Nach inzwischen beinahe 2 Wochen in japanischen Millionenstädten, mussten Lilith und ich endlich raus auf's Land. Schon vor Monaten war für mich klar gewesen, dass ich gerne nach Ine fahren möchte, ein kleines Fischerdorf auf der Tango-Halbinsel an der Nordküste Japans. Es gehört zu den schönsten Dörfern Japans, es gibt dort Fischfang und ergo auch guten, frischen Fisch und Meeresfrüchte. Es gibt Meer und Strände, was ich liebe, aber auch Berge und Wälder, wovon Lilith wiederum großer Fan ist. Außerdem, und das ist vielleicht am tollsten, es ist dort richtig ruhig. Keine Menschen, keine sprechenden Rolltreppen, piepsende Getränkeautomaten, klingelnde Ampeln und singende Katzen.
Lilith und ich haben uns dazu entschieden, nach Ine zu trampen. Das klappte insofern recht gut, als dass wir von Kyoto nach Ine insgesamt nur viereinhalb Stunden gebraucht haben. Schwierig war es allerdings, die entsprechenden Kanji (= die aus dem chinesischen abgeleiteten japanischen Schriftzeichen für alle Hauptwörter) der jeweils nächsten Ortschaft auf unser Schild zu malen. Auf der Autobahnauffahrt Nagaokakyo sind wir losgefahren und haben uns dort von einem recht schweigsamen Mann nach Kameoka (亀岡) bringen lassen. Da hat uns dann eine Grundschullehrerin mitgenommen bis nach Nantan (南丹). Eine jüngere Frau, die uns erzählte, dass sie im Januar ihr erstes Kind erwarte, nahm uns bis nach Kyōtamba (京丹波) mit und dort hielt schließlich ein Mann, der uns fast die gesamte restliche Strecke bis nach Miyazu (宮津) mitnahm, und das, obwohl wir uns kaum mit ihm unterhalten konnten und die ganze Zeit nur mit „sugoi!“ (= dt. „Wahnsinn!“, „Großartig!“) die schöne Landschaft kommentierten. Schließlich fuhr uns eine sehr nette Frau von Miyazu nach Ine (伊根), telefonierte sogar noch mit unserem dortigen Host Alex, ließ uns dann aber schließlich nach dem Telefonat doch den restlichen Weg laufen, was dann irgendwie seltsam war. Das Trampen klappte generell sehr gut, wir haben nirgendwo länger als eine halbe Stunde warten müssen. Wir sind ausschließlich über Landstraßen gefahren (und daher bis auf die letzte Strecke immer nur von Ort zu Ort), was wohl daran liegt, dass für die Autobahn in Japan Maut-Gebühren erhoben werden. All unseren Mitfahrern gaben wir ein Päckchen Maoam, als Dankeschön und als sozusagen-omiayage aus Deutschland. Am frühen Abend kamen wir schließlich bei Alex in Ine an, der sofort etwas seltsam war. Nicht unfreundlich, aber doch wesentlich harscher im Ton, als wir es bisher von Japanern gewohnt waren. Kauft hier Bier!, sagte er uns, als wir an einem kleinen Lebensmittelladen vorbeikamen. Es sollte am Abend ein Essen geben und das Bier sollten wir beisteuern. Kein Problem, wir kauften das Bier, ich fand den Ton aber doch irgendwie merkwürdig. Auf dem Weg empfahl er uns das Ine Inn in Funaya (dem älteren, historischen Teil von Ine), was Lilith und ich nicht ganz checkten, weil wir ja schließlich zwei Nächte bei ihm couchsurfen würden. Schließlich kamen wir bei ihm im Restaurant Nagisa an, außer uns waren noch seine Ehefrau Naomi da, Sachiko, die uns als eine Freundin der Familie vorgestellt wurde und Godo, der auf eine recht charmante Art und Weise bizarr war und pausenlos Joints rauchte. Sachiko fand ich schnell ziemlich super, weil sie eigentlich die absurdeste Person am Tisch war. Mit langen, lackierten Fingernägeln und jede Menge Bling bling an jeder erdenklichen Körperstelle sah sie aus wie die japanische Version einer Neuköllner Prolltussi, erzählte uns aber, dass sie Tiefseetaucherin sei und dass sie all das Essen, was heute Abend serviert würde, selbst im Meer geerntet habe. Außerdem war sie Fischerin und verkaufe ihren Fang jeden Tag auf dem Fischmarkt in Ine. Ich fand sie ziemlich lustig. Godo wiederum erzählte uns, dass er als 16-Jähriger sowohl den US-amerikanischen Schriftsteller Allen Ginsberg, als auch den Musiker Bob Dylan persönlich kennengelernt habe. Wie es zu den Treffen kam, erzählte er uns aber nicht und ich bin mir auch nicht so ganz sicher, ob die Geschichten stimmten. Das Essen war lecker und sehr außergewöhnlich, es gab nämlich allen möglichen Kram, den man im Meer vor Ine so fangen kann: Turbanschnecken, Sashimi (= roh zubereitete und geschnittene Filetstücke) von Seeohren (= auch Abalone genannt, ebenfalls große Schnecken), Einsiedlerkrebse und aber auch etwas, das uns als „chicken“ vorgestellt wurde, aber eindeutig etwas anderes war. Vielleicht chicken-Innereien, ich weiß es nicht. Schmeckte jedenfalls. Zu trinken gab es Bier und Sake, von dem wir noch nicht wussten, dass wir ihn auch werden bezahlen müssen. Das war zwar an sich überhaupt keine große Sache, ebenso wenig wie das Bier, das wir zuvor gekauft hatten, aber ich fand es schlichtweg seltsam, dass Alex uns kommentarlos eine Rechnung hinlegte nach dem Essen. Generell war Alex eher unfreundlich: als Lilith ein Ukulelenkonzert gab, verschwand er in einem anderen Raum und ich hatte auch sonst nicht das Gefühl, dass wir dort von Herzen willkommen waren. Sachiko, Godo und Naomi fand ich allerdings sehr cool und auf jeweils sehr absurde Art und Weise auch ganz unterhaltsam. Wir schliefen schließlich in dem Restaurant selbst auf unseren eigenen Luftmatratzen. Alex machte, als er ging, die Klimaanlage, das W-LAN und das Licht aus. Das ist aus Stromspargründen zwar nachvollziehbar, aber Lilith und ich fühlten uns beide nicht besonders wohl. Am nächsten Morgen fragte ich Alex schließlich, wie man die Klimaanlage bediente, worauf er ziemlich cholerisch reagierte und uns außerdem wissen ließ, dass er grundsätzlich nur eine Nacht hoste und er all seinen Gästen nahe lege, danach für ¥5000 (= 36€) pro Nacht ins schon erwähnte Ine Inn umzuziehen. Machten wir nicht. Lilith legte sich auch kurz noch mit ihm an, dann packten wir unsere Sachen und zogen von dannen. Unser Ziel war erst mal der Strand in dem Dorf Tomari, wo wir den Tag verbringen wollten. Dafür mussten wir durch die Berge wandern, was bei den Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit höllisch anstrengend war. Der Ausblick auf das Meer und die Gegend entschädigte allerdings für vieles. Auf halber Strecke, kurz vor dem Dorf Niizaki nahm uns schließlich eine junge Frau mit, die unglaublich gut englisch sprach. Sie hieß Jun, kam aus der chinesischen Stadt Guangzhou in der Nähe von Hongkong und hat einen Japaner geheiratet, mit dem sie hier auf der Tango-Halbinsel wohnt und zwei Kinder hat. Wir verstanden uns auf Anhieb großartig und ich gab ihr eine Tüte von den Waldmeisterbonbons für ihre Kinder mit, die ich extra aus Deutschland mitgenommen hatte, um sie hier zu verschenken. Jun brachte uns zu dem Strand nach Tomari und auf dem Weg erzählten wir ihr, wie es uns in Ine bisher ergangen war. Sie bot uns an, dass wir die Nacht bei ihr im Haus schlafen könnten, sie müsse das nur noch mit Grandma (ihrer Schwiegermutter, der das Haus gehört, in dem die ganze Familie wohnt) und ihrem Ehemann besprechen. Lilith und ich waren hin und weg. Der Tag, der recht bescheiden begonnen hatte, schien doch noch ziemlich großartig zu werden. Wir verbrachten den Tag an dem kleinen Strand, den wir fast für uns alleine hatten, ich holte mir meinen ersten Sonnenbrand und schließlich kam die SMS von Jun, dass Grandma uns bereits ein karē (= Curry) gekocht hatte und Jun uns um halb drei am Strand abholen würde. Wir trampten zurück nach Ine, kauften eine Flasche Sake als Geschenk, trampten wieder zurück und warteten dort auf Jun, die nicht um halb drei kam, weil sie Probleme mit ihrem Auto hatte. Am Strand lernten wir noch einen US-Amerikaner aus Massachusetts kennen, der seit 10 Jahren in Osaka wohnte und dessen japanischen Kumpel. Es war ein ziemlich entspannter Tag und außer den Libellen, die massenhaft über dem Strand umher flogen, hörte man nichts. Am frühen Abend kam schließlich Jun mit ihrer vierjährigen Tochter Aya und ihrem zweijährigen Sohn Chihiro, die beide ebenfalls englisch konnten. Ziemlich beeindruckend sogar, zumal sie ebenfalls Mandarin von ihrer Mutter und Japanisch von ihrem Vater gelernt hatten. Wir fuhren mit den dreien nach Nii, einem Dorf zwischen Tomari und Ine und verbrachten dort den Abend mit Grandmas Curry, Ayas Barbies und der zauberhaften Jun in ihrem hübschen, traditionell japanischem Haus. Aya und Chihiro fuhren total auf Lilith und mich ab und durften an diesem Abend auch trotz offensichtlicher Müdigkeit länger wach bleiben. Hiromi, Juns Ehemann, kam erst spät von der Abend und ging am nächsten Morgen wieder früh aus dem Haus, aber auch ihn durften wir kurz kennenlernen. Grandma verbrachte die Nacht in Ine und überließ Lilith ihr Bett. Ich schlief auf einem Futon im Wohnzimmer und wurde so als Erster am nächsten Morgen von Aya und Chihiro geweckt. Zusammen mit Jun brachten wir die beiden am frühen Morgen in den Kindergarten, wo uns alle ziemlich aufgeregt empfingen. Ich fand es andersrum aber mindestens genauso spannend, denn es ist schon sehr besonders, so einen intimen Einblick in das Familienleben von Jun und ihrer Familie zu bekommen. Jun nahm sich noch den Vormittag frei um mit Lilith und mir die natürliche Landbrücke Amanohashidate zu besichtigen, eine der drei schönsten Landschaften Japans. Wir wurden von einem starken Regen überrascht, hingen dann erst auf der Landbrücke selbst in einem Pavillion und später in einem Café im westlichen Stil in dem Ort rum und unterhielten uns mit Jun über die Apfelkuchenrezepte unserer Mütter, über die unfassbare Niedlichkeit von Juns Kindern und über einen hoffentlich baldigen Urlaub der Familie in Berlin. Dann brachte Jun uns zum Bahnhof und Lilith und ich fuhren über tausend Umwege (es gab wohl starke Regenfälle in den bergen, weshalb einige Strecken nicht befahrbar waren) zurück nach Kansai. Ich zu Vladymir nach Kobe, sie nach Himeji. Was wir gelernt haben: Nicht alle Japaner sind höflich, hilfsbereit, zuvorkommend und unglaublich nett zu uns. Aber fast alle. Was wir hätten brauchen können: einen Gin-Tonic-Automaten am Strand von Tomari Wen ich grüße: Anne-Marie, an die ich oft denken musste, während Lilith und ich durch die Präfektur Kyoto trampten, weil wir vor einigen Jahren mehrere Wochen lang gemeinsam durch Benelux getrampt sind. Song des Tages: Die japanische Version des Disney Songs Under the sea - weil die Melodie auf Bahnhöfen als Durchsage-Jingle benutzt wird. Und weil's thematisch grad so gut passt.
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Das Wetter in Japan ist schwer zu begreifen. Entweder regnet es in Strömen, was halb so schlimm ist, weil es dann nicht so warm ist. Oder es ist eben warm. So warm und schwül und feucht, dass ich manchmal nach dem Duschen schon wieder schwitze, bevor ich mir neue Klamotten angezogen habe.
Die Japaner hingegen sehen alle wie aus dem Ei gepellt aus, denn sie haben einige Tricks. Zum einen trägt jeder ein Schweißtuch mit sich herum, mit dessen Hilfe man zumindest im Gesichts- und Halsbereich einigermaßen Fassung bewahren kann. Dann tragen vor allem die Japanerinnen bei Sonne und bei Regen immer einen Schirm oder einen Fächer mit sich herum. Bei Sonne tragen viele sogar lange Handschuhe, damit ihre Haut nicht braun wird. Zudem ist wirklich fast jeder öffentliche Raum und jedes Verkehrsmittel klimatisiert und Getränkeautomaten gibt es in den Innenstädten ungefähr alle zehn Meter. Mein täglicher Jutebeutelinhalt besteht daher aus Adapter, Kompass (Das GPS auf meinem Samsung Galaxy funktioniert hier nämlich nicht), Reisezahnbürste, Zahnpasta, einem kleinen Deo, meinem Lonely Planet, sämtlichen zerfledderten Stadt- und U-Bahnplänen, einem Notizheft (u.a. für die Stempel, die man sich bei jeder Sehenswürdigkeit holen kann), einer kleinen Tube Sonnencreme, Mückenspray und einem Schweißtuch aus Frottee, das mir Vladymir geschenkt hat. Schweißtuch klingt ziemlich ekelig, ich leide aber wirklich sehr viel weniger unter der Hitze, seit ich es habe. Lilith und ich haben unser Domizil mit Fluss- und Schlossblick in Osaka jedenfalls verlassen und sind weiter nach Kyoto gefahren. Hier sind wir bei Shoji untergekommen. Er hat ein ganzes Haus in Ishidaoyama (U-Bahn-Station Ishida auf der Tōzai-Linie), also weit südöstlich der Kyotoer Innenstadt, in dem ungefähr 10 Couchsurfer in Futonbetten Platz finden. Zur Zeit schlafen hier außer mir nur Frauen, und zwar 2 Spanierinnen, 3 Französinnen, eine US-Amerikanerin, eine Polin und natürlich Lilith. Die Wände sind bemalt mit Grüßen von Couchsurfern aus allen möglichen Ländern, die schon mal irgendwann in Shojis Futonbettenburg gelegen haben. Den Kritzeleien nacht schätze ich, dass hier in den letzten sechs Jahren sicherlich 1500 Touristen umsonst eine Bleibe gefunden haben. Es ist zwar nicht ganz so privat wie bei Yuko in Osaka, dafür ist es auch mal schön, sich mit Leuten zu unterhalten, die selbst gerade durch Japan reisen. Die meisten sind zum Beispiel schon in Tokyo gewesen und von da aus nach Kyoto gekommen und können uns, die wir in Osaka gelandet sind, wertvolle Tipps geben. Es gibt bei Shoji kein W-LAN und auch bei den verschiedenen Combinis in Kyoto scheint man nicht einfach so das Netz benutzen zu können, wie in Osaka. Schnell fiel uns auf, dass in Kyoto wesentlich mehr westliche Touristen herumlaufen als in Osaka und Kobe. Das kann vor allem auch am Daimon-ji Gozan Okuburi liegen, das am Sonnabend stattfand. Dabei werden auf den 5 Bergen oberhalb der Stadt große Feuer in der Form von japanischen Zeichen entzündet. Wir standen ungefähr dort, wo die Flüsse Kama-gawa und Takano-gawa ineinander fließen, dank des schlechten Wetters (es war bis kurz vorher nicht klar, ob die Feuer überhaupt entzündet werden) und der drängelnden Menschenmassen war unser Daimon-ji allerdings eher ein mittelmäßiges Erlebnis. Mein inzwischen schon sehr lädierter Lonely Planet sagt, dass Kyoto kulturell genauso bedeutend ist wie London, Paris und Rom. Da ich in den drei anderen Städten noch nicht gewesen bin, kann ich schwer beurteilen, ob das stimmt, aber schon an unserem ersten Tag in Kyoto war ich ziemlich fasziniert von der Schönheit der Stadt. Lilith und ich haben uns gegen Mittag erstmal auf den Weg zu einer Bar am anderen Ende unserer Straße gemacht, die uns eine der Spanierinnen empfohlen hat, weil die Leute dort bereitwillig ihr W-LAN-Passwort rausrücken. Dann sind wir schließlich nach Higashiyama gefahren und dort zum Nanzen-ji-Tempel gelaufen, der uns ebenfalls von der Spanierin empfohlen wurde. Als ob das Gelände mit dem Tempel, all den Nebenschreinen und einem steinernen Aquädukt nicht schon eindrucksvoll genug gewesen wären, führte im Osten ein kleiner Waldweg den Berg Higashiyama hinauf. Durch all die kleinen Torii und Schreine, die an dem Weg herumstanden, wirkte der Wald ziemlich märchenhaft und unwirklich. In einem Wasserfall nahmen Lilith und ich spontan eine kalte Dusche, ohne zu wissen, ob wir damit nicht vielleicht gerade irgendwelche Shintō-Heiligtümer schändigen. Allerdings stehen vor sämtlichen Tempeln Bottiche mit hölzernen Suppenkellen herum und es scheint Ritual zu sein, sich mit dem Wasser Hände und Gesicht zu waschen, bevor man die Gebäude betritt. Eine Dusche in einem heiligen Wasserfall kann demnach nur im Sinne aller Shintō-Waldgeister sein. Der Ort heißt übrigens Nanzen-ji Oku-no-in Vom Nanzen-ji-Tempel aus gingen wir nach Norden über den Tesugaku-no-Michi (= Philosophenweg), der an einem Kanal entlangführt und tatsächlich eine ganz gute Strecke ist, um über Gott und die Welt und die Daheimgebliebenen in Deutschland nachzudenken. Wir hatten einen schönen Blick über die angrenzenden Stadtviertel und alle paar Meter begegneten uns irgendwelche Katzen, die in der Sonne rumhingen und von Touristen gestreichelt werden wollten. Vielleicht sind es aber auch einfach bloß sehr nachdenkliche Viecher. Am Abend besuchte uns Shoji in unserem Haus, wir hatten ihn bis dahin noch gar nicht getroffen. Ich finde es auf eine positive Art ziemlich verrückt, dass er hier tagein tagaus Touristen aus aller Welt beherbergt. Weil die 5 der 8 Frauen heute nach Nara weiter gereist sind, wohne ich nun alleine in dem Zimmer im Untergeschoss, während Lilith mit den beiden anderen in dem großen Raum oben schläft. Für die restliche Zeit in Kyoto habe ich nun also mein eigenes Privatgemach in einem alten japanischen Haus. Ziemlicher Luxus. Am Tag darauf fanden Lilith und ich mittags ein offenes W-LAN-Netzwerk in einem ganz hübschen Café, das zum Gojo Guesthouse gehört. Weil Hostels und Guesthouses generell immer W-LAN anbieten, saßen wir am selben Abend übrigens auch noch in der Sakebar des JAM Hostels am Rande vom Kyotoer Innenstadtteil Gion. Wir machten uns schließlich am frühen Nachmittag auf den Weg durch das südliche Higashiyama, indem wir erstmal über einen beeindruckenden, riesigen Friedhof liefen, der sich über den ganzen Berghang erstreckte. Der Friedhof lag zwar eher zufällig auf unserem Weg, war aber trotzdem mit der beeindruckendste Anblick in Kyoto. Schließlich gelangten wir zu den Tempelanlagen von Tainai-meguri, die ich vor allem schön fand, weil durch die umliegenden Straßen mit Souvenirshops, Süßigkeitenläden und Eisdielen bei mir fast ein bisschen Jahrmarktsgefühl aufkam. In der Chawan-zaka (= laut Lonelyplanet die „Teepottstraße“) haben wir uns einmal durch Probierauslagen der Süßigkeitenläden gefressen, bis uns etwas übel war vor lauter mochi (= mit süßer Bohnenpaste gefüllte Reiskugeln). Wir sind dann noch durch irgendwelche kleinen Straßen gelaufen, von denen behauptet wurde, sie seien eine der schönsten ganz Kyotos und natürlich standen da dann auch Geishas rum, denn was wäre das denn sonst für eine schönste Straße? Die westlichen Touristen (ja, wir auch) holten die langsam trippelnden, blassen Mädchen natürlich schnell ein und umzingelten sie schließlich so papparazziesk in irgendeiner historischen Straßenecke, dass sie mir sehr leid taten. Und obwohl sie gar nichts Spannendes taten außer etwas verlegen zu lächeln, fand ich sie auch sehr schön und faszinierend. Und im Grunde trifft das auch auf ganz Kyoto zu: pretty but boring. Das Problem an Kyoto ist nämlich die Kyotokratie. Kyoto bestimmt, was du während deines Aufenthaltes hier machst. Und Kyoto macht dir auch die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen mit seiner Schönheit, wenn du auch nur eine bildhübsche, historische Dachpfanne auslässt. Und konsequenterweise bietet Kyoto dann trotz seiner anderthalb Millionen Einwohner auch außer Kultur nur wenig Ablenkung. Es gibt in Kyoto, zumindest so weit ich das überblicken kann, verhältnismäßig wenig Cafés, Bars, Clubs, Einkaufsstraßen oder Shoppingmalls. Die Viertel Gion und Kawaramachi, die direkt an den Fluss grenzen, sind da vielleicht die einzigen Ausnahmen. Am Abend landete ich, inzwischen völlig übertempelt und kurz vor der Räucherstäbchenüberdosis, in einer Karaokebar namens Barcode, die die ganze Nacht über nur von den zwei philippinischen Freunden des ebenfalls philippinischen Barkeepers und einem uralten Japaner besucht wurde. Ich wäre sehr frustriert gewesen und hätte mich vermutlich spätestens nach dem fünften philippinischen Karaokesong freiwillig im Kanagawa ersoffen, wenn ein Moscow Mule nicht für unschlagbare ¥500 (= 3,67€) zu haben gewesen wäre. (Das vor allem importierte Flaschenbier kostete dagegen ¥700, also 5,13€. Als Repräsentant der deutschen Bierbrauzunft war übrigens Schöfferhöfer auf der Karte vertreten.) Am nächsten Mittag besichtigte ich erst alleine den Tōji-Tempel und die dazugehörige fünfstöckige Pagode, die die höchste von ganz Japan ist. Danach traf ich Lilith an der Haltestelle Inari, um mir mit ihr die dortigen Torii (= japanischen Schreintore) des Fushimi Inari-Taisha anzuschauen, der einem Fuchs gewidmet ist oder einem sehr coolen Gott, der aussieht wie ein Fuchs. Diese Torii sehen ziemlich lustig aus, weil sie als kilometerlanges, rotes Spalier den Berg hinaufführen und sind als Touristenselfiemotiv vermutlich eine ähnlich innovative Kulisse wie das Stelenfeld der Holocoust-Gedenkstätte in Berlin. Auf dem Weg nach oben lernte ich bei einer heimlichen Raucherpause (auf Tempelgeländen und allen heiligen Stätten ist Rauchen noch verbotener als überall sonst) den US-Amerikaner Ryan kennen, der eigentlich auf großer Südkoreareise war und dann aber doch irgendwie in Kyoto gelandet ist und sich freute, einen Qualmkomplizen gefunden zu haben. Wir sammelten auf halber Strecke Lilith ein, die sich wieder mal von irgendwelchen Katzen hat ablenken lassen, erklommen schließlich zu dritt den Berg, schwitzen wie drei Mastschweine und verirrten uns schließlich auf dem Weg zurück ins Tal. Und das soll uns erst mal einer nachmachen, wenn der Weg eigentlich ununterbrochen von roten Holztoren gesäumt ist. Ryan verloren wir jedenfalls irgendwo zwischen dort und Gion, wo Lilith und ich am Abend in einem sehr entzückendem Izakaya zu Abend aßen und unsere Gerichte nach dem Prinzip auswählten „Hab' ich noch nie gegessen und noch nicht mal darüber nachgedacht, ob man das überhaupt essen kann, aber wenn nicht jetzt, wann dann?“ So fanden an diesem Abend noch Quallen, Seeigel, ein ganzer Fisch mit Flossen und Schuppen, allerlei frittiertes Irgendwas und der Sake, den uns der Steuerberater Inui und der Rentner Gen spendierten, den Weg in unsere Mägen. Wir verpassten schließlich knapp die letzte U-Bahn, fuhren daher mit einer anderen Bahn in unsere grobe Richtung und stiegen schließlich in ein Taxi, das uns zu Shojis Haus brachte, das wir in der letzten Nacht komplett für uns alleine hatten. Kyoto erinnert mich übrigens irgendwie an Amsterdam. Alles ist verdammt bezaubernd und beeindruckend und genauso, wie man es sich in seinen besten Klischees nicht hätte vorstellen können. Aber ich mag halt Rotterdam lieber. Was wir gelernt haben: Die letzte U-Bahn fährt um 23:58. Nicht um Zwölfuhrirgendwas. Was wir hätten brauchen können: Bestimmt weitere zehn Tage, um auch nur ansatzweise alle Tempel und Schreine anschauen zu können. Wen ich grüße: Joana, die mir den Kompass zum Geburtstag geschenkt hat. Christina, die mich einen Tag vor meiner Abreise noch an Mückenspray erinnert hat. Und Silke, die mir ein hochwirksames Deo organisiert hat. Song des Tages: 99 Luftballons von Nena (weil mich die Philippiner in der Karaoke-Bar darum baten, ihnen zu erklären, worum es in dem Song geht. Als dann nach meiner Erklärung alle ultrabeeindruckt waren, war ich es irgendwie auch.) |
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Mai 2018
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