wurde. Ich habe dort einen Longdrink mit dem Namen Kraftwerk getrunken, der hauptsächlich aus allen mehr oder weniger deutschen Zutaten gemixt wurde, den die Bar so hergab (Jägermeister, Carlsberg-Bier – ist zwar dänisch, aber das weiß hier keiner, einem süßen Obstler und Zitronensaft), dann aber bizarrerweise am Ende doch ganz okay schmeckte. Während wir also gerade in dieser Bar saßen, in der im Übrigen auch wieder mal bloß nur 10 Leute Platz gehabt hätten, fing es draußen an, wie aus Eimern zu schiffen. Ich wollte pünktlich zum Samstagnachtleben wieder zurück in Tokyo sein und machte mich deshalb in einer kurzen Schauerpause auf den Weg zum Bahnhof. Die Schauerpause währte leider keine 5 Minuten, sodass ich bereits an der nächsten Straßenecke komplett nass und auch noch völlig orientierungslos war. Nur einem Japaner, etwa in meinem Alter, habe ich es zu verdanken, dass ich noch halbwegs trocken (er schenkte mir seinen Regenschirm und ich hatte angesichts des wirklich beschissenen Wetters wenig Skrupel ihn anzunehmen) und rechtzeitig meinen letzten Zug erwischte. Für den großzügigen Regenschirmschenker kriegt Yokohama aber mindestens nochmal 2 Sternchen auf der Sympahtieskala gutgeschrieben. Was ich gelernt habe: „Du hast ein kleines Gesicht!“ ist in Japan ein Kompliment. „Du hast echt große Augen!“ auch. Während „Du hast ein Mondgesicht!“ eine wirklich schlimme Beleidigung ist, ist „Du bist fett geworden!“ nicht beleidgend. Was ich hätte brauchen können: Einen Regenschirm. Den ich dann auch mal irgendwem bei strömenden Regen schenken würde. Wen ich grüße: Meine Lieblingshamburger Klaas, Christina und Sandra – weil euch Yokohama garantiert auch gefallen würde. Und vor allem Franny, die irgendwo hier in der Nähe vor Anker liegen muss. Song des Tages: Blue light Yokohama von Ayumi Ishida |
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Mai 2018
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