Etappe 1 Von Berlin-Mitte mit der Regionalbahn nach Berlin-Spandau. Vier alte Frauen mit Rollkoffern verkeilen sich im Zug. In Schönwalde-Siedlung Milchkaffee bei Diana, in Schönwalde-Glien Bier und Weinschorle im Schlossgut. Seelen baumeln noch einen Takt zu schnell. In Bötzow hatte noch ein Imbiss auf. Das Cordon Bleu war zu bleu. #prignitzpeople #pilgeryolo #cotzeband Etappe 2 Als wir Bötzow verlassen, kippt die Stimmung ins Havelwasser. Durch den Krämer Forst laufen Katharina und ich stundenlang getrennt. Gedanken an Postkutschen und Meilensteine. In Flatow lernen wir die ruppige Herzlichkeit der Brandenburger zu schätzen. Wieder versöhnt laufen wir in Linum ein, als sich der Tag gerade verabschiedet. Wir schlafen im Pferdestall hinterm Kleinen Haus. #sachtihnendisnochwat? Etappe 3 Bevor wir aus Linum aufbrechen, werden Svea, Hennes und Theo getauft. Schwester Anneliese, die dorfeigene Nonne, wünscht uns Lebewohl. Mir bleibt der schönste erste Blick nach dem Aufwachen. Am Flüsschen Rhin fließt zentiliterweise Sake. Über Tarmow (ahja.) geht es weiter nach Fehrbellin (hübsch.) und durch das Luch nach Protzen. Zwischendurch geteekesselt: Ball, verlegen, Krebs, Kater, Löwenzahn. Unsere neuen Gastgeber kochen Dänisches und plaudern. #schwesteranneliese #r.e.s.p.e.c.t. Etappe 4 Die Höllenetappe. In Protzen mit Geschichte Zeit vertrödelt, hinter Garz nicht abgebogen und versehentlich nach Nackel reingelaufen. Frisch zum doofsten Dorf der Mark gekürt, bricht bei Barsikow eine Hungersnot mittelalterlichen Ausmaßes aus. Hinter Metzelthin entknotet sich auf einem historischen Pilgerweg meine teure Regenjacke von meinem Rucksack und bleibt dort liegen. Adieu, Regenjacke. Adieu, gute Laune. In Wusterhausen, dem Florenz der Prignitz, essen wir Pasta, am malerischen Klempowsee trinken wir Eierlikör mit Weintrauben. Die Nacht erreicht Kyritz vor uns. Der Zimmerschlüssel liegen im linken Blumentopf. Meine Füße tun sechsunddreißigkilometerweh. #fucknackel #wunderblutblase Etappe 5 Am Vorabend kaum vorstellbar: wir laufen weiter. Bei einem Stadtbummel durch Kyritz besorgen wir Schuhsohlen, Heuschnupfentabletten, Blasenpflaster und andere hippe Lifestyle-Artikel. Alliterationen heben die Laune: Katharina, der Köter, Kaffee, Kerzen und Kuchen in Kyritz. In der Kirche erwischt Katharina eine Frau beim Furzen. Über Rehfeld und Berlitt schlendern wir schließlich nach Barenthin, flechten Blumenkränze und picknicken ausgiebig. So ausgiebig, dass es unsere betagte Gastgeberin in Kötzlin ganz raschelig macht. #furzeninderkirche #ditessenwirdkalt #icherwartesie Etappe 6 In Kötzlin schaffen wir es zum ersten Mal, früh aufzubrechen. Vorher verirrt sich Joppie noch in den zweihundertzweiundzwanzig Zimmern unserer Gastgeberin. An Söllenthin vorbei, fragen wir in Klein Leppin nach Kaffee und bekommen eine Führung durch Oper und Schweinestall. Groß Leppin (auch Great Lapin, Grand-Lêpin, Groot-Lepen oder Gran Lepino) erinnert in seiner Rotbacksteinigkeit an Hamburg. In Plattenburg feiern wir bei Burgbräu die letzten vor uns liegenden Schritte und schreiben Postkarten. Völlig euphorisch (= besoffen) tanzen wir schließlich nach Bad Wilsnack. Upside down. Boy, you turn me. Der Himmel geht auf. #wa? #süßerapfel Etappe 7 Die Etappe, die keine mehr ist. Sightseeing in Wilsnack. Souvernirshopping in der Wunderblutkirche. Große Gefühle: wir haben's geschafft. Mit dem Zug nach Wittenberge, von dort aus mit dem Schulbus nach Lenzen. Nach einem Kaffee, den uns die unfreundlichste Kellnerin der Prignitz brachte, die letzten Kilometer runter zur Elbe. Gegenüber von Pevestorf auf die Fähre. #holzbricketts #pekingentesüßsauer #nuttigekreolen #coffeetogo #undeincroissant 1 Hund.
2 Menschen. 7 Tage. 15 Stempel. 22 Kirchen. 150 Kilometer.
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Mit mindestens 371 Millionen Klicks ist „Wrecking Ball“ von Miley Cyrus das meistangesehene Video auf Youtube. Für die Popkritik ist das kein Grund, sie ernst zu nehmen. Es gibt wahrscheinlich Millionen Gründe, Miley Cyrus blöd zu finden. Sie prostituiere sich für die Musikindustrie, attestierte ihr beispielsweise kürzlich One-Hit-Wonder Sinéad O’Connor in einem offenen Brief – nicht ohne einen etwas neidvollen Unterton. Miley schaukelt nackt auf einer Abrissbirne, gibt einem Vorschlaghammer einen Blowjob und twerkt bei öffentlichen Auftritten gerne mal an den Lenden irgendwelcher Männer herum. In ihrem Video zu „We can’t stop“ verherrlicht sie den Konsum von MDMA und während der European Music Awards 2013 in Amsterdam zündet sie sich einen Joint an, als sie einen ihrer Preise entgegen nimmt. Und auch wenn man all die Skandale der jüngeren Vergangenheit beiseite schiebt, lassen sich auch musikalisch genügend Gründe finden, warum man Miley Cyrus auf keinen Fall ernst nehmen kann. Als Tochter des konsens-peinlichen Neunziger Jahre-Contrysängers Billy Ray Cyrus ist Miley die Uncoolness quasi schon per Geburt verliehen. Außerdem: ihre Musik ist zu durchproduziert, ohne erkennbaren künstlerischen Anspruch, die Message fehlt. Miley Cyrus sei der personifizierte peinliche Pornodialog, so der allgemeine Kanon. Lieber vorspulen.
Auf der anderen Seite stehen mindestens 371 Millionen Klicks bei Youtube, mit denen ihr Video zu „Wrecking Ball“ im Jahr 2013 zum meistgeklickten Video des Jahres wurde. Man kann sich zu den Klicks 371 Millionen ebenso wenig ernstzunehmende twerkende Teenager vorstellen und damit weiterhin Cyrus’ Relevanz wegdiskutieren, wie es einige Vertreter der Popkritik aktuell gerne tun. Man kann sich andersrum aber auch fragen, welche Relevanz eine Popkritik hat, die das Pop-Phänomen Miley Cyrus mit ihrem unstrittigen Erfolg als „Interessantismus“ abtut. Es sind gleich mehrere Gräben, die zwischen Miley Cyrus und den Feuilletonisten und Popkritikern der alten Schule verlaufen. Zuerst einmal das Medium: in einer Branche, die immer noch keine wirksame Medizin für den siechenden Printjournalismus gefunden hat, gelten Youtube-Klicks erstmal per se als unseriöse Größe. Der Erfolg im Internet steht immer noch in dem Ruf, ein impulsiver und damit unehrlicher zu sein. Ein Internethype ist nicht nur weitgehend unberechenbar und schwer messbar, sondern zudem auch – im Gegensatz zur verkauften Zeitung – für sich genommen erstmal kein Geld wert. Dazu kommen Geschlecht und Alter: während beinahe greise Musiker wie Bob Dylan, David Bowie oder Eric Clapton noch für jeden Ton gelobt werden, den sie auf Platte pressen, haben es junge und weibliche Musiker oft schwer, von der Popkritik ernst genommen zu werden. Das liegt nicht nur in der ganz offenen Skepsis gegenüber Castingshows und Youtube begründet, sondern auch in der Tatsache, dass Popkritiker und Feuilletonleser selbst überwiegend eher alt und männlich sind. Etwas überspitzt ausgedrückt bedeutet das: alte Männer schreiben für alte Männer über alte Männer. Dass Miley Cyrus in dieser Rechnung nur noch das verkorkste Porno-Pop-Sternchen bleibt, leuchtet ein. Die arrivierte Popkritik ist aber häufig ebenso geschmäcklerisch, uneindeutig und für den gemeinen Musikhörer schwer nachvollziehbar wie der spontane Hype auf Youtube. Außerdem hat das Internet die Popkritik inzwischen demokratisiert. In Youtube-Maßstäben ist der Klick jedes Feuilletonisten eben genauso viel wert wie der einer pubertierenden Nachwuchstwerkerin. Ein Mensch, eine Meinung, ein Like-Button. Ähnlich verhält es sich mit der Moralkeule, die Feuilletonisten im Bezug auf die erst 21-jährige Cyrus gerne schwingen: mal ehrlich, wie porno ist denn überhaupt eine nackte Miley auf einer Abrissbirne in Zeiten des Internets überhaupt? Fraglich ist auch, ob andere 21-jährige Frauen, die Aufregung um Cyrus’ Nacktheit teilen. Das, was Sinead O’Connor sofort als Prostitution und Fremdbestimmung erkannt haben will, haben jüngere Frauen – und im Übrigen auch Cyrus selbst – vielleicht eher als sexuelle Selbstbestimmung interpretiert. Und mal ehrlich: so bizarre Asexualitäten wie Vorschlaghammer und Abrissbirnen lassen tatsächlich mehr Spielraum für irgendwelche Interpretationen und Meta-Bedeutungen, als eine popowackelnde, halbnackte Beyoncé oder eine sich räkelnde, ironisch verkleidete Lady Gaga. Dass ein Popkritiker oder ein Feuilletonleser diese Interpretation nicht sehen, heißt im Internetzeitalter schließlich auch nicht, dass es sie nicht gibt. Ein Mensch, eine Meinung. Sarah Schmidt: Eine Tonne für Frau Scholz
Es ist wirklich schade, dass Sarah Schmidt nicht 5 Bücher pro Jahr schreibt. Ich würde sie alle kaufen und lesen. Immerhin ist nun das sehnlichst erwartete vierte Buch von ihr im Verbrecher Verlag erschienen und ich habe natürlich schon längst mal reingelesen. In "Eine Tonne für Frau Scholz" geht es um die titelgebende, herrlich fiese und griesgrämige Berliner Rentnerin Frau Scholz und der ebenfalls gut kaltschnäuzigen Ich-Erzähler-Nachbarin. Beide natürlich ultraliebenswert dabei. Klingt für mich nicht nur nach einem realistischeren, sondern auch erstrebenswerteren Ruhestand, als hundertjährig aus irgendwelchen schwedischen Fenstern zu springen. Benjamin Stein: Das Alphabet des Rabbi Löw Benjamin Stein hat seinen Debütroman im Verbrecher Verlag neu herausgebracht und die absolute Deluxe-Ausstattung bekommen. Mit hochwertigem Leineneinband und Lesebändchen ist "Das Alphabet des Rabbi für Löw" auch für die Buchprolls unter uns (zu denen ich mich ausdrücklich zähle!) ein lohnender Kauf. Naja, und diejenigen, die nur auf innere Werte stehen, werden Benjamin Stein vermutlich sowieso schon kennen. Ich war kürzlich bei ihm auf der Lesung und bin nach zwei Kapiteln Geschichte-in-der-Geschichte-Geschichten im mythischen, jüdischen Prag neugierig geworden und freue mich auf die Lektüre. René Hamann - Monogold Der SuKuLTuR Verlag, den wir Buchmenschen ja eh total lieben, hat in dem Leseheft "Monogold" Auszüge aus René Hamanns witzig-nachdenklich-charmant-anregend-glitzerndem Blog "Die Suche nach dem Glam" gedruckt. Und dass wir René Hamann ebenfalls total lieben, ist klar, weil er mit Veröffentlichungen im SuKuLTuR Verlag, im Verbrecher Verlag, der Parasitenpresse, bei Tisch 7 und dem Gutleut Verlag quasi der personifizierte Indiebookday ist. Twitterphänomen Ada Blitzkrieg hat ihre erste Geschichte auf herkömmlichem Papier veröffentlicht – und dabei doch wieder alles anders gemacht. Eine Kurzkritik. An der Supermarktkasse anstehen. Die Katze in der Altbauwohnung begrüßen. Kurz mal in das Fabrikloft einer Werbeagentur stiefeln und einen Werber für seinen beschissenen Slogan umnieten. Dem Freund abends Nudeln kochen. Das sind vierundzwanzig Stunden aus dem Leben von Hanna, der Protagonistin aus Ada Blitzkriegs Kurzroman Die Strenge. Ach, und ein Gewitter gab’s auch.
Surreal ist an Die Strenge nicht nur der lässig beschriebene Mord, der den ebenso unprätentiösen Großstadtalltag von Hanna und ihren Mitmenschen kaum zu tangieren scheint – vielfach surreal ist vor allem die Kunstfigur hinter der Geschichte. Ada Blitzkrieg gehört mit ihrem Account @bangpowwww zum Hochadel der deutschen Twitteria – im Gegensatz zu Sarah Kuttner oder Miriam Pielhau fußt ihre Popularität allerdings nicht auf einer gleichzeitigen Fernsehpräsenz. Auch literarisch beschreitet Ada Blitzkrieg ungepflasterte Pfade: ihr Debütroman Dackelkrieg erschien 2012 ausschließlich als E-Book und ohne Verlag bei Amazon, Die Strenge ist im Jahr 2013 in der Schöner Lesen-Reihe des Berliner SuKuLTuR Verlags erschienen. Außerdem seien hier noch die gut 23.000 Tweets erwähnt, die das Œuvre der Ada Blitzkrieg komplettieren. Dass sich der SuKuLTuR Verlag, der seine gelben Lesehefte über Süßwarenautomaten vertreibt, und Twitter-Königin Ada Blitzkrieg für diesen Text zusammengefunden haben, ist sicher kein Zufall. Beide vereint ein Faible für die Kürze. Wenn Thomas Manns Die Buddenbrooks literarisch einer mehrwöchigen Postkutschfahrt entlang der Ostsee entspräche, wäre ein Schöner Lesen-Heft die U-Bahnfahrt zum Kreuzberger Lieblingsclub und ein Ada-Blitzkrieg-Tweet der Wodkashot, den man sich bei der rotzigen Barkeeperin abholt. Gerade weil sich Popkultur und -literatur zwingend auf die Gegenwart beziehen, können sie im digitalen Zeitalter deshalb vielleicht gar nicht mehr in epischer Breite stattfinden. Wie gegenwärtig kann Literatur schließlich noch sein, wenn man die Zeit mitdenkt, die ein Autor braucht, um 700 Buchseiten zu füllen? Wolfgang Herrndorfs Blogeinträge in Arbeit und Struktur sind ein aktuelles Beispiel für die Verkürzung des Pop, das Ringen um Gegenwärtigkeit. Umgekehrt muss dann auch gelten: Ada ist Pop, weil kurz. Gleichzeitig entspricht es dem popkulturellen Dogma der Echtheit, wenn das Buttermilchmärchen Die Strenge in Fressautomaten neben Schokoriegeln und Erdnüssen selbst zur konsumierbaren Ware wird und durch das Automatenglas für sich selbst wirbt. Nicht zu sehen ist dort übrigens der kurze Klappentext: SO LEICHT WIE DAS LEBEN. Der beschissene Werbeslogan, für den Hanna töten musste. Nächte im Berghain sind lang und exzessiv. Der Blogger Airen hat daraus einen erstaunlich gefühlvollen Roman gemacht. Das Berghain ist dreckig, verdrogt und dekadent. Immer mal wieder schleichen sich die Feuilletonisten verschiedener Blätter durch die schummrigen Gänge des Friedrichshainer Klubs, um wenig später der abendländischen Kultur den Tod durch Überdosis zu prognostizieren. Nicht nur, dass der damals siebzehnjährigen Helene Hegemann im Jahr 2010 von den strengen Türstehern der Einlass gewährt wurde, sondern dass sie auch noch die Seiten ihres Debütromans Axolotl Roadkill mit dem dort erlebten Exzess füllte, wurde dementsprechend kontrovers diskutiert. Als herauskam, dass die Textstellen beinahe unverändert aus dem Roman Strobo von dem Berliner Blogger Airen übernommen wurden, war sich die Kritikergarde überraschend einig: das für seinen authentischen Stil gelobte Wunderkind muss nun mit seinem Gesicht herhalten für einen pervertierten Berliner Kulturbetrieb. Die metaphorischen „eimerweise Scheiße“, die im Folgenden auf Hegemann niedergingen, galten somit indirekt auch dem Berghain und Airen, beide gesichtslos. Allen dreien tut man damit Unrecht, denn Airens Wochenenden im Berghain sind neben all dem Dreck, den Drogen und der Dekadenz nämlich vor allem eins: ziemlich deep. Deepes Glück fühlt man, wenn man mit dem Ich-Erzähler auf das Einsetzen der dröhnenden Techno-Beats wartet. Dieses absurde Gemeinschaftsgefühl, das nur eine Gruppe tanzender Samstagnachtgestalten fühlen kann. Die Stille dazwischen, in der der Protagonist kurz einen wildfremden Menschen anschaut und sie gemeinsam hoffen, dass der Moment nicht vorbeizieht. Wobei „vorbei“ eines der Wörter ist, das in Airens tagebuchartigen Aufzeichnungen äußerst selten vorkommt. Irgendwas kommt schließlich immer nach dem Ende. Und etwas anderes hinter dem Danach. Was sich anfangs noch als wilde Selbstzerstörung liest, fängt schnell an Spaß zu machen, weil es auf eine groteske Weise auch sehr lebensbejahend daher kommt: alles soll immer weiter gehen, immer schneller und plötzlich ist man mittendrin, in Airens Trip. Man will die Lektüre beschleunigen, findet die Leerzeichen vor den Wörtern plötzlich genauso unerträglich, wie der Protagonist die Ruhe vor dem Beat. Klar wird gefummelt und gefickt, geklaut und gekokst, aber das ist im Grunde nebensächlich. Es sind die großen Gefühle, die hängen bleiben: der Tag danach zum Beispiel, das quälende Depri-Kapitel nach dem grenzenlosen Exzess, die deeptraurigen Zeilen. Airen beschreibt die klaffende Leere am Montagmorgen so echt und existenziell, dass es einen friert. Wer bis hier hin gelesen hat, ohne selbst schon im Berghain gewesen zu sein, der wird jetzt auch nicht mehr hinwollen. Wunderbar abgefuckt sind auch die verschiedenen Figuren, die der Protagonist auf seinen Wegen durch das Berliner Nachtleben trifft. Seine romantische Begegnung mit einer namenlosen, rothaarigen Italienerin, die auf der Berghain-Toilette ihr Speed mit ihm teilt, wirkt tatsächlich auch auf den nüchternen Leser genauso rührend. Mit dem Netten Fucker, regelmäßig noch mehr zugedröhnt als Airen selbst, wäre man selbst fast gern befreundet, weil er, nunja, eben so ein verdammt netter Fucker ist. Wo Literatur sonst probiert, das gestern und morgen zu analysieren oder das heute zu dokumentieren, lebt Strobo vom Understatement: echt ist, was sich echt anfühlt. Airens Strobo blendet deeper als die Sonntagmittagssonne über der Panorama Bar und ist aufregend wie letzten Meter vor dem Türsteher. Mit diesem Roman hat Airen 250 Gramm pure Popliteratur geschaffen, von der man nur schwer lassen kann, wenn man sie einmal in die Hände bekommen hat. Das ist zwar zu wenig, um gleich die gesamte abendländische Kultur untergehen zu lassen. Aber genug, um sie auf einen echt guten Trip zu schicken. Cottbus habe ich mir immer sehr grau vorgestellt. Umso überraschter war ich, als die Stadt sich mir in satten Farbtönen präsentierte. Ich fühlte mich regelrecht geblendet. An einem der letzten schönen Herbsttage des Jahres betrat ich also ein Geschäft in der Cottbusser Innenstadt, in dessen Auslage ich eine hübsche Sonnenbrille entdeckt hatte. Sie war aus Holz, der Rahmen hellbraun, die Bügel dunkel, schlichte Form. Ich weiß, dass man materiellen Dingen keinen allzu großen Wert zuschreiben soll, aber ich war sofort verliebt. Sie sah sehr besonders aus. Der Cottbusser Einzelhändler wusste das und verlangte auch einen besonders hohen Preis. Ich zögerte und dachte an all die billigen Sonnenbrillen, die ich bereits verloren hatte. Bei dieser hier würde es anders sein, schwor ich mir, und außerdem gönnt man sich ja sonst nichts. Ich trug die Brille einen ganzen Tag in Cottbus, dann kam der Winter. Die Wartezeit nutzte ich, um meinen restlichen Kleiderschrank farblich auf meine neue Sonnenbrille abzustimmen. Ich kaufte eine hellbraune Hose, einen dunkelbraunen Gürtel und freute mich auf den Frühling. Wir würden großartig aussehen, meine Holzsonnenbrille und ich.
Mit den ersten Sonnenstrahlen holte ich meine Holzbrille aus ihrer Schachtel, zog die farblich passende Garderobe an und spazierte den ganzen Tag stolz durch Berlin. Schaut alle her! Sie ist aus Holz, per Hand gefertigt, ist sie nicht schön? In U-Bahnhöfen und dunklen Räumen hängte ich sie mir lässig an den Kragen meines T-Shirts. Abends traf ich eine Freundin in einer Bar am Kottbusser Tor. So sehr ich meine Brille auch trotz Dunkelheit hätte tragen wollen, war mir doch bewusst, wie albern das ausgesehen hätte. Ich legte sie auf die Theke und bestellte ein Bier. Weil ich den ganzen Tag in der Sonne gesessen hatte, war ich schnell beschwipst. Erst zuhause fiel mir auf, dass meine geliebte Holzsonnenbrille aus Cottbus weder an meinem T-Shirt hing noch auf meiner Nase saß. Ich machte mir auch nicht die Illusion, zurück zum Kottbusser Tor fahren zu können und sie dort wiederzufinden. Irgendein Kotti-Hipster hatte sie sicher längst gefunden und mitgenommen. Hose und Gürtel kann er dann jetzt eigentlich auch haben. aus Berliner Zeitung, Nr. 291, 12.12.2012, S. 28
& Frankfurter Rundschau, Nr. 290, 12.12.2012, S. 38 (Den vollständigen Text von Dirk Pilz kann man hier nachlesen; was der Papst dann wirklich twitterte, findet man hier.) Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier. Ich steige am Alexanderplatz in den RE1 nach Frankfurt (Oder) und habe zwei Bücher dabei. Das Erste hat mein Vater mir geschenkt, es heißt Berlin – New York und ist eine Kolumnensammlung von Alexander Osang. Das Zweite schenkte mir ein guter Freund mit einer ausgeprägten Osteuropaaffinität, trägt den Titel Berlin – Moskau und ist ein Reisebericht von Wolfgang Büscher. Berlin ist die Mitte der Welt, könnte man denken und zumindest im Zug nach Frankfurt (Oder) denkt das sicherlich jeder. Die Braut zwischen den Bräutigamen New York und Moskau. Es ist aber eher so: Berlin ist der Treffpunkt von West und Ost, da spricht die Geschichte für sich selbst. Die Buchtitel Berlin – Kapstadt und Berlin – Murmansk erscheinen mir dann auch gleich etwas weniger auf der Hand liegend.
Osangs Berlin – New York bekam ich unverhofft von meinem Vater aus der westdeutschen Provinz geschickt, aus der ich auch selbst stamme. Osang für seinen Teil ist ein Ossi, den es nach Westen zog. Bei Büscher ist es genau andersrum: er ist ein Wessi, der sich zu Fuß auf den Weg nach Osten macht. Über zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer sind Westen und Osten in meinem Alltag mehr als bloße Himmelsrichtungen und offensichtlich auch der Buchbranche die eine oder andere Publikation wert. Mein Lebenslauf ist durchweg Westen, sinniere ich. Die friesische Heimat: tiefster Westen. Meine Kreuzberger Wohnung: knapp Westen. Studium der Niederlandistik: wide, wild west. An der Freien Universität: mit der U3 raus Richtung Westen. Mein Zug fährt gerade in Berlin-Ostbahnhof ein. Die Millionenstädte Berlin und New York werden bei Osang als konträre Antonyme dargestellt: seine etwa dreiseitigen Erzählungen finden entweder in der einen oder in der anderen Stadt statt. Selten im Flugzeug dazwischen, hin und wieder ganz woanders. Er erläutert dann auch an einer Stelle selbst, dass der Buchtitel etwas irreführend ist. Der Clou an den Texten ist natürlich, dass der in der damaligen DDR geborene und sozialisierte Osang aus der inoffiziellen Hauptstadt der westlichen Welt berichtet. Er reist von Osten aus an und nur aus dieser Richtung, so scheint es, kann die Opposition zu New York funktionieren. New York, sonst oft stilisiert zu einem märchenhaften Über-Ort, Topos für Generationen von Träumen, erhaben von allen Zuordnungen, ist für Osang häufig doch einfach nur Amerika, der Westen oder schlicht Nicht-Berlin. Alexnder Osang ist der John Wayne der letzten Sätze und allein für diese letzten Sätze lohnt es sich, seinen teils wirren Gedankengängen zu folgen. Dass Büscher in Westdeutschland geboren und aufgewachsen ist, erschließt sich aus der Lektüre seines Reiseberichtes kaum. Im Gegenteil: die intensive Auseinandersetzung mit allerlei seltsamen polnischen, weißrussischen und russischen Figuren legt nahe, dass er zumindest einer slawischen Sprache mächtig ist. Seine Erzählung folgt chronologisch den Etappen seiner Reise, die Kapitel markieren die Grenzübergänge. Auch ich überquere gerade eine Landesgrenze, als mein Zug in das brandenburgischer Erkner einfährt. Über dieselbe Route verließ auch Büscher Berlin. Wortgewandt und geistreich beobachtet er Landschaft und Leute, macht die Geschichte zu Geschichten und hinterlässt den Leser einige Male mit dem Gefühl, dass seine Reise durch das osteuropäische Nibylandia so grotesk und sagenhaft wohl kaum wirklich vonstatten gegangen sein kann. Büscher blickt häufig zurück, nach Westen, nach Berlin, viel häufiger aber schaut er nach vorn, nach Osten, wo Moskau die gesamte Erzählung über still leuchtet wie ein schwer zugänglicher Stern. Berlin und Moskau sind in Büschers Erzählung dann auch eher graduelle Antonyme: mit jedem Schritt, den er sich von Berlin entfernt, wird es etwas moskauischer, mit jedem Schritt, den er sich Moskau nähert etwas weniger berlinerisch. Während wir Fürstenwalde erreichen, probiere ich ebenfalls nach vorn, nach Osten zu schauen. Studium an der Viadrina: klar, Osten. Meine Freunde: aus’m Osten, die meisten. Die Sommerurlaube meiner Kindheit: im Osten, kurz nach der Wende. Das Päckchen polnische Zigaretten in meiner Hosentasche: Ostenosten. Osten, das ist so ein Wort, das will man gern von sich wegschieben. Ich bin in einem Landstrich großgeworden, der geographisch zu Ostfriesland gehört, aber wenn mich jemand darauf anspricht, bestehe ich auf „Friesland“, obwohl das namensgebende Friesland weit westlicher, jenseits der niederländischen Grenze liegt. Und für die Niederländer sind wir sowieso alle Ossis. Ich habe mal gelesen, dass es ein keltisches Volk auf den Britischen Inseln gibt, das die Nordsee „Ostsee“ nennt, was ja nur logisch wäre. Die Abgrenzung nach Osten ist wichtig und Hauptsache, man gehört selbst nicht dazu. Westen ist zwar nicht per se gut, aber Osten ist irgendwie marode und rückständig, so viel steht fest. Auf Osten reimt sich „rosten“ und „Pfosten“, auf Westen reimt sich „Cowboy“. So erzählt man sich das. Dabei kann ja nicht alles Westen sein, eigentlich kann gar nichts Westen sein. Auch New York ist Osten, wenn man einen Texaner fragt. Das tut nur eben keiner. Büscher beschreibt das so: „Der Osten ist etwas, das keiner haben will. Das sich jeder von der Jacke schnippt wie Vogeldreck. Die Ostjacke verschenken alle gern, sie wird in östlicher Richtung weitergereicht. Hatte ich in Brandenburg gefragt, wo der Osten anfange, war die Antwort gewesen: drüben in Polen natürlich. Frage ich in Polen, hieß es: Der Osten fängt in Warschau an, na ja, im Grunde gehört Warschau schon dazu. Man versicherte mir, Westpolen und Ostpolen, das könne man nun wirklich nicht vergleichen, das sei doch etwas ganz anderes, ich werde schon sehen, wenn ich erst einmal östlich von Warschau sei. Eine andere Welt – provinzieller, ärmer, dreckiger. Östlich eben. Ostig, wie wir daheim sagen. Zonig. Östlich von Warschau stand die Antwort wiederum außer Zweifel: einfach die Landstraße nach Białystok hoch. Alles, was links von ihr liegt, westlich, ist katholisch, mithin gut polnisch. Was rechts von ihr liegt, ist weißrussisch-orthodox. Wo also beginnt der Osten? [...] Der Osten wurde weiter und weiter gereicht, von Berlin bis Moskau. Bis kurz vorher, um genau zu sein, denn Moskau, so viel sei vorweggenommen, Moskau ist wieder Westen.“ Mein Zug fährt in einen Vorort von Frankfurt ein, der Rosengarten heißt, und das finde ich hübsch. Ich sehe keine Rosen und eigentlich ist es hier genauso ostig wie in jedem Malchow und Wustrow, aber auch der Osten hat seine Zeit, denke ich. Irgendwann wird sich die Welt andersrum drehen, oder vielleicht tut sie das schon. Die ewige Frage nach Osten und Westen ist eine moderne Gralssuche: ein Ergebnis gibt es womöglich gar nicht, interessant ist lediglich, wer da so sucht und von welcher Lösung wir uns am liebsten einlullen lassen wollen. Alexander Osang ist gern bereit, auch mal andersrum zu rotieren: „Neulich hat mir ein Berliner Filmproduzent bei einem Abendessen im Himmel von Manhattan erzählt, ihn habe New York immer gelangweilt. Bis er begriffen habe, dass es hier wie im Osten sei. Er hat es etwas komplizierter ausgedrückt, aber das meinte er wohl. Ich war erst ein paar Stunden in der Stadt und habe es für Filmproduzentengerede gehalten. Ein schnelles Bild zwischen zwei Cocktails. Dresden ist das Köln der Nachkriegsjahre. Prag das Paris der Zukunft. Chicago ist das Moskau der Pokemongeneration. Jeder, der schlau wirken will, auch wenn ihm gerade nichts einfällt, greift zur Analogie. Aber, was soll ich sagen? Der Mann hat nicht unrecht.“ Es ist ein ständiges Zerren, nach Westen und nach Osten, nirgendwo spürt man das mehr als in Berlin. Wenn es einen Ost- und einen Westpol gäbe, sie lägen alle beide in Berlin, die Kompasse dieser Welt würden alle Menschen hier her führen und irgendwie tun sie das ja schon. Wie oft habe ich schon süffisant gelächelt, wenn mich jemand nach Friedrichshain eingeladen hat. Für mich klingt das, als solle ich auf einem Gaul ins exotische Morgenland reiten. Die Freundschaften zerbrachen und Friedrichshain wurde zu meinem Moskau, von dem ich immer einen gefühlten Tagesmarsch entfernt bleiben sollte. Der Zug fährt in Frankfurt ein und ich verstaue beide Bücher in meiner Tasche. Mein Seminar beginnt bald und ich laufe eilig Richtung Oder. Aus Słubice kommend beeilt sich eine polnische Kommilitonin, pünktlich zu demselben Seminar zu kommen. Des einen Moskau ist des anderen New York. Büscher, Wolfgang: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Hamburg: Rowohlt, 2003. Osang, Alexander: Berlin – New York. Alle Kolumnen aus der schönen neuen Welt. Frankfurt am Main: Fischer, 2006. ...Familie doch super ist. Ich hab' da so zwei Tanten. Die habe ich noch nicht lange. „Familie kann man sich nicht aussuchen“ hat mein Vater mal als Grund genannt für den Streit, der bis heute anhält. Und damit hat er recht. Meinen peinlichen Onkel zum Beispiel, der immer noch einen schlechten Scherz auf Lager hat. Die strebsame Cousine, die in allem besser ist als man selbst. Und nicht zuletzt die jüngeren Geschwister, die ja per se die uncoolsten im ganzen Universum sind. Dass mein Vater sich mit den seinigen also verstritten hat, ist demnach nur zu gut nachvollziehbar.
Während ich also heran wuchs und mir auf jedem erdenklichen Familienfest den Katzentisch mit Onkel Quatschmichvoll und Cousinchen Einsplusmitsternchen teilte, feierten die Schwestern meines Vaters eigene Feste und gründeten eigene Familien. Bessere Familien, vielleicht. Mit besseren Festen. Die Messlatte liegt ja, wie gesagt, nicht hoch. Familie kann man sich nicht aussuchen. Ebensowenig habe ich mir ausgesucht, diese zwei Tanten und ihre Familien nie kennenzulernen. Vor kurzem bin ich also losgezogen, habe die beiden gesucht und jetzt hab' ich da so zwei Tanten. Die zwei Tanten haben tatsächlich Familien gegründet, ich hab' jetzt auch zwei Cousinen und zwei Cousins. Und die zwei Tanten feiern Feste, zu denen ich jetzt auch eingeladen bin. Bin ja jetzt schließlich Familie. Familie kann man sich nicht aussuchen. Das ist blöd, da hat mein Vater recht. Dass sich die Familie auch mich nicht aussuchen konnte, das ist gut. Meine Tanten ahnen nicht, dass ich früher bei Museumsbesuchen unerträglich gequengelt und geschrien habe, wenn wir heute durch eine Ausstellung schlendern. Meine Cousinen und Cousins wissen nicht, dass ich ständig geschwänzt und etliche Klausuren erst im zweiten Anlauf bestanden habe, während sie die Resultate meiner Studienlaufbahn bewundern. Rückblickend bin ich plötzlich ein ruhiges, wissbegieriges Kind und ein umgänglicher, gewissenhafter Pubertierender gewesen. Stimmt ja auch. Ungefähr. Im Resultat sitze ich nun schließlich mit meinen Tanten in einer Bar in Kreuzberg und bin ein Neffe, an dem man nicht viel aussetzen kann. Wir rauchen zu dritt vier Schachteln Zigaretten weg, trinken die gesamte Spirituosenkarte rauf und runter und erzählen uns Dinge, die ich sonst nur an gute Freunde ausplaudern würde. Derselbe rauchende, trinkende und promiskuitive Fünfzehnjährige hätte bestimmt weniger Anklang gefunden. Im Gegenzug bewundere ich sie für die sympathischen und intelligenten Cousinen und Cousins, die ich ihnen zu verdanken habe. Von Neid auf deren Einsplusmitsternchens keine Spur. Ich find' sie großartig, diese zwei tollen Tanten, die im übrigen auch immer einen Scherz auf Lager haben, und ich feiere gerne Feste mit ihnen. Das macht man ja schließlich mit der Familie. Das Schlechte an Familie ist, dass man sie sich nicht aussuchen kann. Das Gute an Familie ist, dass sie sich mich nicht aussuchen kann. Man kann sich ebensowenig die einem zugedachte Rolle aussuchen, denn das ist Familie doch eigentlich: ein Laientheaterstück, dessen schärfster Kritiker man selbst ist. Aber man kann sich aussuchen, ob man sich einfach mal vor ihre Haustür stellt, klingelt und Hallo sagt, denn man gehört ohne Fragen und Klagen dazu. Und darum ist Familie doch super. MOL, das heißt Märkisch-Oderland. Ich überlege kurz, ob es wirklich keine Abkürzung für Moldawien ist, als wir in Silkes neuem Auto durch so seltsame Ortschaften wie Letschin, Sietzing oder Ihlow fahren. Vorläufiger Höhepunkt ist Horst. Wir sind in Horst. Anhalten, Foto vom Ortsschild machen. Horst und all seinen märkisch-oderländischen Geschwistern ist gemein, dass man hier wunderbar traurig-bunte Lana del Rey-Musikvideos drehen könnte. Dorfkulissen, die ihre besten Jahre hinter sich haben, aber im richtigen Licht doch irgendwie vintage aussehen. Wunderbar verrottete Hütten, planwirtschaftlich verputzt, zerbrochene Fensterscheiben. Breite Alleen in Herbstfarben, frischgepflastert, unbefahren. Auf dem malerischen Waldweg hinter Horst würde selbst Lana noch ein verzerrtes Lächeln über die Lippen bringen, wobei Waldweg in diesem Fall ein Euphemismus für Traktorreifenrinne mit Baumbewuchs ist. Tapfer fahren wir weiter, über Stock und Stein, abenteuerlich wie im Kinderreim. Kein Platz für summertime sadness hier im wilden Osten.
Bildrechte: Devid Mrusek Die Gropiusstadt war immer schon irgendwie Außenseiter. Vor gut fünfzig Jahren wurde die Satellitensiedlung im damaligen West-Berlin aus dem Boden gestampft. Rein zweckmäßig, um der nahenden Wohnungsnot entgegenzuwirken. Geringverdiener, die bisher die Hinterhäuser und Seitenflügel der Kreuzberger Altbauten bevölkerten, sollten hierhin umgesiedelt werden. Und so schön grün war es hier, an der Grenze zur Brandenburger Steppe. Dass der Plan nur mäßig gut aufging, weiß man nicht erst seit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.
Von weitem sah alles neu und sehr gepflegt aus. Doch wenn man zwischen den Hochhäusern war, stank es überall nach Pisse und Kacke. Das kam von den vielen Hunden und den vielen Kindern, die in Gropiusstadt leben. Am meisten stank es im Treppenhaus. Meine Eltern schimpften auf die Proletenkinder, die das Treppenhaus verunreinigten. Aber die Proletenkinder konnten meist nichts dafür. Das merkte ich schon, als ich das erste Mal draußen spielte und plötzlich mußte. Bis endlich der Fahrstuhl kam und ich im 11. Stockwerk war, hatte ich in die Hose gemacht. Mein Vater verprügelte mich. Als ich es ein paarmal nicht geschafft hatte, von unten rechtzeitig in unser Badezimmer zu kommen, und Prügel bekam, hockte ich mich auch irgendwo hin, wo mich niemand sah. Da man aus den Hochhäusern fast in jede Ecke sehen kann, war das Treppenhaus der sicherste Platz. aus Felscherinow, C.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Hamburg: Gruner+Jahr, 1978. Eine ähnliche Kulisse baut der junge Autor Frédéric Valin in seiner Anekdotensammlung Randgruppenmitglied auf, die er anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Jubiläum der Gropiusstadt in der eigenens dafür eingerichteten Sky Lounge im 30. Stock eines Wohngebäudes vorträgt. Seine Berichte handeln von den Bewohnern einer Behindertenwohngruppe, die ähnlich zwanglos mit ihren eigenen Fäkalien hantieren, von jugendlichen Landeiern auf der Suche nach einer identitätsstiftenden Subkultur oder von einer Altenheimbewohnerin, die sich nichts sehnlicher wünscht als zu sterben. Periphere Existenzen, die den Besuchern der Lesung ein bitteres Schmunzeln abringen - sitzen doch auch hier größtenteils Buckower Rentner, die vermutlich wegen der großartigen Aussicht hergekommen sind. Der Wolkenkratzer in der Fritz-Erler-Str. 120 ist das höchste Wohnhaus Berlins und eines der höchsten Deutschlands und führt trotzdem seit jeher ein Randgruppendasein wie die Figuren aus Valins Roman. Es beherbergt keine Loftwohnungen wie das Colonia-Hochhaus am Kölner Rheinufer und ist nicht innenstadtnah wie die Mundsburg-Tower in Hamburg. Immerhin: die Organisatoren beweisen Selbstironie, indem sie Valin sein Randgruppenmitglied an diesem Ort vortragen lassen. Ein sympathischer Außenseiter, das ist die Identität, die die Gropiusstadt anstrebt. Zwar irgendwie anders, aber eben gut anders. Kauzig und nonkonform, das wollen doch alle. Die Gropiusstadt hat ihren Charme, sicher. Von der Terrasse kann man bis zum Fernsehturm schauen, die Natur ist tatsächlich um die Ecke und das mit dem sozialen Brennpunkt ist inzwischen auch nicht mehr so schlimm wie in den Achtzigern. Allenfalls noch ein soziales Knistern, hier lodert auch nicht mehr oder weniger als in den hippen Kiezen Neuköllns oder Kreuzbergs. Gemütliche Lagerfeuerstimmung will allerdings auch nicht aufkommen. Valins Lesung dürfte das vorläufige kulturelle Highlight in der Südberliner Prärie bleiben; die wenigen Unter-Vierzigjährigen, die sich auf die lange Reise in der U7 begeben haben, flüchten mit ihrem signierten Exemplar von Valins Roman, sobald der letzte Applaus verstummt ist. Auch geringere Mieten und moderate Heizkosten werden sie nicht aus ihren Altbauwohnungen in der Innenstadt locken können. Valins unterhaltsam trockene Art, von den tristen Schicksalen des Alltags zu berichten, verfehlt ihren Effekt nicht: hier können sich die Hipster mal so richtig gruseln. Jede Gruppe junger Leute, die den Raum frühzeitig verlässt, wird von einem Rentner am Eingang mit einem Knurren verabschiedet. Vielleicht muss er auch bloß mal husten. Ein dickes Mädchen, das alleine in einer Ecke sitzt, hat einen Stadtplan aufgefaltet und gleicht ihn mit der Aussicht aus dem Fenster ab. Über die Freisprecheinrichtung ihres Handys erzählt sie einer Freundin im Flüsterton, wie sehr sich der Ausflug in die Gropiusstadt gelohnt habe und dass es wirklich „total spitze“ sei. Sie haben hier echt „richtig viel Spaß“, sie und ihr Stadtplan. _ Brandneu! Metaebene! Jeder hat einen fancy Blog, vielleicht sogar einen hyperfancy Blog. An Klickzahlen bemisst sich, wer lahm ist und wer krasst ist. Hashtag hier - für immer und ewig. Hyperlink da - bis dass der Tod euch scheidet. Krass! Ein 88-jähriger US-Amerikaner hält uns mit seinem Fashionblog auf Trab. Bitter! Der iranische Student hat seit Wochen nichts gepostet. Gewagt! Eine junge Aegypterin fotografiert ihren nackten Körper und sieht nicht ganz glücklich dabei aus. So ist ihre Scham letztlich politisches Statement geworden. Verrückt! Neu! Schön! Makellos! Für jedes Ausrufezeichen stirbt ein Kind in Ostafrika. Super! Mega! Hyper!
Elektronische Träume. Mitten in der Nacht wacht er auf. Berlin, zwei Uhr sechsundzwanzig. Er weiß, dass er nicht talentlos ist, aber diese vielen Gedanken jede Nacht. Legen sich in sein Hirn wie Watte, ziehen sich auseinander, verspinnen sich ins Endlose, verknüpfen und verknoten sich, es ist der Wahnsinn. Hirnfilz. Geniestreich. Weiß er nicht. Draußen fängt es an zu regnen. Er schaltet das Licht in Prenzlauer Berg wieder an und geht in die Küche. Mixer, Mikrowelle, Geschirrspüler, Kühlschrank. Elektronische Träume. Sie leuchten blau. Mit einem Schälchen Reis in der gewölbten Handfläche, die Gabel grad im Mund, läuft er durch seine Wohnung. Nicht zu laut sein, die hysterische Mitbewohnerin könnte wach werden. Hat kein Verständnis für nächtliche Streifzüge über den Dielenboden. Die Verknüpfungen und Verbindungen lassen ihn nicht los. Er und seine Mitbewohnerin. Er und die brünette Kanadieren von letzter Woche. Die brünette Kanadierin und ihr Freund, der auf die Europareise nicht mitkommen konnte. Er und Mina. Er und sein Freund, der kürzlich nach Hamburg gezogen ist. Etwas verbindet ihn mit jedem, trotzdem steht er immer knapp daneben. Er ist der Einzelgänger unter den Individualisten, der wahre Gentleman neben den Konformisten. Er schleicht ins Wohnzimmer und steckt eine willkürlich gewählte Kassette in den Videorekorder. Romantic Comedy aus einer Zeit, in der das Wort Romantic Comedy noch nicht erfunden war. Er nimmt Anlauf, macht einen großen Satz, macht ein Komma, macht einen Punkt. Alle staunen und träumen. Elektronische Träume. Das öde Video flimmert hektisch durch seine Wattewolken, er schaut nicht richtig hin. Fönfrisuren aus den Achtzigern, die die Fünfziger zitieren. Es ist eine virtuelle Ueberflutung. Die schönsten elektronischen Träume stellen sich zu zweit vor der Arche auf, der Rest ersäuft. Weltuntergang statt Badeurlaub. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, nimmt ein Blatt Papier und schreibt seinem Freund in Hamburg: „Ich halte Mina im Arm. Spaeter, nachdem ich einen dunkelhaarigen Grossen und eine Blonde mit Bob angemacht habe, tanze ich mit Mina im Schutz der anderen Gaeste, viele Körper entfernt von unseren Freunden. Ich beuge mich zu ihr herab, will ihr etwas zuflüstern. (Das ü ist der einzige Umlaut, den er mag.) Doch ich bringe nichts hervor und beisse (Er mag das ß nicht sonderlich. Es sieht aus wie ein großes B.) sie stattdessen sanft ins Ohrlaeppchen. Ihre Hand ist irgendwie auf meiner Brust. Dann küsse ich sie auf den Hals. Unsere Lieder sind vorüber, der Tanz ist sinnlos geworden, all meine Gefühle habe ich entlang den Liedzeilen hervorgewispert. Nun war ich leer und wollte gehen. Ich schloss die Augen. Nachbilder ihrer dunklen blitzenden Augen verfolgten mich überall hin.“ Er faltet das Blatt Papier, steckt es in ein Kouvert, befeuchtet den Rand mit der Zunge und schreibt die Adresse seines Freundes auf die Vorderseite. Auf die Rückseite malt er in Kapitälchen CONTAINS POP. nachtluft hat einen seltsamen geschmack | raum, um zu atmen | zeit, um zu genießen | bis der morgen mich wütend macht |
Neunundfünfzig Minuten. Neunundfünfzig Sekunden. Die Zeitanzeige blinkt rot auf, die Trommel setzt sich in Bewegung. Langsam drehen sich die Farben hinter dem runden Glas. Meine Waschmaschine heißt Erna und wir kennen uns schon eine Weile. Erna ist eine waschechte Kreuzbergerin und walzt in ihrer behäbigen Schweigsamkeit unaufhörlich meine Kleidungsstücke durch. Sie verdaut sie. Dreiundfünfzig Minuten. Achtzehn Sekunden.
Durch die großen Fenster schaue ich in die Kreuzberger Nacht. Es ist Frühjahr. Ein Mann in einem speckigen, braunen Mantel läuft die Ohlauer Straße entlang. Der Mantel ist ihm zu groß. Bestimmt hat der Mantel einmal einem dicken Mann gehört. Er läuft auf die Spree zu. YOU ARE LEAVING THE AMERICAN SECTOR. ВЫ ВЫЕЗЖАЕТЕ ИЗ АМЕРИКАНСКОГО СЕКТОРА. Ich sehe ihn kaum, das Halogenlicht des Waschsalons schluckt das Düster. Ein steriler Raum aus weißen Fliesen, es riecht nach Aprilfrisch oder Lavendeltraum. Eine groteske Fliegerstaffel aus Motten greift die Fensterscheiben an. Ein verlorener Kampf in schlecht sitzenden Uniformen. Der Mann breitet die Arme aus und ist mehr Tier als Mensch. Kriegerleid. Einsamkeit. Dunkelheit. Ein kurzer Blick, den ich mehr ahne als sehe, und er ist verschwunden. Es ist kurz vor elf, als du den Waschsalon betrittst. Deine Augen sind etwas geschlossen, als seist du müde. Du trägst einen gelben Pullover aus Wolle, der am linken Aermel leicht aufgeribbelt ist und ich weiß, dass wir nun zusammen gehören. Ich bin mir sicher, du weißt es auch. Du siehst mich auf meinem Stuhl sitzen, eine Zeitschrift in der Hand. Desinteresse vorgetäuscht, den Hut in die Stirn gezogen, meine Augen haften an dir. Du siehst meine Wäsche und du siehst Erna. Sie dreht sich. drehtsich. dehrstich. dhrestcih. rhdestchi. Ich trage roten Lippenstift und schäme mich nun etwas dafür. Zweiundvierzig Minuten. Null Sekunden. Akribisch füllst du deine Maschine Stück für Stück mit deinen Kleidungsstücken. Sie heißt Clara. Rosenblüte. Einkaufstüte. Damenhüte. Es wirkt banal, wie ich dich so sitzen sehe: groß, dunkelhaarig, ruhig, keine fünf Meter von mir entfernt. Ich stelle mir vor, wie es ist dich zu berühren. Wie zwei dicke Opernsängerinnen füllen Erna und Clara die Szenerie, in der wir nur Hintergrund sind. Mir kommt in den Sinn, dass es unmöglich ist, nur saubere Wäsche zu haben. Während ich hier mit dir sitze, du mich anschaust und ich dich nicht, fühle ich mich schmutzig. Die vulgären Geräusche der Waschmaschine, das etwas zu frivole Rot meines Lippenstifts und mein lächerlicher Hut – all das verschmutzt diesen Moment, den ich mir zuvor etliche Male jungfräulich und weiß vorgestellt habe, allerdings nicht fliesenweiß, halogenlichtweiß oder waschmittelweiß. Schmutzig, grell und profan kommt mir dieser Moment plötzlich vor und mir wird klar, dass es tatsächlich unmöglich ist. Um schmutzige Wäsche zu waschen, trägt man besser nicht seine weißeste Weste. Ungesehen landet etwas Staub auf meinem Äermel. Sechsunddreißig Minuten. Zwölf Sekunden. Später erzählst du mir, dass sie dir unangenehm waren. Die Blicke, die ich dir nicht schickte. Tagträume. Lavendelschäume. Freizeiträume. Es ist genau elf Uhr, als sich die Tür des Waschsalons automatisch schließt und die Dunkelheit draußen einsperrt. Wir erschrecken beide und lächeln einander zu. Deine Zähne sind faszinierend weiß, unter den Augen hast du dunkle Ringe. Es ist ein paar Sekunden nach elf Uhr, als ich mich nicht mehr frage, ob das nun der Moment sei, den ich mir vorgestellt habe, ob ich nun bereit dafür sei und ob er sich verschieben lasse. Momente haben die seltsame Eigenschaft einfach zu passieren. Plötzlich ist er da, unangekündigt und achtlos in mein Leben geworfen. Vorsichtig fasse ich ihn an und er ribbelt auf. r i b b e l t a u f. r r b b b l t t a u f f f. r r r b b b b t t t t f f f f. Fünfunddreißig Minuten. Neununddreißig Sekunden. Während Clara noch verdaut, Säfte mischt, sich aufbläht und rumort, verlässt Erna die Bühne und lässt mich in unangenehmer Schweigsamkeit zurück. Scheinwerfer an! Aus der hintersten Ecke des Waschsalons kämpfe ich mich ins Rampenlicht und räume Socken und Slips in meine Tüte. Es ist die Rolle meines Lebens und du bist mein Publikum. Du bist mein Szenenapplaus, meine lobenden Kritiken. Du bist der Heulkrampf während der Generalprobe. 'Wir' ist geboren. Wir sind geboren. Lampenfieber. Nichts tät' ich lieber. Ich seh' dich wieder. ~~~ Ein Sommer an Seen, Tage vergehen. Eng verwoben. Nicht Unten. Nicht Oben. Beinahe ein Kuss. Zerbrochen. Schluss. ~~~ Es ist Herbst, ich trage ein Jackett mit bunten Aufnähern. Es ist kurz vor elf, als du die Lobby des Hotels am Kurfürstendamm betrittst. Deine Augen sind etwas geschlossen, als seist du müde. Du trägst den gelben Pullover aus Wolle, der am linken Aermel leicht aufgeribbelt ist und ich weiß, dass wir nicht mehr zusammen gehören. Ich bin mir sicher, du weißt es auch. Auf dem Boden liegt roter Teppich, die cremefarbenen Wände sind mit Gold verziert. Ich denke an Marie Antoinette und ihre Guillotine und bekomme Kopfschmerzen. Zweiundzwanzig Minuten. Siebenundfünfzig Sekunden. Kürzlich erzähltest du mir, dass du auf der Volkshochschule Französisch lernen möchtest. Rien ne va plus. Tout est perdu. Salut. Zwischen uns tanzen ein paar Dutzend Menschen zu elektronischer Musik. Ich weiß nicht, ob du mich schon gesehen hast. Für dich habe ich den roten Lippenstift aufgelegt, der dir so gefällt. Du tanzt auch, unbeholfen und fast unsichtbar. Jede deiner Bewegung wirkt so, als hätte sie einen Moment vorher passieren müssen. Ich will dir nicht sagen, wie schön unser Sommer war. Ich verschweige, wie hübsch du bist, wenn du schläfst. Auch deine tiefe Stimme lasse ich unerwähnt. un. erwähnt. Verdammt. Ich kann dich nicht gehen lassen. Der Moment entweicht mir. Tanz weiter! Tanz für mich. Achtzehn Minuten. Eine Sekunde. In der Ferne leuchtet etwas rot. Mein Lippenstift ist verschmiert. Ich sitze in einer Ecke, ziehe an meiner Zigarette und warte auf unsere Wiedergeburt. Am anderen Ende des Raumes sehe ich dich und tanze heimlich mit dir. Ich hoffe, du magst es. In deinem gelben Pullover bewegst du dich arhythmisch zu der Musik, die nun etwas traurig wirkt. Mit deinen Händen formst du Luftschlösser. Es scheint dunkler geworden zu sein, denn ich kann dein Gesicht nicht mehr erkennen. Neben mir sitzt ein schwules Pärchen, das sich gerade erst kennengelernt hat. Sie küssen sich wild, öffnen die Augen kaum. Es ist ihr Moment und keiner probiert ihn zu fassen. Unbeachtet von der Menge findet er statt, dieser Moment, am Rande der Tanzfläche. Ich werfe meine abgebrannte Zigarette direkt daneben. Fünfzehn Minuten. Vierundzwanzig Sekunden. Beide Jungen denken darüber nach, ob sie sich morgen wiedersehen. Sie hatten noch gar keine Zeit, sich einzurichten in ihrer Zuneigung. Meistens finde ich es unangenehm, wenn alles nur provisorisch ist. Ein penetrantes Zwicken an der Stelle auf dem Rücken, die man so schwer kratzen kann. Wir sind schon lange nicht mehr provisorisch. Perfekt ausgeleuchtet stehen wir in einer Vitrine, von Staub befreit, bewegungslos wie die geschmacklosen Zinnsoldaten meines Großvaters. Luftdicht. Blitzlicht. Atme nicht! Fertig, um bestaunt zu werden. Bauch rein und stillgestanden! Du hast mir mal erzählt, dass du früher mit Schulfreunden gewettet hast, wer am längsten die Luft anhalten kann. Hast du gewonnen? Elf Minuten. Dreiundfünfzig Sekunden. Ich zünde mir noch eine Zigarette an, der Rauch brennt in meinen Augen. Inzwischen hast du mich gesehen, wir sprechen mit Blicken. Die dumpfen Bässe liefern die Untertitel. Netzhaut. Umlaut. Weggeschaut. Seltsam, denke ich, dass sich nachts verschiedene Leute in einem schlecht beleuchteten Raum treffen, um sich zu Geräuschen zu bewegen. Was ist Tanzen eigentlich für eine komische Beschäftigung? Einem Mädchen läuft der Schweiß über die Stirn und eine Träne über die Wange. Ihr ganzes Gesicht regnet. Sie probiert zu lachen, ihr Lippenstift ist völlig verschmiert. Der lächerliche Hut, den sie trägt, gibt der Tragik ihre Perfektion. Sie merkt es nicht. Ihre Zigarette ist halb abgebrannt und ständig schaut sie auf die Uhr. Sieben Minuten. Vierundvierzig Sekunden. Es ist die Nacht, um verwirrt zu sein. Die Nacht, um die Wahrheit zu beschleunigen. Vier Hände haben einen Schwur geleistet, der seit heute Nacht nicht mehr gilt. Aus den Boxen brüllt eine Frauenstimme die tanzende Menge an, die antwortet mit berauschter Glückseligkeit. Das Mädchen schließt die Augen, das Mädchen bin ich. Du kommst auf mich zu, stehst vor mir, berührst mich nicht. Zwei Minuten. Fünfundfünfzig Sekunden. Das Stroboskoplicht wirft Blitze durch den Raum, die Musik dröhnt in meinen Ohren, alle tanzen. Ich tanze mit, wild und hemmungslos, es ist der letzte Moment vor dem Vergängnis. Eine Minute. Dreizehn Sekunden. Dein Mund bewegt sich, ich weiß, was du sagst, aber ich höre es nicht. Null Minuten. Vierundfünfzig Sekunden. Du schießt auf mich mit Blicken, einer streift mich am Arm. Null Minuten. Dreiunddreißig Sekunden. Ich glaube, ich bin verletzt. Null Minuten. Siebenundzwanzig Sekunden. Geh ohne mich weiter, rette dein eigenes Leben! Null Minuten. Zwanzig Sekunden. Du hältst meinen Kopf fest und dein Mund ist ganz nah an meinem Ohr. Null Minuten. Sechzehn Sekunden. Ich spüre deinen Atem. Null Minuten. Zwölf Sekunden. Ich will dich umarmen, aber ich traue mich nicht. Null Minuten. Neun Sekunden. Noch eine Träne. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Null Minuten. Sechs Sekunden. Eine Indianerin auch nicht. Null Minuten. Vier Sekunden. Du öffnest deinen Mund und ich höre, was du sagst. Null Minuten. Zwei Sekunden. „Es ist vorbei.“ Null Minuten. Null Sekunden. Als Anne-Marie und ich an der Turnhoutsebaan in Antwerpen standen, um unsere letzte Etappe auf unserem Roadtrip anzutreten, begannen wir, selbigen zu resümieren. Wir betrauerten die Tatsache, dass wir weder bei einem Truckie noch bei einer Frau mitgefahren waren (Eyla aus Leer zählt nicht, die entsprach nicht dem Typ Frau, den man davon hätte überzeugen müssen, Tramper mitzunehmen). Die letzten Tage in Antwerpen entpuppten sich als krönender Abschluss einer sowieso unbeschreiblichen Reise und wir waren uns sicher, dass wir in diesem Sommer 2010 unseren Vorrat an Anekdoten mindestens verdoppelt hatten. Nachdem wir an der Autobahnauffahrt Richtung Lüttich jedoch auch bereits eine Stunde warteten, kamen uns Zweifel, ob wir wirklich Lust auf diese letzte Anekdote hatten. Als die Stimmung gerade an einem Tiefpunkt angekommen war, hielt plötzlich ein Red-Bull-Promo-Auto, am Steuer saß eine junge Frau, die gesamte Rückbank war voll mit Red-Bull-Dosen. „Um euch ein bisschen zu unterstützen!", sagte sie - und drückte uns jedem eine Dose chemische Energie in die Hand. Passend zu dem Getränk hielt 5 Minuten später ein tiefergelegter Kleinwagen, aus dem lauter Techno dröhnte. Drinnen saß Wim, der seinen Wagen zu einer fahrenden Musikanlage umgebaut hatte. Er fuhr uns in Höchstgeschwindigkeit zur nächsten Raststätte nach Ranst, Anne-Marie verschüttete ihr Red Bull auf seiner Rückbank und hoffte, es würde trocknen, bevor er es bemerkt.
An der Raststätte mussten wir nicht lange warten, bevor der erste Wagen hielt. Das Blöde war, wir bemerkten es nicht, weil Anne-Marie mich gerade auf irgenetwas „total Gruseliges" im Gebüsch aufmerksam machen wollte. Also standen wir beide da, das Schild, Aufschrift "Lüttich/Köln", in der Hand, die Blicke Richtung Dunkelheit und ließen den Kleinwagen ungesehen ziehen, der – so redeten wir uns ein – garantiert eh nicht in unsere Richtung gefahren wäre. Fünf Minuten später, es war inzwischen bereits dunkel, hielt ein Truck mit rumänischem Kennzeichen. Wir stiegen ein und probierten, uns mit dem Fahrer zu verständigen. Er sprach nur Rumänisch und vielleicht Italienisch, wir konnten das nicht so genau entziffern. Ich antwortete mit irgendeinem Spanisch-Portugiesisch-Mix und es muss ein göttliches Bild abgegeben haben, wie wir verzweifelt probierten, miteinander zu reden und doch nichts verstanden. Seine Name war Gheorghe oder irgendwas, was so ähnlich klingt. Gheorghe fuhr nach Öesterreich und es sollte unsere nächste Aufgabe werden, mithilfe von Landkarten herauszufinden, wo sich unsere Wege trennten. Wir entschieden uns für Aachen und ließen uns dort an einer Raststätte absetzen. Immerhin waren wir schonmal wieder in Deutschland. Wir konnten uns kaum über unseren ersten Truckie freuen, da hielt auch schon der Nächste. Rolli, 43 Jahre alt aus Dessau. Anfänglich wollten wir bloß nach Köln fahren, um dort bei einer Freundin zu übernachten. Als Rolli jedoch von Bitterfeld in Sachsen-Anhalt erzählte, witterten wir bereits Hauptstadtluft. Wir entschieden uns also dazu, mit Rolli bei 80km/h durch Deutschland zu rollen und nicht mehr in Köln Halt zu machen. Rolli war ein freundlicher Typ. Sofort bot er Anne-Marie, die bereits müde wurde, sein Bett an. Eine halbe Stunde später hatte diese es sich in Rollis Bettwäsche bequem gemacht und schlief seelenruhig auf Deutschlands Autobahnen, während ich mich stundenlang mit Rolli unterhielt. Rolli erzählte von LKWs und dass er seinen Job liebte. Immer wieder präsentierte er mir Informationen „von denen mir die Ohren schlackern würden" - das war sein Lieblingsspruch – oder zeigte mir andere LKWs, die „mit allen Dood un Deibel" ausgestattet waren – Nummer 2 in seiner Redewendungen-Hitparade. An mir war er gar nicht interessiert, immer wieder fiel er mir ins Wort, wenn ich probierte, ihm von unserem Urlaub zu erzählen. Wenn er doch mal zuhörte, nutzte er jede Geschichte, um wieder zu sich selbst überzuleiten. Rolli redete gern. Oder vielleicht wollte er manche Dinge einfach mal los werden. Seine größte Sorge wurde es, Anne-Marie den Aufenthalt in seinem Truck so angenehm wie möglich zu gestalten: er achtete penibel darauf, dass nicht zwei Fenster auf einmal geöffnet waren, Anne-Marie wäre es sonst zu kalt geworden. Er umfuhr ganze Landstraßen, weil diese seiner Meinung nach zu holprig waren und Anne-Marie aufwachen könnte. Wenn ein Lied im Radio lief, bei dem Anne-Marie vorher mitgesungen hatte, drehte er es langsam ein bisschen lauter und warf einen Blick nach hinten – vielleicht freute sie sich im Schlaf darüber. Anne-Marie wurde während dieser siebenstündigen Fahrt nach Bitterfeld also umsorgt wie eine Prinzessin, während ich Mühe hatte, mich wach zu halten. Wir waren inzwischen bei LKW-Gewerkschaften und Gefahrengutladungen angekommen, da legte Rolli bei einem Autohof irgendwo im Nichts eine Pause ein. „Gesetzlich vorgeschrieben.", sagte er und tickte auf die digitale Uhr über ihm. Anne-Marie schlief hinten weiter, während Rolli und ich je eine Bockwurst und einen Kaffee zu uns nahmen. Ich wollte noch eben zur Toilette gehen und bat deshalb die Frau hinter der Kasse, mir meinen Zehn-Euro-Schein zu wechseln. „Du bist mit Rolli hier, oder?", fragte sie mich vertraulich. Ich nickte. „Ach, dann brauchst du nichts zu bezahlen." Meine prominente Begleitung hatte mir gerade eine Ersparnis von fünfzig Cent eingebracht. Ich war ein bisschen stolz auf Rolli. In der Truckieszene schien er eine große Nummer zu sein. Als wir weiter fuhren, inzwischen war es etwa 5 Uhr morgens, wurde auch Anne-Marie langsam wieder wach. Rolli erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden. „Gut, gut", sagte sie, während sie sich die Augen rieb und Rolli lächelte zufrieden. Ein paar Stunden später hatten wir dann unsere Bestimmung erreicht: Bitterfeld in Sachsen-Anhalt, ein trostloses Fleckchen Deutschland irgendwo an der A9, eingehüllt in Morgennebel. Glücklicherweise mussten wir hier nicht länger warten, als ich „BE" auf unser Berlin-Schildchen schreiben konnte. Ohne es wirklich probiert zu haben, nahm uns Maria mit, eine Münchenerin, die auf dem Weg nach Rostock war. Sie arbeitete dort und nahm öfter Tramper mit, auf langen Strecken langweilte sie sich oft. Maria war sympathisch, ich war verdammt müde. Auf der Rückbank schlief ich beinahe ein, während Anne-Marie auf dem Beifahrersitz quickfidel war. In Werder an der Havel ließ Maria uns raus, mit unserem Semesterticket fuhren wir Richtung Berlin. Gegen elf Uhr mittags stiegen wir am Bahnhof Friedrichstraße aus, eine Frau rempelte mich an, noch bevor ich den Zug verlassen konnte. Berlin, wir sind zurück. Kosten/Strecke: 0€/917km Was wir gelernt haben: auch Truckies und Frauen haben ein Herz für Tramper Was wir hätten brauchen können: einen Pokal für den tollsten Truckie der Welt, um ihn Rolli zu überreichen Erst waren es bloß ein paar Tropfen, kurze Zeit später ein ausgewachsener Regenschauer. Anne-Marie und ich sitzen an der Autobahnauffahrt Spanische Allee im Südwesten Berlins, im Gras hinter uns liegen unsere Reisetaschen. Sie hält ein Schild mit der Aufschrift 'Bremen/Hannover' in der Hand, ich strecke unaufhörlich meinen Daumen in die Luft und suche Blickkontakt zu den Autofahrern. Wir hätten bereits begonnen zu zweifeln, ob per Anhalter fahren nicht ein Relikt vergangener Zeiten ist, wenn wir nicht schon drei Tramperpärchen vor uns hätten wegfahren sehen. All diese Leute ließen sich auf ein bestimmtes Erscheinungsbild reduzieren: überdimensionaler Rucksack, mehrfarbige Strickbekleidung und ungestümer Haarwuchs. „Wie können die Menschen so herzlos sein? Man kann uns doch nicht dafür bestrafen, dass wir uns geschmackvoll kleiden.“, sagte sie weinerlich. Seit drei Stunden standen wir bereits an Ort und Stelle, haben wildfremde Menschen angesprochen, Schilder gemalt und reiselustig drein geschaut. Die meisten Fahrer schauten mitleidig zurück und fuhren weiter. „Es liegt an deiner Hose.“, schlussfolgerte endlich Anne-Marie, „Vintage in Brüssel kaufen, aber umsonst dort hin fahren wollen. Das passt nicht zusammen. Wir sehen nicht arm genug aus.“ Ich setzte bereits an zu einem erhitzten Vortrag über belgische Designer, als uns der blaue Twingo aus Sachsen-Anhalt ansprach.
Er fahre zwar nicht in unsere Richtung, könne uns aber zum nächsten Rasthof mitnehmen. Chancenoptimierung, sagte er noch, und dass er Wirtschaft studiert habe. Gerade fertig geworden, jetzt hatte er ein Vorstellungsgespräch in Berlin. „Gibt Schlimmeres“, tönten Anne-Marie und ich von der Rückbank und waren glücklich, unserem Ziel 25 km näher zu kommen. Von da an ging plötzlich alles ganz schnell. In Michendorf hatten wir innerhalb von fünf Minuten ein kroatisches Ehepaar aus Emden beschwatzt, uns mit nach Oldenburg zu nehmen. Anfangs gaben wir uns noch Mühe, ihnen zuzuhören (sie hatten ihre Tochter besucht, die gerade nach Berlin gezogen war), doch bereits nach einer Viertelstunde zwang uns der Schlafmangel der letzten Nacht in die Rückbankpolster. Erst kurz vor Oldenburg wurden wir wieder wach und erwarteten sehnsüchtig das Ende unserer ersten Etappe. Irgendwo in der oldenburgischen Kleinstadtperipherie wurden wir lieblos ausgesetzt und stiegen in einen Bus Richtung Innenstadt. Wir trafen uns mit zwei Freundinnen von früher und traten nach zwei Stunden bereits die Weiterreise an. Diesmal wollten wir im Zug trampen und wurden am Bahnsteig 5 auch schnell fündig. Eine Mutter, die mit ihrer Tochter wartete, wollte uns auf ihrem Niedersachsenticket mitfahren lassen, allerdings war die Frau geschäftstüchtiger, als wir zunächst annahmen: mit zehn Euro sollten wir uns beteiligen. Wir handelten sie auf acht herunter und stiegen in den Zug Richtung Heimat. Vier Stationen und dreißig Minuten friesische Einöde später holte uns schließlich meine Mutter vom Schortenser Bahnhof ab. Kosten/Strecke: 5,60€/478km Was wir gelernt haben: Trampen hat viel mit Mitleid zu tun Was wir hätten brauchen können: einen Poncho, möglichst bunt |
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zeit~fliegt
Mai 2018
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