Nach inzwischen beinahe 2 Wochen in japanischen Millionenstädten, mussten Lilith und ich endlich raus auf's Land. Schon vor Monaten war für mich klar gewesen, dass ich gerne nach Ine fahren möchte, ein kleines Fischerdorf auf der Tango-Halbinsel an der Nordküste Japans. Es gehört zu den schönsten Dörfern Japans, es gibt dort Fischfang und ergo auch guten, frischen Fisch und Meeresfrüchte. Es gibt Meer und Strände, was ich liebe, aber auch Berge und Wälder, wovon Lilith wiederum großer Fan ist. Außerdem, und das ist vielleicht am tollsten, es ist dort richtig ruhig. Keine Menschen, keine sprechenden Rolltreppen, piepsende Getränkeautomaten, klingelnde Ampeln und singende Katzen.
Lilith und ich haben uns dazu entschieden, nach Ine zu trampen. Das klappte insofern recht gut, als dass wir von Kyoto nach Ine insgesamt nur viereinhalb Stunden gebraucht haben. Schwierig war es allerdings, die entsprechenden Kanji (= die aus dem chinesischen abgeleiteten japanischen Schriftzeichen für alle Hauptwörter) der jeweils nächsten Ortschaft auf unser Schild zu malen. Auf der Autobahnauffahrt Nagaokakyo sind wir losgefahren und haben uns dort von einem recht schweigsamen Mann nach Kameoka (亀岡) bringen lassen. Da hat uns dann eine Grundschullehrerin mitgenommen bis nach Nantan (南丹). Eine jüngere Frau, die uns erzählte, dass sie im Januar ihr erstes Kind erwarte, nahm uns bis nach Kyōtamba (京丹波) mit und dort hielt schließlich ein Mann, der uns fast die gesamte restliche Strecke bis nach Miyazu (宮津) mitnahm, und das, obwohl wir uns kaum mit ihm unterhalten konnten und die ganze Zeit nur mit „sugoi!“ (= dt. „Wahnsinn!“, „Großartig!“) die schöne Landschaft kommentierten. Schließlich fuhr uns eine sehr nette Frau von Miyazu nach Ine (伊根), telefonierte sogar noch mit unserem dortigen Host Alex, ließ uns dann aber schließlich nach dem Telefonat doch den restlichen Weg laufen, was dann irgendwie seltsam war. Das Trampen klappte generell sehr gut, wir haben nirgendwo länger als eine halbe Stunde warten müssen. Wir sind ausschließlich über Landstraßen gefahren (und daher bis auf die letzte Strecke immer nur von Ort zu Ort), was wohl daran liegt, dass für die Autobahn in Japan Maut-Gebühren erhoben werden. All unseren Mitfahrern gaben wir ein Päckchen Maoam, als Dankeschön und als sozusagen-omiayage aus Deutschland. Am frühen Abend kamen wir schließlich bei Alex in Ine an, der sofort etwas seltsam war. Nicht unfreundlich, aber doch wesentlich harscher im Ton, als wir es bisher von Japanern gewohnt waren. Kauft hier Bier!, sagte er uns, als wir an einem kleinen Lebensmittelladen vorbeikamen. Es sollte am Abend ein Essen geben und das Bier sollten wir beisteuern. Kein Problem, wir kauften das Bier, ich fand den Ton aber doch irgendwie merkwürdig. Auf dem Weg empfahl er uns das Ine Inn in Funaya (dem älteren, historischen Teil von Ine), was Lilith und ich nicht ganz checkten, weil wir ja schließlich zwei Nächte bei ihm couchsurfen würden. Schließlich kamen wir bei ihm im Restaurant Nagisa an, außer uns waren noch seine Ehefrau Naomi da, Sachiko, die uns als eine Freundin der Familie vorgestellt wurde und Godo, der auf eine recht charmante Art und Weise bizarr war und pausenlos Joints rauchte. Sachiko fand ich schnell ziemlich super, weil sie eigentlich die absurdeste Person am Tisch war. Mit langen, lackierten Fingernägeln und jede Menge Bling bling an jeder erdenklichen Körperstelle sah sie aus wie die japanische Version einer Neuköllner Prolltussi, erzählte uns aber, dass sie Tiefseetaucherin sei und dass sie all das Essen, was heute Abend serviert würde, selbst im Meer geerntet habe. Außerdem war sie Fischerin und verkaufe ihren Fang jeden Tag auf dem Fischmarkt in Ine. Ich fand sie ziemlich lustig. Godo wiederum erzählte uns, dass er als 16-Jähriger sowohl den US-amerikanischen Schriftsteller Allen Ginsberg, als auch den Musiker Bob Dylan persönlich kennengelernt habe. Wie es zu den Treffen kam, erzählte er uns aber nicht und ich bin mir auch nicht so ganz sicher, ob die Geschichten stimmten. Das Essen war lecker und sehr außergewöhnlich, es gab nämlich allen möglichen Kram, den man im Meer vor Ine so fangen kann: Turbanschnecken, Sashimi (= roh zubereitete und geschnittene Filetstücke) von Seeohren (= auch Abalone genannt, ebenfalls große Schnecken), Einsiedlerkrebse und aber auch etwas, das uns als „chicken“ vorgestellt wurde, aber eindeutig etwas anderes war. Vielleicht chicken-Innereien, ich weiß es nicht. Schmeckte jedenfalls. Zu trinken gab es Bier und Sake, von dem wir noch nicht wussten, dass wir ihn auch werden bezahlen müssen. Das war zwar an sich überhaupt keine große Sache, ebenso wenig wie das Bier, das wir zuvor gekauft hatten, aber ich fand es schlichtweg seltsam, dass Alex uns kommentarlos eine Rechnung hinlegte nach dem Essen. Generell war Alex eher unfreundlich: als Lilith ein Ukulelenkonzert gab, verschwand er in einem anderen Raum und ich hatte auch sonst nicht das Gefühl, dass wir dort von Herzen willkommen waren. Sachiko, Godo und Naomi fand ich allerdings sehr cool und auf jeweils sehr absurde Art und Weise auch ganz unterhaltsam. Wir schliefen schließlich in dem Restaurant selbst auf unseren eigenen Luftmatratzen. Alex machte, als er ging, die Klimaanlage, das W-LAN und das Licht aus. Das ist aus Stromspargründen zwar nachvollziehbar, aber Lilith und ich fühlten uns beide nicht besonders wohl. Am nächsten Morgen fragte ich Alex schließlich, wie man die Klimaanlage bediente, worauf er ziemlich cholerisch reagierte und uns außerdem wissen ließ, dass er grundsätzlich nur eine Nacht hoste und er all seinen Gästen nahe lege, danach für ¥5000 (= 36€) pro Nacht ins schon erwähnte Ine Inn umzuziehen. Machten wir nicht. Lilith legte sich auch kurz noch mit ihm an, dann packten wir unsere Sachen und zogen von dannen. Unser Ziel war erst mal der Strand in dem Dorf Tomari, wo wir den Tag verbringen wollten. Dafür mussten wir durch die Berge wandern, was bei den Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit höllisch anstrengend war. Der Ausblick auf das Meer und die Gegend entschädigte allerdings für vieles. Auf halber Strecke, kurz vor dem Dorf Niizaki nahm uns schließlich eine junge Frau mit, die unglaublich gut englisch sprach. Sie hieß Jun, kam aus der chinesischen Stadt Guangzhou in der Nähe von Hongkong und hat einen Japaner geheiratet, mit dem sie hier auf der Tango-Halbinsel wohnt und zwei Kinder hat. Wir verstanden uns auf Anhieb großartig und ich gab ihr eine Tüte von den Waldmeisterbonbons für ihre Kinder mit, die ich extra aus Deutschland mitgenommen hatte, um sie hier zu verschenken. Jun brachte uns zu dem Strand nach Tomari und auf dem Weg erzählten wir ihr, wie es uns in Ine bisher ergangen war. Sie bot uns an, dass wir die Nacht bei ihr im Haus schlafen könnten, sie müsse das nur noch mit Grandma (ihrer Schwiegermutter, der das Haus gehört, in dem die ganze Familie wohnt) und ihrem Ehemann besprechen. Lilith und ich waren hin und weg. Der Tag, der recht bescheiden begonnen hatte, schien doch noch ziemlich großartig zu werden. Wir verbrachten den Tag an dem kleinen Strand, den wir fast für uns alleine hatten, ich holte mir meinen ersten Sonnenbrand und schließlich kam die SMS von Jun, dass Grandma uns bereits ein karē (= Curry) gekocht hatte und Jun uns um halb drei am Strand abholen würde. Wir trampten zurück nach Ine, kauften eine Flasche Sake als Geschenk, trampten wieder zurück und warteten dort auf Jun, die nicht um halb drei kam, weil sie Probleme mit ihrem Auto hatte. Am Strand lernten wir noch einen US-Amerikaner aus Massachusetts kennen, der seit 10 Jahren in Osaka wohnte und dessen japanischen Kumpel. Es war ein ziemlich entspannter Tag und außer den Libellen, die massenhaft über dem Strand umher flogen, hörte man nichts. Am frühen Abend kam schließlich Jun mit ihrer vierjährigen Tochter Aya und ihrem zweijährigen Sohn Chihiro, die beide ebenfalls englisch konnten. Ziemlich beeindruckend sogar, zumal sie ebenfalls Mandarin von ihrer Mutter und Japanisch von ihrem Vater gelernt hatten. Wir fuhren mit den dreien nach Nii, einem Dorf zwischen Tomari und Ine und verbrachten dort den Abend mit Grandmas Curry, Ayas Barbies und der zauberhaften Jun in ihrem hübschen, traditionell japanischem Haus. Aya und Chihiro fuhren total auf Lilith und mich ab und durften an diesem Abend auch trotz offensichtlicher Müdigkeit länger wach bleiben. Hiromi, Juns Ehemann, kam erst spät von der Abend und ging am nächsten Morgen wieder früh aus dem Haus, aber auch ihn durften wir kurz kennenlernen. Grandma verbrachte die Nacht in Ine und überließ Lilith ihr Bett. Ich schlief auf einem Futon im Wohnzimmer und wurde so als Erster am nächsten Morgen von Aya und Chihiro geweckt. Zusammen mit Jun brachten wir die beiden am frühen Morgen in den Kindergarten, wo uns alle ziemlich aufgeregt empfingen. Ich fand es andersrum aber mindestens genauso spannend, denn es ist schon sehr besonders, so einen intimen Einblick in das Familienleben von Jun und ihrer Familie zu bekommen. Jun nahm sich noch den Vormittag frei um mit Lilith und mir die natürliche Landbrücke Amanohashidate zu besichtigen, eine der drei schönsten Landschaften Japans. Wir wurden von einem starken Regen überrascht, hingen dann erst auf der Landbrücke selbst in einem Pavillion und später in einem Café im westlichen Stil in dem Ort rum und unterhielten uns mit Jun über die Apfelkuchenrezepte unserer Mütter, über die unfassbare Niedlichkeit von Juns Kindern und über einen hoffentlich baldigen Urlaub der Familie in Berlin. Dann brachte Jun uns zum Bahnhof und Lilith und ich fuhren über tausend Umwege (es gab wohl starke Regenfälle in den bergen, weshalb einige Strecken nicht befahrbar waren) zurück nach Kansai. Ich zu Vladymir nach Kobe, sie nach Himeji. Was wir gelernt haben: Nicht alle Japaner sind höflich, hilfsbereit, zuvorkommend und unglaublich nett zu uns. Aber fast alle. Was wir hätten brauchen können: einen Gin-Tonic-Automaten am Strand von Tomari Wen ich grüße: Anne-Marie, an die ich oft denken musste, während Lilith und ich durch die Präfektur Kyoto trampten, weil wir vor einigen Jahren mehrere Wochen lang gemeinsam durch Benelux getrampt sind. Song des Tages: Die japanische Version des Disney Songs Under the sea - weil die Melodie auf Bahnhöfen als Durchsage-Jingle benutzt wird. Und weil's thematisch grad so gut passt.
0 Kommentare
|
weltr/eis/e
Alle
zeit~fliegt
Mai 2018
|