Die Jungsantwort:Liebe Hetero-Jungs, ich muss diesen Text ganz unschwul beginnen: meinen ersten Kuss bekam ich, als ich zwölf Jahre alt war, von Antonia auf einer Klassenfahrt auf einem Ponyhof im Emsland. Ein paar Tage später hörte ich auf dem Schulhof, dass mir Daniel die Fresse polieren wolle, denn Daniel mochte Antonia. Weil damals noch keiner wusste, dass ich Jungs mag, kann dieser Vorfall natürlich nicht als homophober Angriff gelten. Ich schnallte aber, dass Händchenhalten und Fäusteballen mehr miteinander zu tun haben, als man erst mal annehmen würde. Schließlich trommelte Daniel die ganze Schule zusammen, am Freitag nach Schulschluss würden wir uns duellieren, um unsere Ehre als Mann oder die Gunst der Dame oder irgendein anderes immaterielles heterosexuelles Statussymbol, ich weiß es nicht so genau. Die halbe Schülerschaft versammelte sich jedenfalls dort und ich tat, was ich von da an in allen potentiell gefährlichen Situationen tat: Ich ging nicht hin. Ich buche keine Reise nach Marrakesch, weil ich dort für homosexuelle Handlungen im Gefängnis landen könnte. Ich meide Klubs mit ausschließlich heterosexuellem Publikum, denn Klubs sind zum Flirten da. Und auch wenn die meisten Heteros befürworten, dass ich heiraten darf, befürworten viele nicht, dass ich sie mal eben bei einem Bier frage, ob sie eventuell dafür zur Verfügung stünden. Meine subjektive Erfahrung deckt sich da ganz mit der Studie: Ungefähr jeder Vierte will so wenig wie möglich mit Schwulen in Berührung kommen. Vor etwa fünf Jahren bin ich mit einem Date in Berlin-Mitte auf offener Straße angegriffen worden. Der Grund: Vielleicht sahen wir zu schwul aus, verhielten uns zu schwul, wir störten die Angreifer jedenfalls so sehr in ihrer Abendgestaltung, dass sie uns als „Schwuchteln“ beleidigten. Ich sagte irgendwas, denn schweigen fühlt sich an wie Recht geben. Ja, wir blöden Schwuchteln, was fällt uns eigentlich ein, so schwul über die eindeutig heterosexuelle Torstraße zu laufen? Ich bekam einen Faustschlag ins Gesicht, dann waren sie weg. Es war nicht der erste. Als ich gerade achtzehn war, lief ich spätabends von einem Straßenfest in Oldenburg nach Hause. In einer dunklen Straße bedrängte mich ein Mann. Ich weiß nicht mehr genau, was er wollte. Er wurde jedenfalls handgreiflich und stieß mich auf den Boden. Ich rappelte mich auf und rannte weg. Aber ich habe auch öfter Solidarität erlebt, wo ich sie nicht erwartet hätte. In meinem norddeutschen Heimatort wurde ich in der Dorfdisco einmal homophob beleidigt. Ich ging zum Türsteher, rein äußerlich auch nicht gerade ein Schwulenfreund: Glatze, stämmig, etwas zwielichtig, könnte man sich gut auf einer Stadiontribüne vorstellen. Als ich ihm von dem Vorfall erzählte, reagierte er ganz norddeutsch pragmatisch: „Ja, nee. Sowas wollen wir hier nicht.“ Er setzte den Pöbler auf die Straße und erteilte ihm Hausverbot, was in dem Dorf gesellschaftlicher Ächtung gleichkommt. Da die guten die schlechten Erlebnisse bei Weitem überwiegen, würde ich sagen, dass es hier in Deutschland für Schwule recht sicher ist. Würde ich für jedes Mal, wenn mir ein Wildfremder „Schwuchtel“ oder „Homo“ auf der Straße hinterher ruft, einen Euro bekommen, würde ich in Deutschland nicht reich werden. Natürlich kann ich nicht für alle Schwulen sprechen, wenn ich sage, dass ich mich relativ sicher fühle. Ich bin fast zwei Meter groß, habe keinen Migrationshintergrund und bin zwar in einer ländlichen, aber auch sehr atheistischen Umgebung aufgewachsen. Und ich bin auch „nur“ homosexuell, nicht etwa trans- oder intersexuell. Eine transsexuelle Freundin hat mir mal erzählt, dass sie nachts für jeden noch so kurzen Weg ein Taxi ruft, weil sie Angst vor Angriffen auf offener Straße hat. Die regelmäßigen Angebote von Taxifahrern, ihr den Fahrpreis im Tausch für sexuelle Handlungen zu erlassen, sind für sie das kleinere Übel. Ich habe seit meinem Abitur ausschließlich in toleranten Großstädten wie Berlin oder Hamburg gewohnt und so ganz unabsichtlich einen ziemlich klischeeschwulen Lebenslauf gebastelt. Wir Großstadtschwulen leben nämlich ganz angenehm. Uns kann es in Berlin-Schöneberg, Hamburg-St. Georg oder im Münchner Glockenbachviertel am Ende auch ziemlich egal sein, was die Öffentlichkeit „nicht normal“ findet. Unsere Öffentlichkeit besteht überwiegend sowieso nicht aus der Sparkassenangestellten aus Altötting, dem Kaninchenzüchter aus Vechta, dem Dönermann aus Herne oder dem Rostocker Fußballfan mit Dauerkarte. Deshalb sind wir in unserer Öffentlichkeit genauso zärtlich mit Männern, wie wir es gern möchten. Wenn wir nach dem Feiern in der U-Bahn betrunken an einer Männerschulter einschlafen, fragen wir uns nicht, was andere Fahrgäste davon halten mögen. Wir sitzen selbstverständlich in männlicher Begleitung bei Kerzenschein in Restaurants, auch wenn man uns vielleicht am Nebentisch für gute Freunde hält, die nur mal eben einen Happen essen wollten. Im Sommer teilen wir uns zu zweit ein winziges Strandhandtuch, wenn einer seines vergessen hat. Und an Neujahr küssen wir zuerst eine Wange mit Bartstoppeln – egal, auf welchem öffentlichen Platz wir uns das Feuerwerk anschauen. Dass es so wunderbar flauschig ist in unserer Filterbubble liegt zuguterletzt auch an euch, liebe Hetero-Jungs. Denn die drei Viertel von euch, die nichts dagegen haben, mit Homosexualität in Berührung zu kommen, sitzen neben uns in der U-Bahn, essen neben uns im Restaurant, knutschen neben uns unterm Feuerwerk. Wen wir lieben, ist euch egal. Wenn wir mit euch flirten, seht ihr es als Kompliment und nicht als Beleidigung. Die Chance, dass sich jemand in unserer Umgebung an unserer Homosexualität stört, ist also existent, aber nicht besonders groß. Grob überschlagen wurde ich vielleicht zwanzig Mal in meinem Leben wegen meiner Sexualität angegriffen. Zweimal körperlich, ansonsten verbal. Das ist nicht viel. Ich wette, Daniel vom Schulhof hat in seinem Leben viel öfter eine gezimmert bekommen. Eure schwulen Jungs
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medi←um
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arc∙hiv
August 2023
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