Die bezaubernde Su-chan hängt mit uns in einer völlig überteuerten Bar in Kobe rum und singt Karaoke Diese Zeilen schreibe ich gerade aus dem wohl teuersten Hotel der Stadt Nagoya und ich weiß, um ehrlich zu sein, auch nicht so richtig, wie ich hier gelandet bin. Zuerst war ich eigentlich nur spätabends auf der Suche nach einem W-LAN (auch irgendwie das Thema dieses Urlaubs) und einer Steckdose, um mein Handy aufzuladen. Ich habe mich dafür in die Hotellobby des Nagoya Tokyu Hotels gesetzt, das von außen gar nicht so unglaublich protzig aussah, wie es von innen dann schließlich war. Ich habe an der Rezeption behauptet, auf eine Freundin zu warten, mir einen Internetzugang geben lassen und mich in eine Sitzecke gesetzt. Nach etwa zwanzig Minuten kam ein älterer, japanischer Mann auf mich zu und ich dachte mir, ok, scheiße. Jetzt ist mein Parasitentum aufgeflogen und ich werde zwar höflich-japanisch, aber hochkant auf die Straße gesetzt. Der Mann fragte aber einfach nur woher ich komme (Doitsujin desu!) und ob ich beruflich in Nagoya sei. Ich sagte ja, auch wenn ich abgesehen von dem weißen Hemd, das ich trug (Gott sei Dank!), wirklich nicht nach big business aussah. (Adidas-Turnschuhe, kurze Hose, schwarzer Turnbeutel, vermutlich sehr verschwitzt.) Er lud mich in die Bar im zweiten Stock ein, die Fontana di Trevi heißt und echt an Prunk und Prahl kaum zu toppen ist. Alles ist hier entweder golden, weil blingbling oder in angenehmen Nikotinfarbtönen, vermutlich damit später nicht so auffällt, dass all die Geschäftsdamen und -herren perlenketterauchen, als gäbe es kein Morgen. Ich fand es wirklich sehr bizarr. Es stellte sich heraus, dass der ältere Mann Watanabe-san heißt, was, glaube ich, sein Nachname ist. Er arbeitet im Außendienst für eine japanische Firma, die in alle Welt exportiert. Was da genau exportiert wird, ist in Watanabe-sans überraschend bescheidenem Englisch verlorengegangen. Entweder flower (Blumen), flour (Mehl) oder floor (Böden) oder was ganz anderes. Ich fand auf jeden Fall alles irre interesting. Ich heiße heute Abend übrigens Yuri-san, womit ich gut leben konnte, auch wenn Watanabe-san nicht so richtig verstand, dass Yulian mein Vorname ist (Im Japanischen nennt und schreibt man den Nachnamen nämlich immer vor dem Vornamen). Ich hatte glücklicherweise noch eine letzte Visitenkarte im Portemonnaie, die ich ihm zum Tausch in die Hand drücken konnte, als er mir seine (ausschließlich japanisch beschriftete) Karte gab. Und dann war er eigentlich nur noch begeistert und fröhlich von allem, was ich so erzählte. Ich bestellte nacheinander zwei Singapore Sling und hoffte, die Rechnung nicht selbst bezahlen zu müssen. Mein Internet war unterdessen auch flöten, weil die Bar im zweiten Stock und irgendwie außerhalb des W-LANs lag. Ich erzählte, dass ich Journalist sei in Deutschland, was genaugenommen übertrieben ist, aber ordentlich Eindruck schindete. Ich erzählte von Berlin und Hamburg und fragte mich die ganze Zeit, ob Watanabe-san überhaupt verstand, was ich da so plapperte, denn für einen Außendienstmitarbeiter von irgendwas war sein Englisch nämlich sehr holprig. Nach ungefähr einer Stunde verließ er mich dann, ich war nicht ganz unglücklich darüber und nun sitze ich hier in Nagoya und habe einen halbvollen, bezahlten Singapore Sling vor mir stehen und tippe ganz businesslike auf meinem Laptop herum. Nagoya ist auch ansonsten sehr gut zu mir, auch wenn ich das so nicht erwartet habe, weil es eigentlich eine sehr stiefmütterliche Entscheidung war, hierher zu fahren. Lilith hängt nämlich gerade auf Kyushu rum und ich hatte ursprünglich vor, sie in Nagasaki zu treffen, um mir dort Dejima, die alte Holländersiedlung anzugucken, aber das war mir dann doch zu weit weg. In Kobe, wo ich das letzte Wochenende bei Vladymir verbracht habe, wollte ich aber auch nicht mehr bleiben, denn irgendwann ist ja auch mal Schluss mit Romance. Ursprünglich wollte ich Vladymir nur nochmal ausgedehnt Tschüss sagen, schlussendlich bin ich allerdings von Freitag bis Dienstag bei ihm geblieben. Es gab nämlich noch eine Alle-tragen-weiß-Strandparty am Suma Beach, wo ich Ai-chan, Su-chan, Haruna, Saki und Nao wiedergesehen und Takashi kennengelernt habe, ein Baseballspiel zwischen den Orix Buffaloes (der Verein aus Kobe, von dem ich spontan mal Fan geworden bin) und den Tohuko Rakuten Golden Eagles aus Sendai, einen enttäuschenden und völlig überteuerten Ausflug in Kobes schwules Nachtleben und vermutlich das beste Essen meines Lebens in einem sehr modern eingerichteten Izakaya in der Nähe des Bahnhofs Setsu Motoyama. Also bin ich spontan mit meinem sheishun 18 kippu (= 5 Langstreckentickets in Japan mit allen JR-Zügen, außer den Shinkansen-Schnellzügen) in ungefähr 4 Stunden von Kobe nach Nagoya gefahren, in Japans viertgrößte Stadt hinter Tokyo, Osaka und Yokohama, und habe ungefähr das erwartet, was ich von Köln, Deutschlands viertgrößter Stadt, erwarten würde: nichts. Die Gegend um Nagoya wird allgemein als Chūkyō bezeichnet, was so viel wie zwischen den Hauptstädten bedeutet und sich auf die Lage zwischen Tokyo und Kyoto bezieht. Auch heute liegt Nagoya zwar noch immer mittendrin, gehört aber irgendwie nicht so richtig zu dem Kreis der großen, besuchenswerten japanischen Städte. Ähnlich wie Köln wurde übrigens auch Nagoya im Zweiten Weltkrieg quasi komplett dem Erdboden gleich gemacht und hat daher wenig authentisch historische Bausubstanz. Nagoya habe ich dann aber, ganz im Gegensatz zu Köln, sehr schnell in mein Herz geschlossen, denn es hat alles, was eine ordentliche Großstadt meiner Meinung nach so haben muss. Ein zwielichtiges (und für japanische Verhältnisse unglaublich dreckiges) Rotlicht-/Schwulenviertel (Sakae 4 chōme, auch Joshidai genannt), ein cooles Hipsterviertel (Osū 3 chōme, oder eigentlich alle Straßenzüge zwischen den U-Bahnstationen Kamimaezu und Osū Kannon) und ein hektisches Downtown (alles um den Bahnhof Sakae herum). Nagoya muss man sich vorstellen wie die gemeinsame Tochter von Hamburg und Rio de Janeiro, verkleidet als japanische Millionenstadt. Die größte brasilianisch-japanische Minderheit des Landes lebt in Nagoya, bzw. der Präfektur Aichi. Das gibt der Stadt irgendwie ein internationaleres und weltoffeneres Flair, als so homogen japanischen Städten wie Kyoto, Kobe und Osaka, wo höchstes ein paar Touristen und Expatriots rumhängen. Alle wichtigen Schilder in Nagoya sind meistens auch auf portugiesisch beschriftet und die Brasilojapaner sind allein deshalb schon so auffällig, weil sie fast durch die Bank weg unglaublich gutaussehend und stylisch sind. An Hamburg erinnert mich, dass der Hafen und die große umliegende Industrie Nagoya zu einem gewissen Reichtum verholfen haben, was man zwar irgendwie auch auf der Straße sieht, irgendwie aber auch nicht. Die Autos, die hier durch die Gegend fahren, sind auffällig größer, teurer und protziger als in den anderen Städten, die ich bisher gesehen habe. Die jungen Leute auf der Straße wiederum tragen überwiegend eher Kleidung, die ich grob als Streetstyle bezeichnen würde. Nicht schlecht, vielleicht ähnlich wie London und Berlin, aber eben lange nicht so chic und gestylt wie die Leute in Osaka, die eher einen Pariser oder Mailänder Modegeschmack haben. Nicht zuletzt mag ich an Nagoya, dass es für Touristen unglaublich zugänglich ist, vielleicht, weil es einfach nicht so viele davon gibt und man sich um die wenigen, die kommen, umso sorgfältiger kümmert. Es gibt einen Bus im 30-Minuten-Takt, der als Rundfahrt alle Sehenswürdigkeiten abklappert. Das Ticket kostet ¥500 (= 3,50€), ist einen ganzen Tag gültig und ein Tag reicht tatsächlich komplett aus, um die historischen Sehenswürdigkeiten Nagoyas zu sehen. Der Eintritt ist mit dem Ticket dann auch fast überall billiger. Ich bin zurzeit bei Pin in der Nähe der U-Bahnhaltestelle Motoyama untergekommen, meinem ersten Couchsurfing-Host, den ich ohne Lilith gefunden habe. Pin kommt aus Taiwan, ist 26 Jahre alt und ist Sales Manager für eine japanische Soja-Saucen-Firma. Mit Pin und mir klickte es sofort total gut, so gut sogar, dass ich meinen Aufenthalt in Nagoya spontan noch etwas verlängert habe. Außer mir ist noch ein weiterer Couchsurfer in Pins Wohnung, Austin, der 23 Jahre alt, angehender Arzt ist und ebenfalls aus Taiwan kommt. Im Gegensatz zu dem eher ruhigen und lockeren Pin ist Austin ziemlich aufgedreht und flamboyant. Beide sprechen fließend Englisch und ich bin echt froh, so unkompliziert meine perfekte Nagoyagang beisammen zu haben. Am Mittwochabend waren wir zu dritt chinesisch essen, neben Nudelsuppen mit Meeresfrüchten gab es unter anderem auch Tintenfischköpfe und frittierte Hühnerfüße, die etwas gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht waren. Am Donnerstag hat Pin bei sich zuhause chinesisch gekocht, nachdem Austin und ich den ganzen Tag durch Nagoya gelaufen waren, um uns das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaute Nagoyajō (= Schloss Nagoya) anzugucken und in Osū shoppen zu gehen. Die Nacht von Freitag auf Samstag war nicht nur mein letzter Abend in Nagoya, sondern auch Pins Geburtstag, Grund genug für uns beide, im Zentrum feiern zu gehen. Zuerst gingen wir in die Lesbenbar Short Bus in Sakae 4 chōme, fanden dort aber keine Karaoke-Anlage vor, was nämlich der ursprüngliche Plan gewesen war. Die Lesben waren dafür äußerst hilfsbereit und haben für uns alle Schwulenbars der Stadt durchtelefoniert, um sich nach deren Karaokeequipments zu erkundigen. Wir wurden schließlich an eine kleine Bar verwiesen, die den sprechenden Namen Fill Up trägt und trafen dort auf eine sehr lustige Runde von 8 schwulen Männern, die sich fleißig Longdrinks hinterkippten. Pin vertrug gerade mal einen halben Longdrink und war dann schon so betrunken und müde, dass er rote Flecken am Hals bekam und sich unaufhörlich die Augen rieb. Er schaffte es glücklicherweise aber doch noch hin und wieder, mir die Quintessenz der Barunterhaltung ins Englische zu übersetzen. Die Rechnung, die ich zu Pins Ehrentag alleine beglich, war viel höher als es irgendwie Sinn ergeben hätte, aber das habe ich erst am nächsten Tag nachgerechnet. Pin und ich gingen jedenfalls, weil wir die letzte Bahn verpasst haben, zum schlafen in ein Sentō. Das klingt seltsam, ist in Japan aber ziemlich normal. Man kann sich auch eigene Karaokekammern für die Nacht anmieten, sich in Internetcafés setzen (bzw. legen, die Stühle dort sind meistens ultrabequem), in ein eigentlich für andere Zwecke bestimmtes rabu hoteru (= Lovehotel) gehen oder billigstenfalls in einem McDonalds den Kopf auf eine Handvoll Fritten betten. Die Japaner haben sich da so einige Alternativbetten einfallen lassen, um weder ein teures Hotel noch ein teures Taxi bezahlen zu müssen. Es sind nochmal sehr coole und entspannte Tage gewesen, bevor ich dann am Sonnabend meine Sachen gepackt habe und nach Tōkyō gefahren bin, von wo aus ich dann in zwei Wochen zurück nach Deutschland fliegen werde. Was ich gelernt habe: toire ga arimas ka? (= Gibt es hier eine Toilette?) Was ich hätte brauchen können: Meine Portugiesischkenntnisse, die ich irgendwann mal in der Uni erworben, inzwischen aber verlegt habe. Wen ich grüße: Marina, meine brasilianische Mitbewohnerin in Berlin, an die ich in den letzten Tagen häufiger denken musste. Song des Tages: Let it go von Idina Menzel aus dem Disney-Film Frozen, weil das Lied hier wirklich ständig und überall gedudelt wird und mir ultra auf die Nerven geht. Meine Empfehlung an alle Japaner im Bezug auf dieses Lied: let it go! Dieses Video ist entstanden, als Austin und ich zufällig an der Universität Nagoya in einen Tanzklub oder so etwas ähnliches geraten sind. Cool sah es aber trotzdem aus, auch wenn der Schirm von der Dame im roten Rock eindeutig schrott war.
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Mai 2018
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