Eine kleine Lampe beleuchtete ihr Gesicht unvorteilhaft von der Seite. Sie konnte nicht schlafen, weil sie unaufhörlich denken musste. Um nicht denken zu müssen, las sie. Josefine war keine junge Frau mehr. In ihrem Gesicht aber konnte man noch lesen, wie schön sie einstmals gewesen war. (Ein fremder Mann hatte ihr einmal versprochen, wegen ihr noch viele Sprachen zu lernen. Seine Muttersprache habe nicht genügend Worte, um zu beschreiben, wie bezaubernd Josefine war.) Mehr als fünf Jahrzehnte brauchte das Leben, um ihre Augen mit waagerechten Falten zu schraffieren. Im schummrigen Licht der Lampe warfen sie kleine Schatten. Ihr Haar trug sie inzwischen kurz. Lange Haare, fand sie, schickten sich nicht für eine Frau in ihrem Alter.
Das Zimmer war gerade groß genug für ein Sofa, einen Tisch und ein Regal. Josefine lag auf dem Rücken und horchte in ihr Inneres. Sie hörte die Geräusche in ihrem Magen, die sich anhörten wie Meer, aber Rotwein waren, konnte darüber hinaus aber nichts Beunruhigendes ausmachen. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Josefine lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde keiner es bemerken. In dem Fenster sah Josefine ihr Spiegelbild. Es stand mit trauriger Miene im nächtlichen Dunkel und blickte seinen diesseitigen Zwilling vorwurfsvoll an. „Wo bist du nun gelandet?“, schien es zu fragen. „Hätte man das nicht vermeiden können?“ Josefine wusste keine Antwort. Sie war der Meinung, dass ein bisschen Tragik unvermeidbar sei. Glücklichsein müsse man sich verdienen. Die jenseitige Josefine schien das nicht richtig glauben zu wollen. Ratlosigkeit in beiden Gesichtern. Josefine war siebzehn und hatte langes dunkelbraunes Haar, als sie ihrem zukünftigen Mann begegnete. Im Licht des Tanzlokals wirkte das Haar leicht rötlich, zwei dünne Strähnen von den Schläfen hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden. Er verliebte sich sofort in sie. Sie bemerkte das und fühlte sich geschmeichelt. Ein greiser Mann, von dem man im Dorf munkelte, er habe seit mehr als zwanzig Jahren kein Wort mehr gesprochen, pustete unaufhörlich Zigarettenrauch in die tanzende Menge. Es war warm und stickig in dem kleinen Raum, die Luft roch süß. Josefines Herz schlug im Takt der Musik, als ein Junge aus der nahe gelegenen Stadt sich auf sie zu bewegte. Sie trug eine Bluse, die ihrer älteren Schwester nicht mehr passte. Auf den blauen Stoff war ein weißes Blumenmuster gestickt. In ihrer weiten Hose sah man glücklicherweise nicht, wie ihr die Knie zitterten. Als er sie ansprach, wandte sie ihren Kopf leicht nach unten und lächelte verlegen. Sie gab sich Mühe, mit ihrem Blick einen Punkt am Boden zu fixieren, andernfalls hätten ihre Augenlider vor Aufregung unbändig zu zittern angefangen. (Das taten sie in solchen Momenten.) Das durchdringende Lächeln, das Josefine eigen war, sicherte ihr die sehnsuchtsvollen Blicke aller Jungen im Dorf. Er war allerdings der Erste, der sich traute, sie anzusprechen. Die jungen Verliebten trafen sich heimlich wieder, die Eltern durften von nichts wissen. Die Zeiten waren andere. Doch war es Liebe. Beständige Zweisamkeit. Vor zwei Monaten war Josefine aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen. Was ihr anfangs geschmeichelt hatte, nahm ihr nun die Luft zum Atmen. Die Zweisamkeit war ihr zum Korsett geworden. Und ein Korsett, fand Josefine, schickte sich erst recht nicht für eine Frau ihres Alters. Dass sie ausziehen musste war das Ergebnis einer Rechnung, die Josefine schon häufig aufgestellt hatte. An jenem Tag hatte sie in ihrem Horoskop gelesen, dass alte Rechnungen endlich beglichen werden müssen. Josefine war nicht abergläubisch, aber dass ihr Ehemann zusätzlich noch zwei Tage geschäftlich auf Reisen blieb, war ihr himmlischer Fingerzeig genug. Hals über Kopf, heimlich, still und leise, ohne Glanz und Gloria. Josefine benutzte gerne elliptische Redewendungen, um von ihrem Auszug zu berichten. Bewegungslos saß sie da, auf dem Sofa, das sie nachts zu ihrem Bett umfunktionierte. Es war blau. Tags diente der Raum als Wohnzimmer, nachts als Schlafzimmer. Weil es Josefine wichtig war, in einem separaten Raum Besuch zu empfangen, verzichtete sie auf einen eigenen Raum. Oder soll man seinen Besuch etwa zu Kaffee und Gebäck ins Schlafzimmer führen? Bei dem Gedanken musste Josefine lachen. Eigentlich wollte sie gar nicht, dass Besuch kam. Da war sie nun. Sie saß. Sie verweilte. Sie lebte und atmete. Es fehlte an nichts in der Wohnung, die sie vor zwei Wochen im Übermut des Moments bezogen hatte. Diese Wohnung, die so dunkel war und eigentlich auch etwas zu klein, am Rande der Stadt. Diese paar Quadratmeter hatte sie im Tausch für ihr Korsett bekommen. Hatte sie die Enge vor einigen Wochen kaum benennen können, konnte sie sie nun sehen in den vier Wänden, die ihr so beängstigend nahe kamen. Diese Wände, die eigentlich ihre Freiheit sein sollten, waren ihr nun zuwider. Es war, als habe sie sich selbst in einen Umzugskarton gesteckt. Konserviert von der Welt, ihre Gedanken und Erinnerungen verschnürt und platzsparend aufeinandergestapelt. Verstaut in einer Ecke, damit niemand darüber stolpert. Das entsprach ihrem Naturell: nicht im Weg stehen, niemandem zur Last fallen. Josefine war verzweifelt. Es war nicht die Verzweiflung, bei der man an einer Wegzweigung im Leben ankommt und alle weiteren Wege die falschen wären. Solch eine Situation hätte vielleicht in Panik gemündet, man hätte unter Umständen all die falschen Wege ausprobieren wollen. Nein, Josefines Verzweiflung war von ganz passiver Natur. Sie sah keine Wege vor sich, und so blieb ihr nichts übrig, als in tragischer Pose zu verharren. Auch während ihrer Ehe liebte sie es, abends zu lesen. Traurige Liebesgeschichten. Große Gefühle, dramatische Wendungen, Höhepunkt, irgendwer stirbt. Und Schluss. Lange hatte sie nicht bemerkt, dass sie bloß neben sich hätte schauen müssen, um eine traurige Geschichte zu sehen. Nicht wortwörtlich neben sich, man hatte schon länger getrennte Schlafzimmer. Josefine beanspruchte das Ehebett. Einzelbetten erinnerten sie an Jugendherberge. Und ein Jugendherbergsbett, das schickte sich nicht, fand Josefine. Sie war schließlich keine siebzehn mehr. Sie erinnerte sich noch gut an die Jugendherberge in England, in der sie mit ihrem späteren Mann übernachtet hatte. Josefine war damals zweiundzwanzig, er war ein paar Jahre älter und studierte in einer mittelgroßen Stadt. Josefine war ihm gefolgt und hatte sich eine Stelle in einem Büro gesucht. Viel lieber wäre sie Erzieherin oder Lehrerin geworden. Fürsorglich sein, das lag ihr. Sie mochte die Menschen, die Menschen mochten sie. Doch für solche Träume wollte man in ihrer Familie kein Geld entbehren. Josefine wusste das. Aus diesem Grunde war es von vornherein aussichtslos, ihren Vater danach zu fragen. Sowieso traute sie sich kaum, mit ihm zu sprechen. Dieser Mann duldete keine Sentimentalitäten. Er war griesgrämig und alt und konnte es sich selbst nicht verzeihen, ausschließlich Töchter gezeugt zu haben. Seine Töchter hatten ihn schon mit ihrer Geburt enttäuscht. Wenn er sprach, blickte Josefine ihn mit großen Augen an. Sie hielt ihren Blick gespannt auf ihn gerichtet, genauso wie es Hasen tun, wenn sich ein Jagdhund nähert. Manchmal war es deshalb zu spät, um wegzulaufen. In völliger Ruhe verharrte Josefine, bis der Vater befand, dass es genug der Züchtigung sei. Manchmal weinte Josefine - nicht wegen der Schmerzen. Ihr schossen die Tränen in die Augen, weil sie ihrem Vater so zur Last fiel. Und das war mit Sicherheit nicht ihre Absicht gewesen. Mit seiner Grobheit versuchte der Vater, den Mangel an Männlichkeit in seinem Haushalt auszugleichen. Er war vielleicht zwanzig Jahre älter als seine Ehefrau, so genau wusste Josefine das nicht. Sie hatte ihn nie gefragt. Was für eine dumme Frage das sei, hätte er gerufen. Vor Entrüstung hätten sich die Worte in seinem Mund überschlagen, und ein Tropfen Speichel hätte sich in seinem Schnauzbart verfangen. Jener Schnauzbart - von dem der Vater fand, dass er ihm ähnlich kaiserlich zu Gesicht stand wie einst Bismarck - erinnerte Josefine an ein kleines Nagetier, das nur so dahingaloppierte und sich mit Speichel besudelte, sobald der Vater böse wurde. Als er seine Kinder einmal mit Ratten verglich, die nur darauf aus seien, ihm die Haare vom Kopf zu fressen, hatte Josefine laut lachen müssen. Es amüsierte sie, dass sich eine Ratte darüber echauffieren könne, nur Rattenkinder zu haben. So begab es sich, das Josefine und ihre zwei Schwestern unter den strengen Augen ihres Vaters aufwuchsen. In den Momenten, in denen er außer Haus war, hatte die Mutter Gelegenheit, ihren Kindern ihre warme, mütterliche Liebe zu schenken. Sie liebte sie alle gleichermaßen, Josefine vielleicht ein bisschen mehr. Sie hatte die honigfarbenen Augen und die dunklen Haare ihrer Mutter, während die Geschwister aschblond und blauäugig waren wie der Vater. Als Josefine noch ein Kind war, kam die Mutter gelegentlich in das Zimmer der beiden jüngeren Mädchen, um ihnen vorzulesen aus dem einzigen Kinderbuch, an das sie sich erinnerte. Es war ihr rotes Märchenbuch, und Josefine mochte die Geschichte von dem Mädchen mit den Zündhölzern am liebsten. Seite siebenundsiebzig, das wusste sie heute noch. Manchmal brachte die Mutter für jedes Kind ein Stückchen Schokolade mit. In einem Stofftaschentuch hatte sie das kostbare Gut durch die Wohnung befördert. Während Josefine die Süßigkeit auspackte, begann sie heftig mit den Augen zu zwinkern, als ob sie mit jedem Augenschlag die Zeit hätte festhalten können. Sie erinnerte sich noch heute lebhaft, wie sehr sie ihre Mutter in diesen Momenten liebte. (Um dieses Gefühl zu beschreiben, hätte auch Josefine noch einige Fremdsprachen lernen müssen.) Selten las die Mutter die Geschichte zu Ende. Da sie Angst hatte, dass der Vater aufwachen könnte und böse würde über diese geheime Zusammenkunft, ging sie meist früher wieder zurück in das elterliche Schlafzimmer. Josefine aber wusste, wie die Geschichte ausging: am Ende sahen Mutter und Tochter sich wieder. Der Vater war der Grund, warum Josefine nicht zögerte, zu ihrem Freund in die Stadt zu ziehen, sobald sie volljährig war. Sie wohnten zusammen, sie schliefen zusammen, sie liebten einander. Keine Frage, dass sie auch gemeinsam nach England fuhren. Es war Sommer, sie saßen auf einer Wiese und rauchten. Das tat Josefine normalerweise nicht, aber sie fand, nun wäre der richtige Moment, es auszuprobieren. Als sie fühlte, wie sich ihre Lungen mit Rauch füllten, erschrak sie ein bisschen und begann zu husten. „Es war so beengend. Ich dachte, ich müsste ersticken“, sagte sie und wurde etwas rot vor Scham. (Eigentlich fühlte es sich an, als hätte sie Wolken eingeatmet, und sie mochte die Vorstellung, ein Stück Himmel zu verschlucken.) Beide lachten, und er nahm sie tröstend in die Arme. Wenn auf der Welt alle Menschen wie er lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde viel gedacht und wenig gesprochen werden auf dieser Welt. Es wurde Abend an Englands Küste. Die Luft war klar, und man hörte die Grillen. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich im Wasser, und Josefine befand, dass ihr Leben nach Zuckerwatte schmeckte. (Heimlich liebte Josefine den romantischen Kitsch, den Jahrmärkte ausströmen.) Er nannte sie liebevoll Effi und sprach meistens leise. Sie hatte es gern, wenn er das tat. Seine Stimme war dunkel, und er sprach mit Besonnenheit. Als ob er jeden Satz vorher in seinem Kopf formulierte, abwägte, ob er gut genug sei für Josefines Ohren, und ihn erst dann aussprach. Josefine konnte sich nicht erinnern, ob sie sich jemals wohler gefühlt hatte. Solch eine Erinnerung legt man nicht achtlos zu den anderen. Erinnerungen dieser Art bewahrt man an einem besonderen Platz auf. So kann man sie immer wieder hervorholen, wenn man sie braucht. Dass Josefine ihre schönen Erinnerungen noch häufig brauchen würde, wusste sie damals noch nicht. Der Frohsinn war ihr abhandengekommen. Man hätte die erste Träne sehen können, die über ihre linke Wange floss. Oder die zweite, die sich rechtsseitig dem Kinn näherte. Aber niemand sah sie weinen, Josefine war allein. Es gab also auch keinen Grund, die Tränen anmutig wegzuwischen und die Fassung mit einem letzten Schluchzen wiederzuerlangen. Sie hatte nicht weinen müssen, als sie die Möbel aus dem Haus getragen hatte. Ebenso wenig, als sie ihre neue Wohnung strich und einrichtete. Sie hatte nicht weinen müssen, als sie bei einem Glas Rotwein alleine einen Liebesfilm im Fernsehen schaute. Bei Liebesfilmen zu weinen, fand sie pathetisch und übertrieben. Erst jetzt, zwei Wochen später, überfiel es sie in der nächtlichen Stille. Ihr Schluchzen hallte durch das offene Fenster hinaus, entfernt hörte sie die Sirenen eines Rettungswagens. Ihre Augen blickten starr an die Wand. Als ihr Vater starb, war Josefine zufällig zugegen. Sie vermisste ihre Mutter sehr, und es schmerzte sie, sie mit ihrem Vater alleine gelassen zu haben. Um ihre Schuldgefühle zu tilgen, stieg Josefine einmal monatlich in den Zug und fuhr in ihr Heimatdorf. Das Zugticket bezahlte sie von ihrem kleinen Gehalt. Wenn der Vater es erlaubte, wurde Josefine von ihrer Mutter am Bahnhof abgeholt. An jenem Tage war der Vater seltsam ruhig und machte der Mutter keine der üblichen Vorhaltungen. Auf dem Rückweg vom Bahnhof gingen Josefine und ihre Mutter langsamer als gewöhnlich. Sie wollten die Zeit, die sie ohne den Vater hatten, in die Länge ziehen. (Sie strapazierten die Zeit und die Nerven des Vaters wie den Gummizug einer Jogginghose. Beide wussten, dass das schmerzhaft enden konnte.) In dem Dorf roch Josefine noch den Staub der Fünfzigerjahre, obwohl die Zeit schon um anderthalb Jahrzehnte fortgeschritten war. Durch das Land wehte ein neuer Wind, auf dem unbefestigten Weg zu ihrem Elternhaus bewegte sich kein Blatt. Meistens war Josefine diejenige, die redete. Sie erzählte von ihrem Freund, den sie inzwischen geheiratet hatte. Dass sie in eine größere Wohnung gezogen waren, nun, wo er arbeitete und gut verdiente. Hin und wieder sei er eifersüchtig, sagte sie. Er sorge sich, sie könne ihn betrügen. „So sind sie, die Männer“, lachte die Mutter. „Wir Frauen sind die Ruhigeren, aber im Grunde sind sie diejenigen, die ängstlich sind.“ Aus dem Augenwinkel sah Josefine ihre Mutter nachdenklich lächeln und erkannte darin tiefe Zuneigung. Die Mutter legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. Mit diesem Bild endet Josefines Erinnerung. Zwei Minuten später hatten die beiden Frauen die Wohnungstür aufgeschlossen und den Vater tot in seinem Sessel vorgefunden. Josefines Gedanken daran sind verschwommen. Wie ein Gemälde, das sie selbst nie gesehen hat, von dem ihr aber etliche Male berichtet wurde. Keine Krankheit und kein Leiden hatten ihn gequält. Er war ruhig eingeschlafen, ohne eine Miene zu verziehen. Ebenso wenig taten dies Mutter und Tochter. Ein Vierteljahrhundert später saß Josefine auf ihrem blauen Sofa und ließ Revue passieren, wie man einen Rettungswagen gerufen hatte und sich den Tod hatte bestätigen lassen. Es wurden verschiedene Leute angerufen, das Telefon hatte man erst vor kurzem angeschafft. Josefine erinnerte sich, dass die Mutter all diese Aufgaben ohne Fehl und Tadel erledigte. Sie zeigte keine Schwäche, vielleicht weil es keine gab. Wenn auf der Welt alle Menschen wie die Mutter lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würden sich die Menschen aneinander klammern und vor zu viel Zuneigung erlahmen. Josefine wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich wieder auf ihr Sofa. Sie erschrak, als ihr Roman vom Nachttisch fiel. In der Dunkelheit hatte sie das Geräusch nicht erwartet. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag für diese Jahreszeit. Der Himmel schien ebenso wenig eine Träne für diesen Mann vergießen zu wollen wie dessen Angehörige. Außer jenen vier Frauen war lediglich der Pastor anwesend, der sich nicht mal Mühe gab, dem Anlass eine traurige Feierlichkeit zu verleihen. Erst jetzt bemerkte Josefine, dass ihr Vater keine Freunde gehabt hatte. Nicht nur in seiner Familie war er ein einsamer Mann auf weiter Flur gewesen, auch im restlichen Dorf konnte man ihn nicht so recht leiden. Wenn auf der Welt alle Menschen wie der Vater lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch hätte keiner eine Ahnung, was den anderen bewegte. Es war ein außerordentlich trauriges Begräbnis. Vor allem, weil niemand traurig war. Mehrere Male stand Josefine in dem Wohnzimmer des gemeinsamen Hauses und blickte ihrem Mann ins Gesicht. Er sprach ruhig und langsam, wie er es immer tat, und die Tränen, die sie nun auf keinen Fall weinen wollte, trübten ihren Blick. Nun ja, wenn du das für das Beste hältst. Das tue ich. (Tat sie das?) Josefine probierte, sich die gemeinsamen schönen Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen und sich an ihnen festzuhalten. In ihrem Gedächtnis waren sie so ausgeblichen wie die dazugehörigen Fotos in dem dicken Album mit dem roten Ledereinband. England ´73. Schließlich packte sie jenes Album und ihr übriges Hab und Gut zusammen und zog aus. Der Roman lag noch immer auf dem Boden, als Josefine langsam in Schlaf sank. Sie träumte nicht häufig, zumindest konnte sie sich selten an ihre Träume erinnern. In dieser Nacht sah sie deutlich vor ihrem inneren Auge, wie eine Gruppe Menschen – es waren sicher achtzig oder hundert, und alle waren in Schwarz gekleidet – durch einen Wald lief. Sie sah die Gruppe von oben, als flöge sie über ihr. Unter ihnen erkannte sie ihre Schwestern, die mit den Händen ihre Gesichter verdeckten. Die Ältere trug einen schwarzen Schleier, der eigentlich genau diese Aufgabe hätte erfüllen sollen. Etwas weiter hinten in der Kolonne lief ihr früherer Mann, gefasst und still, wie es seiner Art entsprach. Josefine merkte schnell, dass dies ihr eigener Traum war. Ihr war klar, dass sich all die Menschen eingefunden hatten, um sie beizusetzen. Es war ein grotesker Blick in die Zukunft, der Josefine da zuteilwurde. Grotesker fand sie nur den weißen Sarg, in dem offenbar ihr eigener Körper lag. Weiße Särge fand Josefine geschmacklos. Reinheit und Unbeflecktheit - so eine Lüge. Ein ganzes Leben hatte sie gelebt, sie hatte kleine Schrammen und tiefe Wunden einstecken müssen. Die Höhen und Tiefen, von denen alle redeten – ja, die gab es auch in ihrem Leben. Weiß war also völlig unangebracht, fand Josefine, erst recht für eine Frau ihres Alters. Sie ließ ihren Blick weiter über die Menge streifen. Am Ende des Zuges liefen ehemalige Arbeitskollegen. Josefine war erstaunt, wie traurig sie waren - hatte sie diese Menschen doch nun schon Jahrzehnte nicht mehr getroffen. Wunderlich außerdem, weil sie die Arbeit in dem Büro damals doch zwar gewissenhaft, aber nicht mit Herzblut getan hatte. Weiter vorne liefen ihre Freundinnen, mit denen sie einmal jährlich an die Ostsee reiste. Langsamen Schrittes bewegte sich die Gruppe zu dem Baum, unter dem die geliebte Freundin beigesetzt werden sollte. Josefine fand es eine schöne Idee, in einem Wald bestattet zu werden. Bäume. Leben. Ruhe. Neubeginn. Auferstehung. (Vielleicht wird genau auf ihrer Grabstätte ein neues Bäumchen wachsen.) Die Assoziationen purzelten unkontrolliert durch den Teil ihres Hirns, der für Glückseligkeit verantwortlich war. Friedhöfe hingegen, das waren die Plattenbauten der Toten. Und unter keinen Umständen wollte Josefine je in einem Plattenbau wohnen, nicht einmal im Jenseits. Während ihre jüngere Schwester eine rührende Rede zu ihrem Gedenken hielt, fielen Josefine die zwei Menschen auf, die allen Trauernden vorangegangen waren. Es waren ihre Zwillinge: Junis, ihr Sohn, und Jona, die das Nesthäkchen der Familie war. Jona, die zwar nicht die dunklen Haare, aber dafür eindeutig ihre Schönheit und Anmut von Josefine geerbt hatte, konnte auch während der Rede ihre Tränen nicht unterdrücken. Sie schluchzte so laut und herzergreifend, dass eine dicke Großtante herbeikam und das zierliche Mädchen an ihren stattlichen Busen drückte. Junis, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, ließ sich ebenfalls von einem Mann stützen, der seit jeher ein enger Freund der Familie war. Junis hatte die nachdenkliche Art des Vaters, während Jona normalerweise quirlig war, wie es Josefine einst gern gewesen wäre. In erster Reihe standen die beiden – eigentlich junge Erwachsene. Für Josefine blieben es immer Kinder. Josefine, obschon sie schlief und sich sehr wohl bewusst war, dass sie dies bloß träumte, wäre gerne zu ihnen gegangen, um mit ihnen zu weinen. Auf ihrer eigenen Beerdigung hätte sie die beiden in den Arm genommen und ihnen versichert, wie sehr sie sie liebte. Sie hätte die beiden getröstet, gesagt, dass das Leben auch ohne sie weiterginge. Es war deutlich, dass das selbst im Traum jegliche Logik durcheinandergebracht hätte. Vermutlich ist es nur menschlich, sich seine eigene Beerdigung vorzustellen. Jeder tut es, aber niemand erzählt es. (Niemand?) Man meint die Gedanken nicht ernst, deswegen will man auch niemanden mit dieser traurigen Vorstellung erschrecken. Auf Josefine wirkte die Szenerie jedoch alles andere als traurig. Sie ist eine Mutter. Das war in dem Strom ihrer Erinnerungen völlig untergegangen. Und für eine Mutter, fand Josefine, schickte sich Einsamkeit ganz und gar nicht. Es war keine Vorstellung, sondern die Wirklichkeit, die Junis und Jona erschreckte. Es war den beiden nicht entgangen, dass Josefine Nacht für Nacht wach lag, hin und wieder in die Küche ging, meistens aber einfach nur dasaß und weinte. Die Zwillinge waren fünfzehn Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter aus dem Haus ihrer Eltern auszogen. Instinktiv merkten sie, dass für die üblichen Problemchen eines Jugendlichen nun kein Platz war, und verschoben ihre Pubertät somit auf die Zeit, wenn alles wieder gut werden würde. In ihrer Welt hatte sich merklich nicht viel verändert. Ihr Schulweg war nun ein anderer, und die Zimmer waren kleiner, ansonsten blieb für sie äußerlich alles beim Alten. Jona hatte häufig abends auf der Treppe gesessen und gelauscht, wenn die Eltern stritten. Sie war immer ein sensibles Mädchen gewesen. Als Jüngste der Familie genoss sie stets die Sympathien aller Familienmitglieder. Josefine liebte ihre Tochter so innig, wie sie von ihrer eigenen Mutter geliebt worden war. Junis, der sich trotz der Gleichaltrigkeit als ihr älterer Bruder fühlte, mimte an Jonas Seite den Beschützer. Für den Vater war Jona der kleine Engel, dessen zauberhaftem Gesicht man keinen Wunsch abschlagen konnte. Umso mehr schmerzte es Jona, als sie ihre Familie zerbrechen sah. Junis, der von dem leisen Weinen seiner Schwester aufgewacht war, brachte sie zurück ins Bett. Ganz rational erklärte er ihr, wie die Dinge lagen. Dass Menschen sich nicht ewig lieben könnten, und dass das Leben schon weiterginge. Dieselben Psalmen betete er auch sich selbst vor, bis ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als keinerlei Gefühle betreffend der elterlichen Trennung zu haben. (In demselben Wortlaut beantwortete er auch Fragen nach seinem aktuellen Gemütszustand.) Junis war ein guter Schüler und ein wissbegieriges Kind. Während seine Schwester es liebte, sich draußen mit Freunden zu treffen, blieb Junis in seinem Zimmer und las. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Junis lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde keiner dem Glück trauen und Gründe finden, sich zu streiten. Junis liebte die hauseigene Bibliothek seines Vaters und konnte dort stundenlang stöbern, während der Vater am Schreibtisch saß und arbeitete. Fast jeden Abend war Junis dort, mit seinem Vater sprach er jedoch selten. (Sprechen war nicht ihre Stärke.) Als Josefine ihre Sachen packte, zogen Junis und Jona mit. Es war nicht die Frage danach, wen sie mehr und wen sie weniger liebten, sondern schlichtweg auf wessen Seite sie das Recht sahen. Dass ihre Mutter dieses Recht mit Unglück bezahlte, schmerzte die beiden. Sie verstanden nicht genau, was vorgefallen war, und wussten auch nicht, wie sie sich verhalten sollten. Und weil sie auch nicht viel hätten verändern können, einigten sich die Zwillinge darauf, dass sie sich vorerst aufeinander verlassen könnten. Es war eine Zeit des Alleinseins für alle Beteiligten. Junis und Jona hatten das Glück, diese zu zweit meistern zu dürfen. Junis holte seine Schwester mit dem Fahrrad von Freunden ab, wenn sie bei Dunkelheit nicht mehr alleine fahren sollte. Jona half im Haushalt und setzte sich gelegentlich zu Josefine ins Wohnzimmer, um mit ihr zu schweigen. Gemeinsam regelten die Zwillinge die Kommunikation zwischen Vater und Mutter (Richte liebe Grüße aus. Oder nein, nur Grüße), brachten die Zeitung, die man gemeinsam abonniert hatte, erledigten Botengänge und anfallende Korrespondenz. Jona kam zurück von Freundinnen, als sie probierte, mit ihrem Mobiltelefon ihren Bruder zu erreichen. Er sollte sie vom Bahnhof abholen, es war schon weit nach Mitternacht. Sie war mit ihren Freundinnen in der Stadt gewesen, hatte über Jungs geredet und die Zeit vergessen. Wenn auf der Welt alle Menschen wie Jona lebten, wäre die Welt gut. Alle Menschen würden einander verstehen. Jedoch würde viel geweint werden auf dieser Welt. Draußen war es dunkel, und die Einöde am Stadtrand gruselte sie. Der Weg in die mütterliche Wohnung führte über eine wenig befahrene und unbeleuchtete Straße, und sie traute sich nicht, ihn allein zurückzulegen. Der Bruder antwortete nicht auf ihre Anrufe, und als Jona schließlich das Bahnhofsgebäude verließ, stand sie allein auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie hätte ihn am liebsten verflucht – nein – sie tat es auch. Idiot, flüsterte sie in die nächtliche Stille. Idiot. Idiot. Idiot. Gerade wollte sie einen der Angestellten am Bahnhof bitten, ihr ein Taxi zu rufen, da näherte sich von weitem eine Frau. Sie war recht klein und wippte mit den Hüften, während sie auf Jona zuging. Jona erkannte sie sofort an ihren dunklen Haaren mit dem eigentümlichen roten Schimmer und rannte ihr entgegen. Seit Monaten hatte sich Josefine nicht mehr außerhalb der eigenen Wohnung gezeigt, nun war sie gekommen, um ihre Tochter abzuholen. Als Jona vor ihr stand, lächelte Josefine und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schulter. Vor Freude zwinkerten ihre Augen wie wild. (Das taten sie in solchen Momenten.)
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Mai 2018
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