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Schillig & Horumersiel, Niedersachsen Ich wollte nicht weinen. Es war bloß ein Krebs, ich war bloß fünf, ich hatte mich bloß erschrocken. Dann heulte ich doch. Wasser zu Wasser. Neustadtgödens, Niedersachsen Im Sand hinterließ ich rote Spuren, es sah fast schön aus, wie wilder Mohn. Ich weinte wegen meiner Mutter, deren Idee es war, zum Strand zu fahren. Ich heulte wegen meiner Schwester, die in keinen Krebs getreten war. Sie sollten sehen, wie schlecht es mir ging. Sie sollten genauso erschrecken. Groningen, Groningen Ich heulte noch lauter und begann auf einem Bein zu hüpfen. Wenn ich weiter mit beiden Beinen auftreten würde, so dachte ich, wäre am Strandkorb meiner Mutter kein Blut mehr an meinem Fuß. Dangast, Niedersachsen All mein Blut wäre aufgebraucht, würde im Sand zu einer üppigen Mohnwiese wachsen und das wäre zu hübsch und zu harmlos. Der Beweis meiner Verletzbarkeit wäre dahin. Staub zu Staub. Wilhelmshaven, Niedersachsen Ich kam an. Humpelnd, heulend, erschöpft. Schortens, Niedersachsen Ich erzählte von dem Krebs und machte ihn dreimal größer als er war. Ich ließ mich von meiner Mutter in den Strandkorb setzen und sie pustete auf meine Wunde, geschützt vor dem Wind. Jever, Niedersachsen Ich wollte nicht mehr aufhören zu weinen.
Es schien sich unter unseren Fahrern eingebürgert zu haben, uns noch etwas auf den Weg mitgeben zu wollen. Während es bei Ludwig noch ein kühler, aber ostfriesischer Handschlag war, gab uns in Rhede ein LKW-Fahrer sogar eine Tüte Karamellbonbons und wünschte uns viel Glück. Der Familienvater, der uns nach Groningen fuhr, schenkte uns zwei Ausgaben des Kartenspiels, das sein 11-jähriger Sohn erfunden hatte und wir versprachen, es in Berlin auch mal zu spielen. (Die Spielanleitung hatten wir bereits im Auto ausführlich besprochen.) Das Trampen schien in den Niederlanden generell besser zu funktionieren: in größeren Städten sind hier sogenannte 'Lifthaltes' eingerichtet, spezielle verkehrsgünstige Plätze, die öffentlich zum Trampen ausgeschrieben sind. An solch eine Lifthalte stellten wir uns, nachdem wir den sonnigen Tag in Groningen verbracht hatten. Die Müdigkeit steckte uns noch immer in den Knochen und wir wären beide lieber in einen Zug gestiegen, aber wir malten wieder unser Schildchen und stellten uns in der Nähe vom Groninger Hauptbahnhof auf. Gerade als unweit von uns ein Motorradfahrer einen kleinen Unfall hatte und wir vom Trampen abgelenkt waren, hielt jemand an, um uns ein Stückchen die Autobahn entlang mitzunehmen. Die Freude über das Weiterkommen überlagerte unsere Sorge um den Motorradfahrer und wir überließen ihn seinem Schicksal. Unser Fahrer sprach einen unglaublich breiten Groninger Dialekt, sodass Anne-Marie trotz hervorragender Niederländischkenntnisse häufig Mühe hatte, ihm zu folgen. Wir hatten inzwischen eine Regelung gefunden, wer auf dem Beifahrersitz Platz nehmen sollte: immer der, der gerade mehr dazu in der Verfassung war, viel zu sprechen. Langsam etablierte sich bei uns ein Smalltalkschema, das wir mit der Zeit perfektionierten. Wir warfen uns verbal den Ball zu, verfeinerten einige charmante Anekdoten und wurden so zu kurzweiligen Entertainern. Wir legten uns bereits Floskeln zurecht, die am Ende der Fahrt unsere unendliche Dankbarkeit zeigen sollten (Vielen Dank, dass du uns auf unserer Reise ein Stückchen weitergebracht hast!) und stimmten kleine Jubelgesänge an, sobald wir uns dem Ziel näherten. (Wow, das ist echt so toll!) Jeder Fahrer wurde von uns mit dem Gefühl entlohnt, etwas Gutes getan zu haben.
Zwischen den Rastplätzen Hoogeveen und Amersfort, beide irgendwo im niederländischen Nirgendwo, kamen erstmals politische Themen auf. Es bot sich an, denn unser Fahrer war sehr gebildet und wollte uns daran teilhaben lassen. Dass wir von den meisten Dingen während unseres Niederlandistikstudiums schon gehört hatten, verschwiegen wir. Er hatte eine ruhige Stimme, redete langsam und freute sich immer, wenn er irgendeine Information in die Freiheit unserer Köpfe entließ. Die letzte Etappe auf unserem Weg in die niederländische Hauptstadt sollte zugleich auch die seltsamste werden. Nachdem wir bereits anderthalb Stunden auf dem Rastplatz vertrödelt hatten, fiel uns ein junger Mann auf, der alleine in seinem nicht sehr teuren Auto fuhr – unserer Erfahrung nach eine 10 auf der Fahrer-Skala. Tatsächlich schien er auch recht unkompliziert, sah auch in dem Fahrrad auf seiner Rückbank kein wirkliches Hindernis uns mitzunehmen und so waren wir zehn Minuten später auf dem Weg nach Amsterdam. Anne-Marie kam schnell mit ihm ins Gespräch, während er bei geschlossenen Fenstern eine Zigarette rauchte. Keiner weiß mehr genau, an welcher Abzweigung in der Konversation wir falsch abgebogen waren, jedenfalls bot er Anne-Marie relativ zielstrebig Pillen an, die er offensichtlich im Ueberfluss zu besitzen schien. Anne-Marie, Gemütszustand schockiert bis amüsiert, lehnte dieses Geschenk dankend ab. Unser Fahrer ließ sich nicht beirren und erzählte von dem Electrofestival, das er am Wochenende besuchen würde, während er weitere fünf Zigaretten genüsslich hintereinander wegzog. Ich, zusammengepfercht auf der Rückbank, erlebte leichte Erstickungszustände. Schließlich kamen wir in irgendeinem gottverlassenen Vorort von Amsterdam an, nahmen einen Bus Richtung Zentrum und quartierten uns bei Fleur, einer niederländischen Freundin aus Berlin, ein. Kosten/Strecke: 2,60€/263km Was wir gelernt haben: Wie man – theoretisch – drei Tage am Stück wach bleiben kann Was wir hätten brauchen können: Sauerstoffzufuhr Die Segel für die Flucht aus Schortens waren gesetzt und die Winde schienen günstig. Bereits nach fünf Minuten Warten wurden wir nach Oldenburg gebracht. Unser Fahrer machte irgendwas mit Computern, wir beide heuchelten Interesse. Das Gespräch nahm eine ungeahnte Wendung und endete schließlich bei der Russendisko, die er unbedingt mal besuchen wolle. Ein kurzer Moment, in dem mir auffiel, dass uns tatsächlich noch keine Frau mitgenommen hat – trotz vermeintlichem Pärchen-Bonus. Mit dem Bus in die Oldenburger Innenstadt fuhren wir diesmal schwarz, um unsere Weg-Kosten-Rechnung nicht unnötig zu ruinieren. Während wir uns in der Innenstadt mit Freunden trafen, probierten Anne-Marie und ich, eine Schlafmöglichkeit für die Nacht zu organisieren. Außer einem Platz auf nacktem Boden wurde uns jedoch nichts angeboten und wir beschlossen, dass wir auch auf unserem weiteren Weg etwas Aequivalentes finden könnten. Hätten wir bloß da schon gewusst, wie Recht wir damit haben sollten.
Während wir also zwei geschlagene Stunden an der Autobahnauffahrt auf eine adäquate Mitfahrgelegenheit warteten, fielen uns plötzlich eine Menge Dinge ein, die unbedingt noch erledigt werden mussten. Anne-Marie musste beispielsweise dringend Zigarettendrehen lernen (Filterzigaretten wirken zu bourgeois, um zu trampen. Kann in Holland auch sonst von Vorteil sein.), ich hingegen dachte mir aus, wofür einige Kfz-Abkürzungen wirklich stehen. (WTM - Wir töten Menschen, CLP - Christliches Lumpenpack) Nach den oben erwähnten zwei Stunden erlöste uns schließlich Ludwig von der Schmach, unseren Negativ-Warterekord zu brechen und fuhr mit uns nach Leer. Ludwig kam aus Leer, hatte uns bereits vor zwei Stunden mal gesehen und nun Mitleid bekommen. Ludwig sprach mit solch einem starken ostfriesischen Dialekt, dass Anne-Marie sich völlig aus dem Gespräch ausschaltete und ich umso mehr selbigen adaptierte. Wir redeten über Leer und Berlin, probierten Gemeinsamkeiten zu finden und verwarfen diesen Versuch sofort wieder. Ludwig war sympathisch und ich hätte ihn trotz seiner 38 Jahre gerne als Großvater adoptiert. Auch weil ich der Grund war, warum er angehalten hat. „Ich bin nicht schwul, aber nur eine Frau – da hätte ich nicht angehalten. Wer weiß, was die einem dann später anhängt.“ Aus Ludwig schien das Leben zu sprechen und da diese Sympathie offensichtlich beiderseitig aufkeimte, fuhr er uns sogar bis zum Leeraner Bahnhof, an dem er die größten Chancen auf Weiterfahrt vemutete. Außer einer Gruppe Spanier, die versehentlich nicht in den Zug zum Bremer Flughafen eingestiegen sind, und einem Taxifahrer, der das große Geschäft witterte, war weit und breit niemand zu sehen. Hin und wieder fuhren ein paar Jugendliche in ihren tiefergelegten Autos vorbei, um fünf Runden in dem Kreisverkehr zu drehen. Eine junge Frau bot sich außerdem an, uns in die Jugendherberge zu bringen – oder auch früh um 6 Uhr zur niederländischen Grenze. Letzteres nahmen wir an und tauschten Handynummern mit Eyla. Weil auch sonst keiner nach Holland wollte, beschlossen Anne-Marie und ich, die Leeraner Innenstadt zu erkunden. Unsere Müdigkeit hielt uns nicht davon ab, den erstbesten (und vermutlich einzigen) Laden zu betreten. Es war das Jameson's Pub am Mühlenplatz und man kann guten Gewissens sagen, hier brummte der Bär. Die Bandbreite an Menschen war kaum zu übertreffen. Da wäre zum einen Petra, die Dame hinter der Bar, die förmlich darauf wartete, dass endlich jemand ihre groß angekündigten Sommercocktails bestellte. Noch bevor wir einen Schluck nehmen konnten, plauderte sie schon das Rezept aus. An der Bar saß ein Mann, der mit seiner wasserstoffblonden Lockenmähne einer norwegischen Version des frühen Jon Bon Jovi glich; neben ihm Willygo, der zu späterer Stunde noch das Gespräch mit Anne-Marie suchte. „Das ist'ne tolle Locke“, lallte er und meinte ihre Frisur. „Und schöne Augen hast du auch.“ Bevor er noch weitere Körperteile lobhudeln konnte, stand allerdings schon das Taxi bereit, das Petra ihm gerufen hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass, wenn man schon an einem Donnerstagabend in irgendeiner deutschen Kleinstadt stranden musste, es doch wenigstens Leer sein musste. Um kurz vor 3 verließ uns schließlich der Partyesprit und wir schlugen mangels Alternativen in der Bankfiliale gegenüber unsere Zelte auf. Es war unbequem auf dem Fliesenfußboden und angesichts der drohenden Erniedrigung hier vorgefunden zu werden, konnten wir kaum ein Auge zu tun. Ich fragte mich, was meine Mutter nun wohl von dieser Situation finden würde und ob das nicht etwas zu viel des Abenteuers sei. Ich stellte mir vor, wie wir doch einschliefen und am nächsten Tag von der ersten Bankangestellten überrascht werden würden. Ich überlegte außerdem, wie viel ein Taxi von Leer nach Berlin wohl kosten mag. Aber alles half nichts, auch die schlimmste Nacht unserer bisherigen Reise ging vorüber und wir standen um 6 Uhr frisch wie Zahnpasta auf dem Bahnhofsvorplatz, um Eyla zu treffen. Eyla hätte Ludwigs Tochter sein können. Sie war genauso witzig, ohne irgendwelche Pointen betonen zu müssen, der gleiche ostfriesische Singsang. Eyla war viel gereist, immer per Anhalter. „Irgendwann wollte ich eine Woche abschalten in Dänemark. Ich hab dort so viel gekifft, dass ich am nächsten Tag in Paris aufwachte und nicht wusste warum.“ Anne-Marie und ich schauten uns verwundert an ob dieser unerklärlichen Magie. Kurz vor Rhede an der Ems schubste Eyla uns in die Morgendämmerung und empfahl uns das Frühstück „bei Rudi“. Rudi empfahl uns nach dem Frühstück eine geeignete Stelle zum Trampen. Klappte anfänglich eher nicht so gut, aber schließlich nahm ein junger Niederländer uns über die Grenze mit und setzte uns in Winschoten wieder aus. Dort gaben wir unser Bestes, um schnell weiter zu kommen. Die Niederländer schienen anfangs auch tatsächlich freundlicher als die Deutschen; sie winkten, lächelten uns zu und hupten – aber keiner hielt an. Nach einer Stunde erbarmte sich ein Familienvater und fuhr uns nach Groningen. Auch er hatte uns schon auf dem Hinweg gesehen und auf dem Rückweg Mitleid bekommen. Kosten/Strecke: 0€/217km Was wir gelernt haben: Plattdeutsch, von Ludwig Was wir hätten brauchen können: Freunde in Leer |
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Mai 2018
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